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Brigitte Schnock/Hermann Atz

Soziale Herkunft und Bildungsweg

Wie viel Chancengleichheit besteht im Bildungssystem Südtirols?

1. Chancengleichheit und Bildungsgerechtigkeit –
auch in Südtirol ein Thema

In der modernen Gesellschaft ist Bildung von zentraler Bedeutung: Sie ist eine entscheidende Ressource für die Lebenssicherung und den sozialen Status von Individuen, sie vermittelt Orientierung und Lebenskompetenz. Gleichzeitig ist die Qualität des Bildungssystems grundlegender und kritischer Entwicklungsfaktor einer Volkswirtschaft.

In Südtirol wurden Schule und Bildung lange Zeit vor allem als Voraussetzung für den Erhalt von Sprache und Kultur der ethnischen Minderheiten betrachtet. Doch inzwischen wird Bildung zunehmend in ihrer Bedeutung für die Lebensgestaltung des Einzelnen und den wirtschaftlichen Erfolg des Landes diskutiert. Damit richtet sich der Blick stärker auf die Frage der individuellen Bildungschancen junger Menschen in Südtirol und die Frage der Verteilung dieser Chancen innerhalb der Gesellschaft.

Nachdem in den Sechziger- und Siebzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts die Ausweitung der Bildungsbeteiligung ganz oben auf der politischen Tagesordnung stand, trat das Thema in der darauffolgenden Periode ein wenig in den Hintergrund. Spätestens mit den PISA-Studien sind diese Fragen in ganz Europa jedoch erneut in den Fokus der Aufmerksamkeit gerückt, zeigen die Ergebnisse der Studien doch auf, wie brüchig die Idee gleicher Bildungschancen für alle sein kann: Etliche europäische Länder mussten feststellen, dass es auch im 21. Jahrhundert trotz jahrzehntelanger Reformbestrebungen immer noch Bildungsgewinner und Bildungsverlierer gibt. Als diskriminierendes Moment taucht dabei vor allem die Schichtzugehörigkeit der Familie bzw. der Bildungsgrad der Eltern auf.

Wie aber stellt sich die Situation in Südtirol dar? Wie ist es um die Bildungsbeteiligung der Kinder und Jugendlichen bestellt: Kann davon ausgegangen werden, dass junge Menschen in Südtirol gleiche Bildungschancen haben, oder gibt es auch hier Gruppen, die im Zugang zu Bildung systematisch bevorteilt, und andere, die benachteiligt sind?

2. Forschungen zum schulischen Werdegang junger Menschen
in Südtirol

Die wichtigste Grundlage zur Beantwortung dieser Frage sind eine Reihe von einschlägigen Studien, die in den vergangenen Jahren vom Bozner Sozialforschungsinstitut „apollis“ zum Thema Bildung und Ausbildung in Südtirol durchgeführt wurden. In diesem Artikel werden ausgewählte Ergebnisse einer sekundäranalytischen Untersuchung dieser Studien (vgl. Schnock/Atz 2008) zusammengefasst und mit Befunden der PISA-Studie 2003 verglichen.

Besonders zahlreiche und aussagekräftige Daten lieferten vor allem eine breit angelegte Studie zum Image der Berufsbildung aus dem Jahr 2000 sowie zwei Untersuchungen zu Hintergrund und Folgen von Schulwechseln bzw. Schulabbrüchen aus den Jahren 2002 und 2007. Diese und einige weitere Studien, darunter insbesondere die 2002 vom Institut „emme&erre“ aus Padua in Abstimmung mit „apollis“ durchgeführte Studie zum Schulversagen, wurden ein zweites Mal gesichtet und leisteten einen wichtigen Beitrag zum Thema Bildungsbeteiligung und den Bildungschancen in Südtirol.1

3. Die Rahmenbedingungen: Das Bildungswesen in Südtirol

Südtirol bietet jungen Menschen mit einem differenzierten maturaführenden Oberschulangebot und mit schulisch wie berufspraktisch ausgelegten Varianten der Berufsbildung eine besondere Vielfalt an Bildungs- und Ausbildungsmöglichkeiten, die eine fundierte schulische und berufliche Qualifizierung gewährleisten.

Zwar ist die Oberschulbesuchsquote2 in Südtirol im Vergleich zu Gesamtitalien geringer, übertrifft allerdings jene des deutschsprachigen Auslands und darf damit als zufriedenstellend bewertet werden. Dafür zeichnet sich Südtirol im Vergleich zu anderen italienischen Regionen durch sein ausgebautes und qualitativ hochwertiges Angebot im Bereich der Berufsschulen aus, das sowohl mehrjährige Vollzeitlehrgänge als auch den schulischen Teil der dualen Lehrlingsausbildung umfasst. Diese Möglichkeiten sorgen nicht nur für einen insgesamt hohen Anteil von Jugendlichen, die über eine berufliche Qualifizierung verfügen, sondern mit steigender Durchlässigkeit gelingt es auch, die Endgültigkeit von Bildungswahlentscheidungen zu relativieren.

Damit bestehen grundsätzlich gute Voraussetzungen für ein Bildungssystem, das gleichwertigen Zugang für Kinder aus allen sozialen Schichten gewährleistet.

4. Einflussfaktoren bei der Bildungswahl: sozialstrukturelle Merkmale

Auf den ersten Blick scheinen für Südtirol die typischen Bestimmungsmomente bei der Entscheidung für einen Bildungsweg maßgeblich zu sein, die zu der Feststellung einer gewissen Bildungsungerechtigkeit führen, nämlich Bildungsniveau der Eltern, Wohnort, Geschlecht und kultureller Hintergrund.

In Südtirol absolvieren Kinder, deren Vater und/oder Mutter über einen hohen Bildungsgrad verfügen (Matura, Universitätsabschluss), zu über drei Vierteln auch selbst eine gehobene Schullaufbahn (berufsbildende oder allgemeinbildende Oberschule). Stammen die Kinder aus Familien, in denen die Eltern höchstens einen Lehr- oder Mittelschulabschluss haben, befinden sich die Kinder zu etwas mehr als der Hälfte in einer Lehre oder einem Vollzeitlehrgang, die andere Hälfte entscheidet sich für eine Oberschule, vor allem für eine berufsbildende Oberschule. In Südtirol werden die Kinder und Jugendlichen von heute im Durchschnitt also einen höheren Bildungsgrad erreichen als ihre Eltern, insofern Kinder gebildeter Eltern ganz überwiegend selbst eine hohe formale Bildung anstreben, während Kinder aus niedrigeren Bildungsschichten sich fast zur Hälfte auf dem Wege zu einem Bildungsaufstieg befinden. Dennoch zeigt sich, dass der Bildungsweg der Kinder wesentlich durch das Bildungsniveau der Eltern vorgezeichnet ist, mit der Folge, dass gut die Hälfte der Kinder aus einfachen oder mittleren Bildungsverhältnissen auch in diesen verbleibt.

Bildungsunterschiede finden sich auch, wenn nach Stadt- und Landbevölkerung unterschieden wird:3 In ländlichen Gebieten schlagen Jugendliche überproportional häufig eine berufsbildende Laufbahn (Lehre, Vollzeitlehrgang) ein, ein Ergebnis, das nicht allein auf den durchschnittlich geringeren Bildungsstatus der Familien auf dem Land zurückzuführen ist. Auffällig ist zudem, dass es vor allem die Buben sind, die sich im ländlichen Raum häufiger für eine berufsbildende Laufbahn entscheiden.

Nach Geschlecht der Kinder und Jugendlichen differenziert, sind in Südtirol – wie in anderen Ländern auch – die Mädchen die Bildungsgewinnerinnen: Es gibt einen deutlichen Überhang von Mädchen an den Südtiroler allgemeinbildenden Oberschulen und eine Überrepräsentanz der Buben in den berufsbildenden Vollzeitlehrgängen und vor allem in der dualen Ausbildung. Das geschlechtsspezifische Bildungswahlverhalten korreliert mit dem schulischen Erfolg: Mädchen haben die besseren Noten und eine kontinuierlichere Bildungsbiografie, und sie erreichen in der Folge ein entsprechend höheres Bildungsniveau als die Buben, bemerkenswerterweise sogar dann, wenn sie aus einem Elternhaus mit weniger hohem Bildungsgrad kommen bzw. auf dem Land wohnen. Buben dagegen haben eher schlechtere Noten und sind bei den Wiederholern und Schulwechslern überrepräsentiert, mit der Folge, im Durchschnitt einen niedrigeren Bildungsabschluss zu erreichen.

Eine Betrachtung der Bildungswege Südtiroler Jugendlicher nach Sprachgruppen zeigt eine deutliche Überrepräsentanz der italienischsprachigen Jugendlichen im Oberschulbereich und einen Überhang der deutschsprachigen und ladinischen Jugendlichen im berufsbildenden Bereich, insbesondere in der Lehrlingsausbildung. Dieser Unterschied lässt sich nicht allein aus dem höheren Bildungsstatus der italienischen Eltern erklären, sondern ist offenbar auch kulturell bedingt (siehe unten).

5. Einflussfaktoren bei der Bildungswahl: Leistungsniveau

Es könnte also der Eindruck entstehen, dass vor allem externe Faktoren wie Bildungsschicht der Eltern, Geschlecht, Wohnort und sprachlich-kulturelle Prägung in Südtirol – wie andernorts auch – über den Bildungsweg der Kinder und Jugendlichen entscheiden. Tatsächlich aber kommt – neben den genannten sozialstrukturellen Einflussfaktoren – den Schulleistungen der Kinder und Jugendlichen eine ausschlaggebende Rolle für den Verlauf ihrer Bildungskarriere zu: Je besser die Noten an der Mittelschule, umso „höher“ das Niveau des Bildungsweges, der danach eingeschlagen wird.

Für die deutsch- und ladinischsprachigen Jugendlichen heißt dies vor allem, bei guten Noten die Oberschule zu besuchen. Die italienischsprachigen Jugendlichen entscheiden sich auch bei schlechteren Mittelschulnoten häufig für eine Oberschule, dort wirken sich die Schulleistungen aber sehr stark auf den gewählten Oberschultyp aus: Bei sehr guten Noten in der Mittelschule erfolgt der Übertritt bevorzugt in eine allgemeinbildende Oberschule, gefolgt von den Fachoberschulen und berufsbildenden Lehranstalten (beides „berufsbildende Oberschulen“) bei abnehmendem Leistungsniveau an der Mittelschule.

Versucht man nun die sozialstrukurellen und die individuellen Determinanten von Bildungswegentscheidungen gegeneinander abzuwägen, so erweist sich die schulische Leistung als stärkster Einzelfaktor. Individuelles Können und Lerninteresse scheinen damit wesentlichen Einfluss auf den Bildungsverlauf der Jugendlichen in Südtirol zu haben. Allerdings kommt den Faktoren Bildungsschicht der Eltern, Geschlecht, Wohnort und sprachlich-kulturelle Prägung zusammen ein vergleichbar großes Gewicht zu. Dies hat zur Konsequenz, dass der Einfluss der schulischen Leistung vor allem zugunsten der Determinante der sozialen Herkunft unter bestimmten Bedingungen wieder ein Stück weit ausgehebelt wird.

6. Individuelle Leistung ist schichtabhängig

Auch für Südtirol bestätigt sich, was die internationale Forschung in der Theorie wie der Empirie zum Zusammenhang von schulischen Leistungen und sozialer Herkunft beschreibt: Kinder aus höheren Bildungsschichten erbringen im Durchschnitt schon in der Pflichtschule deutlich bessere schulische Leistungen und schlagen in der Folge viel eher einen maturaführenden Bildungsweg ein.

Die Erklärung dafür ist einleuchtend: Eltern mit größerer „Bildungsnähe“ können ihren Kindern bessere Voraussetzungen bieten, um im schulischen System erfolgreich zu sein, sei es, dass sie die kognitive Entwicklung ihrer Kinder stärker fördern, sei es, dass sie ihre Kinder aufgrund ihrer eigenen Bildungsressourcen und auch ausreichender finanzieller Mittel schulisch besser begleiten und unterstützen können.

Zu analogen Ergebnissen kommt auch die Auswertung der PISA-Studie 2003 für Südtirol. Dort werden jeweils positive Zusammenhänge zwischen den Mathematikleistungen der Fünfzehnjährigen einerseits und dem Bildungsgrad der Eltern, dem sogenannten Index der klassischen Kulturgüter im Haushalt, der Zahl der dort verfügbaren Bücher sowie dem Vorhandensein eines PC andererseits festgestellt (vgl. Siniscalco 2007, 119–129). Werden die genannten Merkmale der Herkunftsfamilie zu einem „synthetischen Index des sozioökonomischen und kulturellen Status“ zusammengefasst, bestätigt sich dieser Zusammenhang, das heißt, je höher der Status der Eltern, desto besser die Mathematikleistungen der Kinder. Allerdings ist der Zusammenhang weniger stark als in ganz Italien oder auch im OECD-Durchschnitt. Zudem zeigt sich, dass das Niveau in Südtirol insgesamt überdurchschnittlich hoch liegt. Daraus wird gefolgert, dass in Südtirol ein vergleichsweise höheres Maß an Chancengleichheit bezüglich der Lernmöglichkeiten vorliege (vgl. Siniscalco 2007, 128)4.

7. Bildungserwartungen der Eltern sind schichtabhängig

Neben schichtspezifisch unterschiedlicher schulischer Erfolgswahrscheinlichkeit nimmt aber auch die soziale Herkunft Einfluss auf die Entscheidung für einen Bildungsweg, und dies auch unabhängig von den Noten und dem Vorankommen des Kindes in der Schule. Hierbei spielt die sogenannte Bildungsaspiration eine Rolle, das heißt der Wunsch der Eltern, dass ihre Kinder mindestens den gleichen, wenn nicht einen höheren Bildungsabschluss erreichen wie sie selbst. Dieses Streben ist besonders stark in den gehobenen Bildungsschichten ausgeprägt.

In Südtirol betrifft das vor allem die italienische Sprachgruppe, die überproportional die gehobene Bildungsschicht repräsentiert. Selbst gut gebildet (und urban geprägt), ist es italienischsprachigen Eltern sehr wichtig, dass ihre Kinder mindestens die gleichen, wenn nicht bessere Bildungs- und damit Zukunftschancen haben als sie selbst, und favorisieren für ihre Kinder die Oberschullaufbahn, oftmals ungeachtet der Mittelschulnoten. In abgeschwächter Weise ist das aber auch bei der deutschen und ladinischen Sprachgruppe der Fall.

Die Ergebnisse der PISA-Studie aus dem Jahre 2003, die nicht nach Unterrichtssprache differenziert sind, belegen ebenfalls, dass Kinder aus höheren Sozial- und Bildungsschichten bei gleichen Schulleistungen (in Mathematik) öfter eine allgemeinbildende Oberschule und weniger oft einen Vollzeitlehrgang oder eine Berufsschule besuchen, als dies Kinder aus Familien mit niedrigerem Bildungsgrad tun (vgl. Siniscalco 2007, 135–136). Der besuchte Schultyp wiederum wirkt sich auf das Leistungsniveau aus, während innerhalb einer bestimmten Schule der Status der Eltern kaum mehr eine Rolle spielt. Dies bedeutet: Wenn ein Kind nach der Mittelschule in eine Oberschule wechselt, hängt der schulische Erfolg nicht mehr vom Bildungshintergrund seiner Familie ab, was auf ein hohes Maß an „innerschulischer“ Chancengleichheit hindeutet. Es darf allerdings nicht vergessen werden, dass dem eine doppelte Selektion vorangegangen ist: zunächst über das vom Status sehr wohl abhängige Leistungsniveau der Schülerinnen und Schüler in der Pflichtschule und sodann, wie gerade festgestellt, über die größere Wahrscheinlichkeit, dass die Kinder von Eltern mit höherem Status – bei gleichen schulischen Leistungen in der Pflichtschule – eine allgemeinbildende Oberschule besuchen, die sich wiederum durch ein höheres Leistungsniveau auszeichnet.

8. Bildungsentscheidungen folgen einer „Bildungskultur“

Erwartungen dieser Art mögen aber auch in einem anderen Sinne eine Rolle spielen, wenn es um die Bildungswahl geht, nämlich im Sinne einer „Bildungskultur“. Für die italienische Sprachgruppe ist die Oberschullaufbahn nicht zuletzt kulturell bzw. historisch bedingt der typische schulische Werdegang, und die Lehre eine gänzlich untypische Bildungsalternative. Es ist dies eine Tendenz, die sich ganz offensichtlich bis in die Gegenwart fortsetzt.

Ganz anders dagegen die Bildungskultur im deutschsprachigen und ladinischen Bereich, und hier besonders stark auf dem Land: Dort ist der berufspraktische Bildungsweg weiterhin attraktiv für viele junge Leute, und dies sogar bei guten und sehr gute Mittelschulnoten. Diese Beobachtung mag auf den ersten Blick den Eindruck der Bildungsbenachteiligung bestimmter gesellschaftlicher Gruppen oder geografischer Räume erzeugen. Allerdings darf nicht übersehen werden, dass Berufe in Handel und Handwerk in Südtirol eine lange Tradition und hohe Wertschätzung genießen. Es ist deshalb davon auszugehen, dass eine berufspraktische Lehre weit weniger mit Benachteiligung zu tun hat als vielmehr mit der Fortführung von „Familientradition“ oder auch „regionaler Kultur“. Hinzu kommt, dass eine Tätigkeit in Handel und Handwerk in Südtirol gute Erwerbs- und Einkommenschancen verspricht.

9. Stärken und Schwächen des Südtiroler Bildungssystems

Insgesamt zeigt sich für Südtirol ein bildungspolitisch erfreuliches Ergebnis: Das Leistungsniveau kann in Südtirol, wie die PISA-Studien 2003 und 2006 zeigen, insgesamt als recht hoch bezeichnet werden, und die Schulleistungen sind ein wichtiges Bestimmungsmoment ihres schulischen Werdegangs. Dennoch ist nicht zu übersehen, dass die Wahl des Schultyps zu einem gewissen Teil – unabhängig vom Leistungsniveau – von der Bildungsschicht der Familie geprägt ist. Damit zeigt sich, dass sich die Südtiroler Jugendlichen zwar zu einem Großteil nach Lerninteresse und Leistungsstärken, ihren persönlichen Ressourcen angemessen, auf die verschiedenen Bildungszweige verteilen und damit ein erhebliches Maß an Chancengleichheit gegeben ist, dass allerdings einem gewissen Teil der Jugendlichen – bedingt durch einen eher niedrigen Bildungsgrad ihrer Herkunftsfamilie und trotz guter Leistungen – der Sprung in die Oberschule nicht gelingt, und ihnen damit Bildungschancen vorenthalten sind. Wörtlich heißt es in der PISA-Studie 2003 für Südtirol:

„Die Tatsache, dass in der Wahl der Fachrichtung5 aufgrund des sozioökonomischen Umfelds eine Selbstauslese – zum Teil unabhängig vom Niveau der Kompetenzen – wirksam wird, enthält die Gefahr, dass die volle Entfaltung der Möglichkeiten aller Schülerinnen und Schüler beeinträchtigt wird und verursacht eine Vergeudung humaner Ressourcen“ (Siniscalco 2007, 136).

Eher kritisch zu bewerten sind außerdem Bildungsverläufe im Falle von Schulwechseln: Wenn sich Jugendliche für einen Wechsel der Schule oder Ausbildung entscheiden (müssen), kommt es nicht selten zu einer Wiederherstellung der „Familientradition“, indem es sich Jugendliche aus einem höher gebildeten Elternhaus bei einem Wechsel überdurchschnittlich oft zutrauen, in eine (andere) Oberschule zu wechseln, während Jugendliche aus mittleren oder niedrigeren Bildungsschichten, selbst wenn sie es zunächst mit einer Oberschulkarriere versucht haben, sich bei der „zweiten Wahl“ oft doch für eine Berufsfachschule oder Lehre entscheiden. Hier entsteht der Eindruck, dass individuelle Wege, die vielleicht von der sozialen und familiären Norm abweichen, nur dann erfolgreich verlaufen, wenn keine Stolpersteine auftauchen.

Problematisch sind zweifellos auch jene Fälle, bei denen es zum vollständigen Ausstieg aus dem Bildungssystem kommt und Jugendliche ohne Abschluss in die angelernte Erwerbsarbeit gehen. Auch diese „Bildungsbiografie“ ist stark von den schulischen Leistungen bestimmt: So bleibt zum Beispiel von den Jugendlichen, die zwei oder mehr Klassen wiederholen mussten, am Ende fast die Hälfte unqualifiziert. Absolut gesehen münden in Südtirol pro Jahr ca. 300 Jugendliche ohne beruflichen oder schulischen Abschluss ins Erwerbsleben; das sind gut fünf Prozent eines Jahrgangs. Obwohl das ein vergleichsweise niedriger Anteil ist, sollte dieser Gruppe besondere Beachtung geschenkt werden, denn fehlende berufliche Qualifikation führt häufig zu Arbeitslosigkeit, sobald sich die Beschäftigungslage verschlechtert.

Auch der beobachtete enge Zusammenhang zwischen schulischen Leistungen in der Pflichtschule und Bildungsgrad der Eltern muss nochmals als bedenklich angeführt werden. Denn hier läge es wohl an der Schule, die Kinder gerade in den ersten Jahren so zu fördern, dass die unterschiedlichen Voraussetzungen im Elternhaus weitgehend ausgeglichen werden.

10. Ausblick

Aus einer Abwägung der angeführten Stärken und Schwächen des Bildungs­systems in Südtirol kann geschlussfolgert werden, dass die positiven Merkmale des Systems sicher überwiegen, die Bedingungen zur Gewährleistung von Chancengleichheit aller aber noch weiterentwickelt werden können.

Geeignete Maßnahmen für eine solche Weiterentwicklung können sein:

Ausbau der Frühförderung im Kindergarten und in den ersten Jahren der Pflichtschule, um unterschiedliche Voraussetzungen im Elternhaus auszugleichen.

Intensivierung der Information und Beratung von Jugendlichen und Eltern bei der Wahl der weiterführenden Schule nach der Mittelschule unter besonderer Berücksichtigung der bildungsferneren Schichten.

Verstärkung des differenzierten, an die individuellen Bedürfnisse der Kinder angepassten Unterrichts.

Intensivierung der Begleitung von Jugendlichen und ihren Eltern in Krisen­situationen: bei abfallenden Schulleistungen, Wiederholung von Klassenstufen, Schul­wechseln, Schulabbruch.

Sensibilisierung aller am Bildungsprozess und den Bildungswegentscheidungen junger Menschen beteiligten Personen in Bezug auf gewisse nach wie vor wirksame kulturelle Vorurteile.

Vieles geschieht bereits in diese Richtung, deshalb können die Ergebnisse der vorliegenden Untersuchung auch als Bestätigung dafür verstanden werden, den eingeschlagenen Weg weiter zielstrebig zu beschreiten.

Derartige Maßnahmen dürfen jedoch nicht nur als Möglichkeit zu weiteren Verbesserungen verstanden werden. Angesichts des rasanten Wandels in der Schülerpopulation sind sie vermutlich Voraussetzung dafür, um das heutige gute Leistungs­niveau und das relativ hohe Maß an Chancengleichheit auch nur aufrechtzuerhalten: Während zum Zeitpunkt der PISA-Studie 2003 nämlich nur 2 % der fünfzehnjährigen Schülerinnen und Schüler im Ausland geboren waren, wird sich deren Anteil – laut der jüngsten Bevölkerungsprognose des ASTAT – in den kommenden Jahren drastisch erhöhen (vgl. Salustio 2008). Schon heute wird in Südtirol mehr als ein Fünftel der Neugeborenen von ausländischen Müttern zur Welt gebracht, in zehn Jahren wird es ein gutes Viertel sein. Mit der entsprechenden Zeitverzögerung wird dann auch der Anteil von Schülerinnen und Schülern mit Migrationshintergrund in vergleichbarer Weise anwachsen. Und aus Ländern wie Deutschland oder Österreich ist sattsam bekannt, welche Belastungen dies für ein Schulsystems bedeutet, das ursprünglich auf eine sprachlich und kulturell homogene Bevölkerung ausgerichtet war. Die absehbare Entwicklung stellt eine große Herausforderung für die Schulen in Südtirol dar. Die kürzlich erfolgte Einrichtung der Sprachenzentren kann daher nur als erster Schritt verstanden werden, sich dieser Herausforderung zu stellen.

Weiters stellt sich die Frage, ob das bestehende viergliedrige System an weiterführenden Schultypen nach der Mittelschule auf die Dauer nicht unerwünschte Leistungsunterschiede und sozial bedingte Selektionsmechanismen nach sich zieht. Es liegt zwar nicht in der Kompetenz des Landes Südtirol, das Bildungssystem grundlegend zu verändern, aber andererseits war es die Landesverwaltung selbst, die mit immer neuen Vollzeitlehrgängen an Berufsschulen ein Parallelsystem zu den staatlichen Lehranstalten aufgebaut hat und die diese beiden Ausbildungsschienen daher auch wieder vereinfachen und besser aufeinander abstimmen könnte.

Auf jeden Fall untermauern die Ergebnisse dieser Studie, dass Bildungsfragen in den kommenden Jahren ganz oben auf der politischen Tagesordnung in Südtirol stehen sollten, und zwar gleichermaßen aus gesellschaftspolitischen Überlegungen wie um die wirtschaftliche Konkurrenzfähigkeit des Landes im globalen Wettbewerb zu stärken.

Anmerkungen

1 Ein Überblick über die zugrunde liegenden Studien ist im Literaturverzeichnis zu finden.

2 Bezogen auf maturaführende Oberschulen staatlichen Typs; im PISA-Kontext werden nämlich auch Berufsschulen mit einem qualifizierenden Abschluss (Lehre, Fachdiplom) zu den Oberschulen gerechnet.

3 Eine Betrachtung der Bildungskarrieren Südtiroler Jugendlicher in Abhängigkeit von ihrem Wohnort (Stadt vs. Land) ist nur für die Schülerschaft an deutschsprachigen und ladinischen Schulen möglich, da es nur sehr wenige italienischsprachige Jugendliche gibt, die im ländlichen Raum leben.

4 Dieser Befund wurde auch durch die PISA-Studie 2006 bestätigt, und zwar für die Leistungen in den Naturwissenschaften. Dort wurde zudem erstmals zwischen Schulen mit deutscher und italienischer Unterrichtssprache unterschieden, wobei sich zeigt, dass der familiäre Hintergrund in der deutsche Schule eine noch geringere Rolle spielt als in der italienischen Schule in Südtirol (vgl. Siniscalco 2008).

5 In der hier verwendeten Terminologie wäre statt von „Fachrichtung“ besser vom „Schultyp“ zu sprechen.

Literaturverzeichnis

Atz, Hermann/Schnock, Brigitte (2002). ASSIST – Problematische Bildungsverläufe an Südtirols Mittel-, Ober- und Berufsschulen. Eine handlungsorientierte Untersuchung über Häufigkeit, Motive und Auswirkungen von Schulwechsel und Ausbildungsabbrüchen. Illustrierter Endbericht an den Auftrag­geber, Bozen: apollis. www.apollis.it/download/19d249_v1.pdf (18.02.2009)

Atz, Hermann/Vanzo, Elena (2005). Befragung von Absolventinnen und Absolventen der Mittelschule Ahrntal. Illustrierter Ergebnisbericht zu einer empirischen Untersuchung, Bozen: apollis (unveröffentlicht, Hauptergebnisse als Folien einer Präsentation abrufbar unter www.apollis.it/download/19d376_
v1.pdf, 18.02.2009)

Depner, Martin/Atz, Hermann (2000). Image der Berufsbildung in Südtirol. Empirische Untersuchung auf der Grundlage einer Befragung von SchülerInnen, LehrerInnen und einer Bevölkerungsstichprobe. Illustrierter Bericht an den Auftraggeber, Bozen: apollis. www.apollis.it/download/19dextD9BeIH.pdf (18.02.2009)

emme&erre (Hg.) (2002). ASSIST. Analisi della Selezione del Sistema di Istruzione, Rapporto di ricerca conclusiva, Padova: emme&erre (unveröffentlichter Forschungsbericht an den Auftraggeber)

Papa, Eva/Atz, Hermann (2007). Problematische Bildungsverläufe an Südtirols Mittel-, Ober- und Berufsschulen. Langzeitstudie zu Schulwechsel und Schulabbruch, Bozen: apollis. www.apollis.it/download/
19dextcAYhqG.pdf (18.02.2009)

Salustio, Annalisa (2008). Gesamte und ausländische Wohnbevölkerung in Südtirol. Ein Blick in die Zukunft­ bis 2020. Bozen: Autonome Provinz Bozen – Südtirol/Landesinstitut für Statistik – ASTAT (ASTAT­-Schriftenreihe Nr. 134)

Siniscalco, Maria Teresa (o.J. [2007]). Die PISA-Ergebnisse mit Bezug zum sozioökonomischen und kulturellen Kontext, in Siniscalco, Maria Teresa (Hg.). Das Kompetenzniveau der Fünfzehnjährigen im Bereich der Mathematik und des Lesens, der Naturwissenschaften und des Problemlösens. PISA 2003 – Ergebnisse Südtirol, Bozen: Pädagogisches Institut für die deutsche Sprachgruppe, 117–136

Siniscalco, Maria Teresa (2008). PISA 2008 – I risultati dell‘Alto Adige. Relazione tra background e risultati: Bolzano 15 maggio 2008; Folien einer Präsentation. Bozen: Pädagogisches Institut für die deutsche Sprachgruppe. www.schule.provinz.bz.it/pi/themen/pisa03_1.htm (18.02.2009)

Schnock, Brigitte/Atz, Hermann (2008). Soziale Herkunft und Bildungsweg. Wie viel Chancengleichheit besteht in Südtirol? Provenienza sociale e percorsi formativi. Esistono pari opportunità nel sistema formativa in Alto Adige? Innsbruck: Studienverlag

Abstracts

Provenienza sociale e
percorsi formativi

Possiamo dare per scontato che oggi ogni giovane abbia uguali opportunità nel sistema di formazione? Oppure esistono ceti sociali ancora sistematicamente svantaggiati nell’accesso alla formazione? La questione delle pari opportunità nella formazione e della equa partecipazione al sistema formativo è un argomento di grande attualità e importanza nell’analisi economica e sociale della nostre realtà.

In questo contributo Brigitte Schnock e Hermann Atz analizzano il sistema di formazione della Provincia di Bolzano, per verificare gli aspetti di disuguaglianza nei percorsi formativi che maggiormente incidono nelle scelte dei giovani, a partire dai livelli delle prestazioni scolastiche, dalla provenienza sociale e culturale fino al genere, la residenza e l’appartenenza a uno dei tre gruppi linguistici.

Nonostante alcuni punti di debolezza, il quadro generale che emerge è sostanzialmente positivo. Nella Provincia di Bolzano le opportunità nella formazione sembrano essere più equilibrate che nella media nazionale dell’Italia e della maggior parte dei paesi industrializzati.

Proveniënza soziala y tru dla formaziun

Pon dì che incö él vigni jonn/jona che à les medemes poscibilitês tl sistem dla formaziun? O él tlasses soziales c´iamò sistematicamënter svantajades tl podëi ti jì pormez ala formaziun? La chestiun dles medemes oportunitês tla formaziun y dla medema partezipaziun al sistem de formaziun é n argomënt de gran atualité y importanza tl’analisa economica y soziala de nosta realté.

Te chësc articul analisëia Brigitte Schnock y Hermann Atz le sistem de formaziun de Südtirol por verifiché i aspec´ de desvalianza söi trus dla formaziun che à da nen fà tröp cun la lîta dla profesciun di jogn, da pié ia dai livì dles prestaziuns de scora, dala proveniënza soziala y culturala c´ina al sès, ala residënza y ala portignüda a un di trëi grups linguistics.

Inc´e sce an po constatè val’ punc´ de deblëza, é le cuader general che salta fora impò sostanzialmënter positif. Tla Provinzia da Balsan c´iara fora les poscibilitês tla formaziun plü avaliades fora che tla media nazionala dla Talia y dla maiù pert di paîsc industrialisà.

School careers and social stratification

Can we assume that young people today have equal opportunities for education? Or are there some social groups whose access to higher education is obstructed?

The question of equal opportunity for higher education and parti­cipation in the educational system is a very meaningful and important topic in the economic and social analysis of our present situation.

Brigitte Schnock and Hermann Atz are analysing different determinates for inequitable participation in the education system of South Tyrol. The study begins with performance during the school years and encompasses the attributes of social standing, gender, hometown and linguistic background.

In spite of a few weaknesses the Province of Bolzano illustrates a positive example: The opportunities for higher education appear as equitably distributed as the national average in most industrial nations.