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Katharina Crepaz

Vaccine Hesitancy und ihre demokratie­politischen Implikationen

Impfkritische Parteien und Wahlerfolge bei den Parlamentswahlen 2022 und den Landtagswahlen 2023 in Südtirol

Vaccine hesitancy and its implications for democracy

Vaccine-critical parties and their electoral success in the 2022 ­parliamentary elections and the 2023 provincial elections in South Tyrol

Abstract With the onset of the Covid-19 pandemic in March 2020 and the subsequent protective measures, which included restrictions on freed om of movement and assembly, as well as the Green Pass as a prerequisite for access to many areas of social life, the South Tyrolean anti-vax campaign gained further electoral support. This trend is evidenced in the 2022 parliamentary election results and the 2023 provincial elections, where the Vita and JWA lists, both running on primarily anti-vaccination and anti-virus protection measure political campaigns, did well in several South Tyrolean municipalities.

This article explores the political potential of those critical of the covid vaccination in South Tyrol, where they are particularly strong geographically. It also considers the common characteristics of the regions where the anti-vax movement has been successful. The article also considers the central political arguments made by their political representatives and looks at whether there any other shared characteristics besides vaccine hesitancy that these parties have in common. Finally, the article considers where the conspicuously high levels of vaccine skepticism and hostility ­towards science in South Tyrol come from, and questions if parallels can be drawn with other ­linguistic and cultural areas. This article aims to provide an initial attempt to answer these ­questions. The political relevance and long-term establishment of anti-vaccine movements, especially in the newly elected South Tyrolean provincial parliament, can only begin to be explained more precisely in retrospect. Nevertheless, the link between vaccine hesitancy and voting behavior offers a promising starting point for an investigation into the connection between health science and political issues such as health literacy, political participation, and voting behavior.

1. Einleitung

In der Corona-Pandemie hat sich nochmals verdeutlicht, was wir bereits aus den vergleichsweise niedrigen Durchimpfungsraten der Bevölkerung gegen andere Krankheiten wissen: In Südtirol gibt es eine durchaus ernstzunehmende Zahl an Impf­skepti­ker/-innen, die durch ihre numerische Stärke auch Wahlergebnisse beeinflussen können. Bereits im Vorfeld der Landtagswahlen 2018 gab es Politiker/-innen, die versucht haben, diese Wähler/-innengruppe für sich zu rekrutieren. Prominentestes Beispiel ist wohl Andreas Pöder von der Bürger Union. Pöder sammelte 2018 22.000 Unterschriften gegen den geplanten Ausschluss von Kindern aus Kindergärten und Kinderhorten, die die Pflichtimpfungen nicht durchgeführt hatten. Allein die Anzahl der Unterschriften zeigt, dass die Gruppe der Impfskeptiker/-innen politisches Potenzial hat, dennoch gelang es Pöder trotz Unterstützung aus dem No-Vax-Lager nicht, erneut in den Landtag gewählt zu werden.

Mit Beginn der Covid-19 Pandemie im März 2020, den darauffolgenden Schutzmaßnahmen, die auch Einschränkungen der Bewegungs- und Versammlungsfreiheit mit sich brachten, und schließlich mit dem Green Pass als Zugangsvoraussetzung zu vielen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens, erhielt die No-Vax-Szene nochmals Zulauf. Dies zeigt sich in den Wahlergebnissen der Parlamentswahlen 2022 und der Landtagswahlen 2023, wo die Listen Vita und JWA, beides primär impf- und Schutzmaßnahmen-kritische Plattformen, in einigen Südtiroler Gemeinden stark punkten konnten. Was ist das politische Potenzial der Impfkritiker/-innen in Südtirol, wo sind sie geographisch gesehen besonders stark, und welche Merkmale einen die Hochburgen der No-Vax-Bewegung? Was sind die zentralen Punkte ihrer politischen Ver­tre­ter/-innen, gibt es neben vaccine ­hesitancy („Impfzurückhaltung“) noch weitere Charakteristika, die diese Parteien miteinander gemeinsam haben? Woher kommen die auffällig hohe Impfskepsis und Wissenschaftsfeindlichkeit in Südtirol, und lassen sich Parallelen zu anderen Sprach- und Kulturräumen ziehen? Auf diese und weitere Fragen möchte der Beitrag einen ersten Antwortversuch liefern. Die politische Relevanz und längerfristige Etablierung der impfkritischen Bewegungen vor allem im Jahr 2023 neu gewählten Südtiroler Landtag wird sich wohl erst im Rückblick genauer erklären lassen. Dennoch bietet die Verknüpfung von vaccine hesitancy und Wahlverhalten einen ersten spannenden Ansatzpunkt für eine Untersuchung des Zusammenhangs von gesundheitswissenschaftlichen und politologischen Gegenständen wie Gesundheitskompetenz (Health Literacy), politischer Partizipation und Wahlverhalten.

Zu Beginn soll das Phänomen „Impfzurückhaltung“, in der gesundheitswissenschaftlichen Fachliteratur meist mit dem englischen Begriff vaccine hesitancy ­be­titelt, dargestellt werden. Dabei wird das Konzept vaccine hesitancy mit seinen unter­schiedlichen Aspekten erklärt, und zudem der Frage nachgegangen, warum Impfskepsis vor allem im deutschsprachigen Raum stärker verbreitet ist – ein Phänomen, das sich in der Corona-Pandemie erneut gezeigt hat und eine Dimension, in der sich Südtirol stark vom restlichen Italien unterscheidet. Abschließend soll diskutiert werden, welche Studien es bisher zu vaccine hesitancy und Wahlverhalten gibt; das Thema hat Großteils erst seit der Corona-Pandemie Eingang in die wissenschaftliche Analyse gefunden.

Im Zentrum des dritten Kapitels stehen die beiden in Südtirol aktiven impfkritischen Parteien, Vita und JWA. Vita ist eine gesamtitalienische Liste, und war auch schon bei den Parlamentswahlen 2022 präsent, während JWA (Liste Jürgen Wirth ­Anderlan) erst im Vorfeld der Landtagswahlen 2023 gegründet wurde und eine regio­nale Partei bleiben wird. Vita konnte 2022 zwar keine/-n Südtiroler Vertreter/-in in Senat und Abgeordnetenkammer entsenden, schaffte aber in einigen Südtiroler Gemeinden durchaus Achtungserfolge. Bei den Landtagswahlen erzielte Vita ein und JWA zwei Mandate, die jeweils an die prominentesten Vertreter/-innen der Parteien gingen (Renate Holzeisen für Vita, Jürgen Wirth Anderlan und Andreas Colli für JWA). Holzeisen hatte sich bereits als Anwältin gegen die Corona-Schutzmaßnahmen einen Namen in der No-Vax-Community gemacht. Anderlan war als Landeskommandant der Schützen und durch YouTube-Videos aufgefallen und hatte prominent an No-Vax-Protestkundgebungen der Freiheitlichen Partei Österreichs (FPÖ) teilgenommen. Andreas Colli verlor seinen Bürgermeisterposten in Kastelruth, weil er sich während einer Phase von 2G-Pflicht weigerte, seinen Impfstatus zu erklären, worauf der Gemeinderat zurücktrat; zudem war er in den sozialen Medien als Verbreiter von Verschwörungsnarrativen aktiv. Die Profile der drei Neo-Landtags­abgeordneten zeigen also unterschiedliche Aspekte der No-Vax-Szene; durch eine Analyse der Partei- bzw. Wahlprogramme wird der Frage nachgegangen, ob es ­außer Covid-19, der Impfung bzw. den pandemiebedingten Schutzmaßnahmen noch andere Themen gibt, oder ob die neuen Bewegungen sich nur einem Politikfeld widmen (single issue parties).

Kapitel 4 analysiert die Wahlerfolge der impfkritischen Parteien Vita und JWA bei den Parlamentswahlen 2022 sowie den Landtagswahlen 2023 in ausgewählten Südtiroler Gemeinden. Als Auswahlkriterium für die Analyse diente ein Anteil von mindestens 30 Prozent Ungeimpften in der Gemeindebevölkerung unter 60 Jahren; da Daten zu den Impfquoten nach 2021 nicht mehr veröffentlicht wurden, wurde die letzte von der Tageszeitung „Dolomiten“ publizierte Infografik (Daten vom 14.11.2021; vgl. Dolomiten 2021) als Quelle verwendet. In den Gemeinden mit einer Ungeimpften-Quote von über 30 Prozent schnitten Vita und JWA 2022 und 2023 im Vergleich zu anderen Südtiroler Gemeinden deutlich besser ab, was auf eine Korrelation zwischen vaccine hesitancy und Wahlverhalten (impfkritische Parteien) hindeutet. In den Schlussfolgerungen werden die demokratiepolitischen Auswirkungen von vaccine hesitancy analysiert, und die Rolle der Gesundheitskompetenz (Health Literacy) als mögliches Mittel gegen wissenschaftsfeindliche Diskurse erörtert.

2. Vaccine Hesitancy und politische Partizipation

2.1 Vaccine Hesitancy als gesundheitswissenschaftliches Konzept

Vaccine hesitancy könnte im Deutschen mit „Impfzurückhaltung“ übersetzt werden, meist wird im gesundheitswissenschaftlichen Diskurs jedoch direkt der englischsprachige Begriff verwendet. MacDonald und die SAGE Working Group on Vaccine Hesitancy definierten das Phänomen 2015 wie folgt:

„Vaccine hesitancy refers to a delay in acceptance or refusal of vaccination despite availability of vaccination services. Vaccine hesitancy is complex and context specific, varying across time, place and vaccines. It is influenced by factors such as complacency, convenience,1 and confidence.“ ­(MacDonald/SAGE Working Group on Vaccine Hesitancy 2015, 4163).

Confidence meint dabei das Vertrauen in die Wirkung von Impfstoffen; in das ­System, das die Impfstoffe liefert, inklusive Verlässlichkeit und Kompetenz der Gesund­heitsdienste und des Gesundheitspersonals; sowie in die Beweggründe der politischen Verantwortungsträger/-innen, die Entscheidungen über die benötigten Impfungen treffen. Complacency, wörtlich Selbstzufriedenheit bzw. inhaltlich eher als mangelnde Risikowahrnehmung zu übersetzen, tritt auf, wenn die Risiken von mit Impfungen verhinderbaren Krankheiten als gering wahrgenommen werden, und die Impfung somit nicht als notwendige Präventionsmaßnahme eingeschätzt wird. Der Erfolg von Immunisierungskampagnen mit den daraus resultierenden geringen bzw. schwächeren Krankheitsfällen befördert paradoxerweise die Selbstzufriedenheit, da es weniger Gefahrenwahrnehmung gibt. Convenience, wörtlich Bequemlichkeit, meint die physische Verfügbarkeit, Leistbarkeit, geographische Verfügbarkeit, Verständniskompetenz (sprachlich und im Sinne von Gesundheitskompetenz), die Anziehung von Immunisierungsangeboten, und die wahrgenommene oder tatsächliche Qualität der Dienstleistungen (MacDonald/SAGE Working Group on ­Vaccine Hesitancy 2015, 4162 – 4163). Somit lassen sich also drei Kategorien von möglichen Gründen für vaccine hesitancy definieren, wobei z. B. Verfügbarkeit und andere convenience-Gründe eher systemisch und Aspekte des Vertrauens eher psychologisch zu sehen sind. Im Aspekt der confidence zeigt sich auch schon die Verbindung zwischen dem Vertrauen in politische Entscheidungsträger/-innen und dem Vertrauen in öffentliche Gesundheitspolitiken (Public Health).

Neben den drei Kernkategorien hat die Forschungsgruppe zu vaccine hesitancy nach einem systematischen Review unterschiedlicher Modelle auch eine „Vaccine Hesitancy Determinants Matrix“ erarbeitet; die Einflussfaktoren auf vaccine hesitancy werden in drei Kategorien eingeteilt:„contextual influences […] arising due to historic, socio-cultural, environmental, health system/institutional, economic or political factors“; „individual and group influences […] arising from personal perception of the vaccine or influences of the social/peer environment“; „vaccine/vaccination-specific issues directly related to vaccine or vaccination“ (MacDonald/SAGE Working Group on Vaccine Hesitancy 2015, 4163).

Die kontextuellen Determinanten umfassen z. B. Kommunikation und mediale Umgebung, einflussreiche Führungspersönlichkeiten, Gatekeepers der Immunisierungsprogramme und Anti- oder Pro-Impflobbies, geschichtliche Einflüsse, Reli­gion, Kultur, Gender, sozio-ökonomische Faktoren, geographische Barrieren und die Wahrnehmung der pharmazeutischen Industrie. Zu den Individual- und Gruppenfaktoren zählen persönliche oder familieninterne Erfahrungen mit Impfungen, Einstellungen zu Gesundheit und Prävention, Wissen bzw. Bewusstseinsbildung, eigene Erfahrungen und Vertrauen in das Gesundheitssystem bzw. Gesundheitsanbieter/-innen, die persönliche Risiken- und Nutzen-Abwägung, und die Immunisierung als soziale Norm vs. als nicht benötigt/schädlich. Die impfungsspezifischen Einflüsse sind z. B. epidemiologische und wissenschaftliche Evidenz zum Risiko/Nutzen der Impfung, die Einführung einer neuen Impfung, die Art der Verabreichung, die Art der Impfkampagne, die Verlässlichkeit der Zugänglichkeit der Impfung, der Zeitplan der Impfung, die Kosten und die Stärke der Empfehlung, sowie die Wissensbasis und Einstellung seitens des Gesundheitspersonals (MacDonald/SAGE Working Group on Vaccine Hesitancy 2015, 4162 – 4163).

Das 5C-Modell von Betsch et al. (2018) nimmt zu den oben beschriebenen drei Cs (complacency, convenience, confidence) noch collective responsibility und ­calculation dazu; das kollektive Verantwortungsgefühl beschreibt die Motivation, sich auch zum Schutz anderer impfen zu lassen, während calculation die aktive Informationssuche und das Abwägen von Risiken und Nutzen der Impfung meint. Die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) erfasste die psychologischen Gründe für die Impfentscheidung u. a. 2016 und 2018 deutschlandweit; durch die dabei erhobenen Daten lässt sich voraussagen, welche Faktoren für die Impf­entscheidung besonders wichtig sind. Personen, die höhere confidence und höhere collective responsibility-Werte aufweisen haben sich in den vergangenen Jahren eher impfen lassen. Personen, die höhere praktische Barrieren (constraints) wahrnahmen und deren complacency-Werte höher waren, haben eher Impfungen ausgelassen (Betsch et al. 2019, 403). Um Impfverhalten positiv zu verändern, kann man z. B. versuchen, den Faktor Vertrauen zu beeinflussen: Das Impferlebnis soll positiver und schmerzfreier gestaltet werden. Die wissenschaftliche Forschung beschäftigt sich vermehrt mit der Rolle von Fake News im Gesundheitsbereich bzw. mit den von Impfgegnerinnen und Impfgegnern verwendeten rhetorischen Strategien, um ­Mythen effizienter zu entkräften. Auch den Medien kommt dabei eine wichtige Rolle zu: Wissenschaftlicher Konsens soll als solcher dargestellt und false balances (fälschliches Suggerieren einer Gleichverteilung der Meinungen v. a. von Expertinnen und Experten) vermieden werden. Im Bereich complacency soll dem fehlenden Risikobewusstsein durch die vermehrte Kommunikation schwerer Folgeerkrankungen ohne Impfung (z. B. Sepsis bei Influenza) entgegengewirkt werden; sogenannte Furchtappelle, also z. B. abschreckende Bilder von an Masern erkrankten Kindern wirken dagegen nur bedingt. Bei den constraints, den praktischen Barrieren, setzt man auf proaktive Impfangebote, z. B. erreicht man über die direkte Zusendung von Impfterminen, die dann immer noch abgesagt werden können, eine größere Personengruppe, als wenn Termine selbst aktiv vereinbart werden müssen. Die calculation-­Werte zeigen, dass das Informationsangebot verbessert bzw. bekannter gemacht werden muss. An die soziale Verantwortung wird durch den Verweis auf vulnerable Gruppen, die vielleicht selbst nicht geimpft werden können, vermehrt appelliert. Zudem trägt die Betonung kollektiver Ziele und bereits erreichter Fortschritte zur Impfbereitschaft bei (Betsch et al. 2019, 404 – 406).

Die hier besprochenen Determinanten, die vaccine hesitancy fördern, sowie auch die aufgezeigten Interventionen bzw. Lösungsansätze sind als international anwendbar zu verstehen, da es sich um in der menschlichen Psyche verortete Faktoren handelt, die sich in unterschiedlichen Kontexten feststellen lassen. Gruppen von Expertinnen und Experten versuchen durch eine Zusammenschau der wissenschaft­lichen Forschung in unterschiedlichen Ländern Gemeinsamkeiten zu identifizierten und breit anwendbare Faktoren zu identifizieren. Es gibt aber natürlich auch regionale Unterschiede; diese hängen mit bekannten Determinanten wie dem sozioökonomischen Status zusammen, lassen sich teilweise aber auch nur schwer erklären. Dazu zählt die Besonderheit des deutschen Sprachraums, der vermehrt Bevölkerungsgruppen mit vaccine hesitancy aufweist. Da auch Südtirol zumindest in großen Teilen seiner Bevölkerung maßgeblich vom deutschen Sprachraum beeinflusst wird, soll auf dieses Merkmal und auch den Unterschied zu Italien kurz eingegangen werden.

2.2 Vaccine Hesitancy als Besonderheit des deutschsprachigen Raums?

Vor allem im Rahmen der Berichterstattung zur Corona-Pandemie wurde den vergleichsweise niedrigen Impfraten im deutschsprachigen Raum vermehrte Aufmerksamkeit zuteil. Auch Südtirol war hier als mehrsprachiges aber vom deutschsprachigen Raum stark beeinflusstes Land keine Ausnahme: Laut „Corriere della Sera“ ist Südtirol eine „[…] fortezza dei no-vax […]“; das zeige sich sowohl in den niedrigen Impfungsraten der Bevölkerung gegen Krankheiten wie Masern, Mumps, Röteln und Meningokokken, als auch in der geringen Anzahl des geimpften Gesundheitspersonals: Nur 18,7 Prozent der im Sanitätsbetrieb Beschäftigten ließen sich im Jahr 2019 gegen Grippe impfen, während die Anteile in anderen italienischen Regionen um die 60 Prozent lagen. Somit verwundert es nicht, dass Südtirol 2021 auch zeitweise die niedrigste Anzahl von Covid-19 Impfungen in Italien aufwies (vgl. Currò Dossi 2021).

Die „Neue Zürcher Zeitung“ (NZZ) sah einen der Gründe für die mangelnde Impfbereitschaft im deutschen Sprachraum in der milden ersten Coronawelle 2020; schockierende Bilder wie der Einsatz des Militärs zum Abtransport der Särge in Bergamo blieben aus. Auch rechtspopulistische Kräfte, die Impfgegner/-innen politisch umgarnen, sind in Deutschland, Österreich und der Schweiz ausgeprägter. Das Vertrauen in Alternativmedizin und Homöopathie und die damit verbundene Skepsis gegenüber Wissenschaft und Schulmedizin sind ebenfalls in der Region Deutschland, Österreich, Schweiz (DACH) ausgeprägter als in anderen europäischen Gegenden, und die vorherrschenden föderalen Systeme erschweren ein zentralisiertes und schnelles Vorgehen im Public Health Bereich, wie dies z. B. in Italien der Fall war (vgl. Baumann et al. 2021).

Die Berliner „taz“ ging in einer gemeinsamen Recherche mit dem österreichischen „Falter“ und der schweizerischen „WOZ Die Wochenzeitung“ ebenfalls der Frage nach den Gründen für die ablehnende Haltung gegenüber Impfungen im deutschsprachigen Raum nach. Sie identifiziert eine geistesgeschichtliche Linie ­zwischen der Romantik und der Impfskepsis heute: In der romantischen Literatur wurde das Natürliche verklärt und verabsolutiert, und anders als in anderen Ländern bekam diese Strömung im deutschsprachigen Raum auch politischen Einfluss. Die Mystifizierung der Natur und Respiritualisierung des Denkens schufen gleichzeitig eine Distanz zur vermeintlich kalten Wissenschaft und Schulmedizin und spitzten sich in modernisierungsfeindlichen Reformbewegungen wie der Anthroposophie zu. Laut der Soziologin Jutta Ditfurth speiste sich aus diesem Klima auch eine Skepsis gegenüber Bewegungen zur Rationalität und Gleichheit der Bürger/-innen, und auch der Antisemitismus trat schon in der These zur vermeintlich „jüdischen“ Schul­medizin zu Tage – ein Bild, das die Nazis später aufgriffen. Im Zusammenhang mit Impfungen und vermeintlichen Eingriffen in den Körper war und blieb der Anti­semitismus präsent. Naturmystifizierung und Wissenschaftsfeindlichkeit sind aber nicht die einzigen Gründe für vaccine hesitancy, auch ein libertäres Freiheitsverständnis, das Selbstbestimmung und Eigenverantwortung absolut setzt, gehört laut der Soziologin Nadine Frei zu möglichen Erklärungsansätzen. Die Impfbereitschaft kann auch als Maß des Vertrauens in den Staat gesehen werden, wie auch die oben zitierten Erklärungsmodelle zu vaccine hesitancy zeigen; Impfkritik ist in manchen Fällen also auch Staats- bzw. Regierungskritik. Auch in Österreich zeigte sich Impfskepsis als Staatskritik schon 1809 im Widerstand der Tiroler/-innen gegen die von den bayerischen Besatzerinnen und Besatzern vorgeschriebene Pockenimpfung: Ängste vor einer vermeintlichen Indoktrinierung durch den Impfstoff wurden gezielt vorangetrieben. Das Sora-Institut identifiziert auch den Bildungsgrad als einen Faktor für Impfskepsis: Unter Akademikerinnen und Akademikern ist die Impfablehnung nur halb so hoch wie unter der Durchschnittsbevölkerung. Von staatlicher Seite sind Interventionen vor allem durch Gesundheitskommunikation möglich; v. a. schwer zu erreichende Bevölkerungsschichten gilt es gezielt anzusprechen, und vermehrte Appelle an gemeinschaftliche Solidarisierung u. a. via SMS zu betreiben (vgl. Jakob 2021). Der Soziologe Oliver Nachtwey sieht zudem die stärkeren Solidaritätsbeziehungen in Ländern wie Italien, Frankreich, Portugal und Spanien als Grund für mehr Impfakzeptanz: Wer auf engerem Raum in Mehrgenerationenhaushalten zusammenlebt, achtet stärker darauf, vulnerable Gruppen wie die Großeltern nicht in Gefahr zu bringen (vgl. May 2021).

Aus der Zusammenschau von sozialwissenschaftlicher Forschung und Medienberichterstattung zum Thema zeigt sich, dass es unterschiedliche Gründe für die vermehrt auftretende Impfskepsis im deutschsprachigen Raum gibt. Von einer Verortung im politischen Denken der Romantik, einer Übermystifizierung der Natur bis hin zu einem absolutistisch liberalen Freiheitsbegriff zeigen sich im DACH-Raum Muster, die sich auch in Südtirol feststellen lassen, wie sich auch in der späteren Analyse der Parteiprogramme der Südtiroler Impfkritiker/-innen (Vita, JWA) feststellen lassen wird. Zunächst soll aber noch genauer auf die Beziehung zwischen vaccine hesitancy und Demokratie eingegangen werden. Dem Thema wird erst seit der Corona-Pandemie vermehrt wissenschaftliche Aufmerksamkeit zuteil, dennoch gibt es aber bereits einige interessante Studien, die auch für eine vergleichende Perspektive mit Südtirol aufschlussreich sind.

2.3 Forschungsstand zu Vaccine Hesitancy und Demokratie

Impfkritik als Staatskritik bzw. die Möglichkeit, mangelndes Vertrauen in die politischen Entscheidungsträger/-innen durch Kritik an den staatlichen Maßnahmen zum Ausdruck zu bringen, zeigt sich auch als wichtiges Merkmal der politischen Beteiligung von Impfgegnerinnen und Impfgegnern. So konnte in der Forschung ein Zusammenhang zwischen coronaskeptischen Einstellungen und populistischer Elitengegner/-innenschaft sowie zwischen Corona-Kritik und dem Glauben an Verschwörungsmythen nachgewiesen werden (vgl. Lamberty/Rees 2021). Zudem offenbarte sich eine Vereinnahmung der Corona-Kritik durch rechtsextremistische Kräfte und Narrative bzw. eine erhöhte Attraktivität der Protestbewegungen für politisch rechtsstehende Teile der Bevölkerung (vgl. Debus/Tosun 2021). In einem Beitrag zur Fallstudie Sachsen untersuchen Brieger et al. (2022) die Einstellungsmuster in den coronakritischen Bevölkerungsteilen und die verwendeten Narrative der Protest­akteu­rinnen und -akteure. In Sachsen lag die Impfquote im Sommer 2022 bei 64,7 Prozent, und somit mehr als 10 Prozentpunkte unter der Quote für Gesamtdeutschland. Zudem gab es regelmäßige Demonstrationen, und die Corona-Protestkultur konnte an bereits existierende und häufig von rechten Kräften geschaffene Proteststrukturen anknüpfen (Brieger et al. 2022, 307 – 308). In repräsentativen Umfragedaten aus der dritten Infektionswelle im Mai 2021 zeigen sich die Ablehnung der Schutzmaßnahmen, Impfskepsis sowie Verschwörungsglauben und Protestverständnis als Merkmale. Unter den radikalen Maßnahmengegnerinnen und -gegnern, die alle Schutzmaßnahmen ablehnten, waren die Werte nochmals deutlich höher: Hier glaubten 72 Prozent an Verschwörungsideologien (sächsische Gesamtbevölkerung 22 Prozent), und auch die Impfskepsis und das Protestverständnis sind mit 72 Prozent bzw. 92 Prozent um einiges höher als jene der Gesamtbevölkerung (21 Prozent und 41 Prozent) (Brieger et al. 2022, 311). Die Angehörigen des coronaskeptischen Milieus sind tendenziell etwas jünger als die Gesamtbevölkerung, haben einen mittleren Bildungsabschluss (Realschule) und arbeiten in einem Angestelltenverhältnis. Sie sind zudem überdurchschnittlich häufig der AfD (Alternative für Deutschland) zugeneigt: 43 Prozent bewerten die AfD positiv, im Vergleich zu 21 Prozent der Gesamt­bevölkerung (Brieger et al. 2022, 312 – 313). Ideologisch finden sich neben einer populistischen Elitenkritik („Wir“ gegen „Die da oben“) auch ethnozentrische Orien­tierung als Gründe, die eine Skepsis gegenüber staatlichen Schutzmaßnahmen begünstigen. Die in den Studien zu vaccine hesitancy erwähnte kollektive Verantwortung gegenüber vulnerablen Gruppen greift hier durch ethnische Exklusions­mechanismen also nicht. Weiters lässt sich ein Law-and-Order-Autoritarismus feststellen, also der Wunsch nach einer „starken Hand“, gleichzeitig aber verbunden mit einer Ablehnung staatlicher Autorität und einer Unterstützung von Verschwörungsnarrativen (Brieger et al. 2022, 316).

Eine repräsentative Umfrage der Friedrich Ebert Stiftung zur Demokratie in Krisenzeiten zeigt, dass sich bezüglich der Zufriedenheit mit der Arbeit der Politik in der Coronakrise keine großen Unterschiede unter Berücksichtigung von Gemeindegröße, Geschlecht und Erwerbsstatus feststellen lassen. Dagegen zeigen sich große Differenzen, wenn man den Impfstatus und das Wahlverhalten bei der Bundestagswahl 2021 in die Auswertung mit einbezieht. So sind 47 Prozent der gegen Covid-19 geimpften Befragten mit der Politik in der Coronakrise sehr oder eher zufrieden, aber nur 12 Prozent der Ungeimpften. Mit Blick auf das Wahlverhalten zeigen sich Wähler/-innen der Grünen (66 Prozent), der SPD (Sozialdemokratische Partei Deutschlands; 59 Prozent) und der CDU/CSU (Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern; 52 Prozent) mehrheitlich sehr oder ziemlich zufrieden. Die Wähler/-innen der Linken (57 Prozent), FDP (Freie Demokratische Partei; 67 Prozent), Freien Wähler (67 Prozent), Nicht-/Ungültig-Wähler/-innen (71 Prozent), sowie andere (76 Prozent) sind mehrheitlich unzufrieden. Bei den AfD Wählerinnen und Wählern sind es sogar 86 Prozent, die unzufrieden sind, davon 59 Prozent sehr unzufrieden. Interessant ist auch die Rolle des Medienkonsums für die Zufriedenheitswerte: Von den Befragten, die sich vor allem über öffentlich-rechtliche Medien, traditionelle Tages- oder Wochenzeitungen und deren Internetangebote informieren, sind 50 Prozent sehr oder ziemlich zufrieden; bei denjenigen, die dies nicht tun, sind es nur 18 Prozent (Best et al. 2023, 44 – 45). Beim Thema Verschwörungsdenken zeigt sich, dass ein höheres Alter sowie eine höhere formale Bildung dem Glauben an pandemiebezogene Verschwörungserzählungen abträglich sind. Personen, die Probleme haben, ihre laufenden Ausgaben zu decken, weisen dagegen eine höhere Anfälligkeit auf. Pandemiebezogenes Verschwörungsdenken ist unter Ungeimpften stärker verbreitet als unter Geimpften; so glauben 86 Prozent der Ungeimpften, die Regierung habe die Bevölkerung während der Coronapandemie gezielt in Angst versetzt, um Grundrechtseinschränkungen durchzusetzen – bei den Geimpften sind es nur knapp ein Drittel. Das Virus für eine Biowaffe halten 47 Prozent der Ungeimpften und 15 Prozent der Geimpften. Der Zusammenhang besteht auch dann, wenn man den Einfluss anderer Variablen (wie soziodemografische Faktoren, Selbstwirksamkeit oder Ideologie) kontrolliert. Wähler/-innen der AfD sind zu 73 Prozent der Meinung, dass es eine gezielte Angstmache seitens der Bundesregierung gab, um Einschränkungen der Freiheitsrechte zu rechtfertigen, bei jenen der Freien Wähler sind es 60 Prozent (Best et al. 2023, 53 – 59). Hinsichtlich Impfung sind 84 Prozent der Ungeimpften der Ansicht, die Gefah­ren des Impfens würden von Politik und Medien heruntergespielt, bei den ­Geimpften sind es 33 Prozent. Es gibt einen stark negativen Zusammenhang mit politischem Vertrauen: Während 71 Prozent der Befragten mit einem geringen Institutionenvertrauen der Meinung sind, die Gefahren des Impfens würden von der Politik verschwiegen, sind es bei den Personen mit hohem Vertrauen nur 13 Prozent. Die Unterstützung für impfkritische Aussagen ist bei den AfD-Wählerinnen und Wählern mit 76 Prozent am höchsten (Best et al. 2023, 67 – 68). Der starke Zusammenhang mit politischem Vertrauen zeigt sich auch in einer österreichischen Studie zu vaccine hesitancy bei Covid-19: Psychosoziale Faktoren wiesen nur wenig Erklärungspotenzial auf, aber es gab eine starke Korrelation zwischen Misstrauen gegenüber der Impfung und Misstrauen gegenüber öffentlichen Entscheidungsträgerinnen und -trägern (Schernhammer et al. 2021, 106). Mangelndes politisches Vertrauen sowie der Glaube an Verschwörungserzählungen lassen sich also als wichtigste Faktoren für vaccine hesitancy identifizieren; ein ähnlicher Befund zeigt sich in den Studien des Landesinstituts für Statistik ASTAT und der Claudiana, die vaccine hesitancy in der Südtiroler Bevölkerung und mögliche Gründe dafür untersucht haben.

2.4 Vaccine Hesitancy in Südtirol

Die Südtiroler Studien beschäftigen sich nicht direkt mit dem Phänomen vaccine hesitancy und Wahlverhalten, sie analysieren aber den Zusammenhang von Impf­zöger­lich­keit und Covid-19, und berücksichtigen auch indirekt politisch wirksame Faktoren wie die Sprachgruppenverteilung mit. Zu nennen ist hier die Forschungsarbeit der Kolleginnen und Kollegen des Instituts für Allgemeinmedizin und Public Health der Claudiana in Zusammenarbeit mit dem ASTAT, die in einer repräsentativen Umfrage den Zusammenhang zwischen der Sprachgruppe und vaccine hesitancy untersucht haben. So zeigt die jüngere deutschsprachige Bevölkerung (20 – 29 Jahre 25,8 Prozent; 30 – 39 29 Prozent) deutlich mehr vaccine hesitancy als die gleiche italienisch­sprachige Altersgruppe (20 – 29 Jahre 9,3 Prozent, 30 – 39 Jahre 17,9 Prozent). In den älteren Altersgruppen gleicht sich dieser Unterschied wieder an. Die Sprachgruppen unterschieden sich zudem in ihrem Vertrauen in die Presse und in die Institutionen, die mit dem Pandemiemanagement betraut waren. Italienisch­sprachige Südtiroler/-innen hatten mehr Vertrauen in die Institutionen als die deutsch- und ladinischsprachige Bevölkerung; Ladiner/-innen zeigten sich anfälliger für den Glauben an Verschwörungserzählungen (Barbieri et al. 2022a, 1584). In den deutschen Schulen waren 2021 30 Prozent der Lehrer/-innen ungeimpft, verglichen mit 3 Prozent der italienischsprachigen Lehrer/-innen; 44 Prozent der deutsch- und 70 Prozent der italienischsprachigen Südtiroler/-innen vertrauten dem italienischen nationalen Gesundheitsinstitut (vgl. Roberts 2021). Es zeigt sich also wiederum der Einfluss des deutschen Sprachraums mit seiner höheren Impfskepsis, mit gesellschaftlichen Alternativbewegungen wie Waldorfschulen, aber auch deutschspra­chiger Medien, die impfkritischen vermeintlichen Expertinnen und Experten größere Plattformen boten (vgl. Balmetzhofer 2021). Auch zur Verteilung von vaccine ­hesitancy in ruralen und urbanen Räumen wurde eine Studie durchgeführt. In der ruralen Südtiroler Bevölkerung gab es mehr Impfskepsis (17,6 Prozent in ruralen und 12,8 Prozent in urbanen Gebieten). Die rurale Bevölkerung wies dabei einen niedrigeren Bildungsgrad und einen höheren Anteil von Deutsch als Muttersprache auf, zudem gab es weniger Vertrauen in die Institutionen sowie in den nationalen Impfplan, und einen erhöhten Glauben an Verschwörungserzählungen. Somit sind die meisten Merkmale bzw. Vorhersagekriterien für vaccine hesitancy in ruralen Gegenden eher vorhanden als in urbanen (Barbieri et al. 2022b, 1870).

Das Landestatistikinstitut ASTAT führte 2023 in Zusammenarbeit mit dem Institut für Allgemeinmedizin und Public Health der Claudiana eine Stichprobenerhebung über die Einstellung der Bürger/-innen zu den Covid-19-Impfungen bzw. den Rückgriff auf Alternativmedizin durch. Dabei zeigten sich 29 Prozent der Befragten nicht oder überwiegend nicht davon überzeugt, dass die Impfung gegen Covid-19 zur Eindämmung der Verbreitung beitragen kann. Die Skepsis gegenüber einer vom nationalen Impfplan vorgesehenen Impfpflicht fällt mit 36 Prozent noch höher aus; 46 Prozent sind ziemlich überzeugt, dass die Impfung schädlich sein könnte, weil die langfristigen Risiken nicht bekannt sind. Interessant ist auch, dass die Pandemie die Einstellung gegenüber Impfungen im Allgemeinen wenig verändert hat: 15 Prozent befürworten die Pflichtimpfungen für Kinder jetzt mehr als vor der Pandemie, aber 10 Prozent stehen diesen Impfungen jetzt noch skeptischer gegenüber. Eine Analyse der Gründe für die unterschiedlichen Meinungen zum Nutzen der Covid-19 Impfung stellt fest, dass der Glaube an Verschwörungserzählungen und eine Verschlechterung der finanziellen Situation der Befragten hier Einfluss ausüben und zu einem geringeren Vertrauen in die Impfung führen. Die Variable „Altruismus“ ist mit einer positiveren Meinung zur Impfung verknüpft; die Sprachgruppe scheint ohne Einfluss der anderen Faktoren nicht entscheidend zu sein (ASTAT 2023, 4 – 7).

Analog zu den anderen Studien aus dem DACH-Raum können ein Mangel an Vertrauen in Entscheidungsträger/-innen und politische Institutionen als Gründe für vaccine hesitancy angesehen werden. Spannend ist die Rolle der Sprachgruppe, bei der der Einfluss des deutschen Sprachraums mit höherer Impfskepsis zu Tragen kommt; zudem gibt es Korrelationen mit einem niedrigen Bildungsgrad und einem Wohnsitz in ruralen Räumen. Einige dieser Faktoren zeigen sich auch bei den impfkritischen Parteien in Südtirol, die bei den letzten Parlaments- und Landtagswahlen in Südtirol angetreten sind (Vita und JWA). Vor allem der Wohnsitz in ruralen Räumen, die deutschsprachig geprägt sind, zeigt sich als wichtige Determinante. Vor einer eingehenderen Beschäftigung mit den Wahlergebnissen 2022 und 2023 und deren geographischer Verteilung sollen aber zunächst die beiden impfkritischen Parteien und deren Profile kurz vorgestellt werden.

3. Impfkritische Parteien in Südtirol

Vita trat bei den Parlamentswahlen 2022 und bei den Landtagswahlen 2023 in Südtirol an. Gegründet wurde die Partei 2022, die Parteivorsitzende ist Sara Cunial, eine ehemalige Abgeordnete der 5-Sterne-Bewegung, die von 2018 – 2022 Kammerabgeordnete war. Bereits im Wahlkampf war sie mit impfkritischen Aussagen aufgefallen und stand kurz vor dem Parteiausschluss; dieser erfolgte im Jahr 2019 nach einer Kontroverse über eine „Agromafia“ (Zitat Cunial) in Apulien (vgl. Zambon 2019). Die Abgeordnete verbreitete Verschwörungserzählungen zum 5G-Ausbau und zu Bill Gates, ihre Facebook Seite wurde daher 2021 deaktiviert. Cunial hat auch eine Verbindung zu Südtirol: Als das Hotel Weißes Rössl in Innichen 2021 aufgrund der Missachtung der Hygienemaßnahmen geschlossen werden sollte, kamen italienische Impfgegner/-innen zur Unterstützung ins Pustertal, darunter auch Cunial, die verkündete, das Hotel sei nun ihr „domicilio parlamentare, tutelato dalla legge ita­liana“ (zitiert in Fulloni 2021). Hannes Kühebacher, der Wirt des Weißen Rössl, zählt nun laut Vita Homepage auch zu deren Südtiroler Kandidatinnen und Kandidaten. Derzeit läuft ein Prozess gegen Cunial wegen „rifiuto d’indicazioni sulla propria identità personale, oltraggio e minaccia a pubblico ufficiale“ auf einer No-Vax-Demonstration in Aosta 2021 (ANSA 2023). Bei den Parlamentswahlen 2022 konnte Vita gesamtstaatlich nur 0,7 Prozent der Stimmen für sich gewinnen, und ist somit nicht im Parlament vertreten. In Südtirol erzielte die Bewegung aber in einigen Gemeinden durchaus gute Ergebnisse. Bei den Landtagswahlen 2023 wurde Renate Holzeisen mit 2,59 Prozent der Stimmen als Abgeordnete gewählt. Die Stärke der Partei in Südtirol zeigt sich auch in deren Internetauftritt: Fast alle Inhalte sind zweisprachig verfügbar, und es gibt eine eigene Unterseite für die Südtiroler Kandidatinnen und Kandidaten (vgl. Vita 2024).

In ihrem Parteiprogramm spricht sich Vita vor allem gegen die Impfpflicht aus, und fordert neben der Wahrung der Verfassungs- auch jene der „Naturrechte“. Weitere wichtige Punkte sind die nationale Souveränität, der Kampf gegen die Abschaffung des Bargelds und gegen die Teuerung des Alltags, der Austritt aus der NATO, der EU und der Eurozone. Vita spricht sich zudem gegen Fernunterricht und gegen das Lehren neuer Technologien wie Robotik in den Schulen aus, ebenso gegen die „Indoktrinierungsprogramme Gender, neutraler Körper und Transhumanismus“ (Vita 2024, Übersetzung der Autorin). Sie fordern zudem die Anerkennung der scienza noetica, einer metaphysisch orientierten Pseudowissenschaft, und der gesundheitlichen Alternativpraktiken. Vita ist gegen genetisch modifizierte Lebensmittel, gegen den Ausbau von 5G und gegen illegale Migration (vgl. Vita 2022). Das Wahlprogramm zu den Landtagswahlen 2023 präsentiert ähnliche Inhalte, es geht vor allem gegen die Impfpflicht und gegen eine vermeintliche von der WHO eingesetzte Meinungsdiktatur. Sie sprechen sich für die Südtiroler Autonomie aus, für kleine Agrarbetriebe, für die Stärkung des Bargeldes, für ein vorschlagendes Referendum seitens der Bürger/-innen, für leistbares Wohnen, und für zweisprachige Schul- und Kindergartenangebote (vgl. Vita 2023). Vita tritt also relativ klassisch mit Partei- und Wahlprogrammen an und zeigt sich mit einem breiteren Themenspektrum nicht nur als single issue impfkritische Partei, wenngleich Fragen der Indivi­dualität und Selbstbestimmung den roten Faden im Parteiprogramm bilden.

JWA, unter der Führung des Ex-Schützenkommandanten Jürgen Wirth Anderlan, dessen Initialen auch den Parteinamen bilden, präsentiert sich dagegen ohne Parteiprogramm im klassischen Sinn; laut Homepage wollen sie stattdessen „klare Lösungen“ anbieten. Diese Lösungsansätze sind nach Themen gegliedert, darunter u. a. „Selbstbestimmung“ (persönlich und für Südtirol), „Überfremdung stoppen“ (gegen Migration), und „Coronaverbrecher anklagen“ (Anklage der politisch Verantwort­lichen und Einrichtung eines Hilfsfonds für die „Opfer der Coronapolitik“). Sie fordern zudem die Direktwahl des Landeshauptmannes (explizit nicht gegendert), die Möglichkeit, individuell ohne Partei zu kandidieren, regionale Kompetenzen bei der Strafverfolgung, einen zweijährigen Erziehungs- und Pflegelohn für Eltern, ein verpflichtendes Arbeitsjahr für alle Jugendlichen, tägliche Sportstunden, ein Schulfach „Heimatschutz“, sowie eine Abschaffung der Pflichtimpfungen für Kinder. Auch ein Ausverkauf der Heimat durch Massentourismus, leistbares Wohnen, sichere Indi­vidualmobilität, Impffreiheit, ganzheitliche Gesundheitserziehung, Abbau der Bediensteten in der Landesverwaltung, und die Dezentralisierung Europas als Gegenmodell zur EU werden thematisiert (vgl. JWA 2023).

Zwischen den beiden impfkritischen Parteien zeigen sich also durchaus Unterschiede, was das Auftreten (klassisches Parteiprogramm vs. „Lösungen“) und die Verankerung im traditionellen politischen Betrieb ergibt. Beide gelten nicht als reine single issue parties, haben aber als zentralen Dreh- und Angelpunkt ihrer Forderungen die Selbstbestimmung des Einzelnen, die Impffreiheit und die Aufarbeitung der Corona-Politik. Die weiteren politischen Forderungen nehmen im Vergleich zu diesen Themen eine Nebenrolle ein. In der inhaltlichen Ausrichtung gibt es kleinere Unterschiede (z. B. die Haltung zur mehrsprachigen Schule in Südtirol), die Rhetorik von JWA ist weniger politisch professionell und mehr gezielt flapsig „volksnah“ gehalten, bei den meisten Themen (Autonomie, Sicherheit, Bargeld, Gesundheit) herrscht aber Einigkeit. Die wichtigsten populistischen Wesensmerkmale sind bei beiden Parteien erfüllt: „Berufung auf den common sense, Anti-Elitarismus, Anti-Intellektualismus, Antipolitik, Institutionenfeindlichkeit sowie Moralisierung, Polarisierung und Personalisierung der Politik“ (Priester 2012). Vita und JWA sprechen ein sich in vielerlei Hinsicht überschneidendes Zielpublikum an, und sind daher auch im politischen Wettbewerb als direkte Konkurrentinnen und Konkurrenten zu sehen. Bei JWA kommt ein starker volkstumspolitischer und rechtspatriotischer ­Fokus hinzu, der auch mit ein Grund für die Stärke der Partei z. B. im Ulten- und Passeiertal sein dürfte: Hier ist auch die Südtiroler Freiheit sehr stark, die diese Themen ebenfalls in den Vordergrund stellt. Bei den Parlamentswahlen 2022 war Vita noch die einzige direkt impfkritische Wahlalternative, bei den Landtagswahlen 2023 zeigte sich auch in den Wahlergebnissen der Wettbewerb zwischen den beiden Kräften, die schlussendlich beide (wenn auch in unterschiedlicher Stärke) eine Landtagsvertretung erreichen konnten.

4. Die Parlamentswahlen 2022 und die Landtagswahlen 2023 im Vergleich

Der nächste Teil dieses Artikels beschäftigt sich mit dem Abschneiden der Parteien Vita und JWA bei den Parlamentswahlen 2022 und den Landtagswahlen 2023. Die Liste Vita war bei beiden Wahlen vertreten, JWA nur bei den Landtagswahlen 2023. Ihr Spitzenkandidat Jürgen Wirth Anderlan hatte sich aber im Vorfeld als Gallionsfigur der Südtiroler Corona-Proteste profiliert, und offenbarte seine Anti-Establishment Haltung auch durch eine rege Social Media Präsenz. Die oben diskutierten wissenschaftlichen Arbeiten zum Thema deuten auf einen Zusammenhang zwischen vaccine hesitancy, mangelndem politischen Vertrauen und Wahlentscheidungen hin. Ziel des folgenden Abschnittes ist es daher, diesen Zusammenhang für das Fallbeispiel Südtirol genauer zu untersuchen. Aufgrund des begrenzten Rahmens können nicht alle Südtiroler Gemeinden untersucht werden, eine Auswahl wurde daher auf Basis vorhandener Daten zu vaccine hesitancy getroffen. Die Durchimpfungsraten in den Gemeinden wurden bis November 2021 in regelmäßigen Abschnitten von der Tageszeitung „Dolomiten“ veröffentlicht; die letzte verfügbare Infografik bildet die Daten zum 14.11.2021 ab und wurde am 18.11.2021 publiziert (vgl. Dolomiten 2021). Als Auswahlkriterium für eine Aufnahme einer Gemeinde in die Analyse diente eine Rate von mindestens 30 Prozent Ungeimpften bei der Bevölkerung unter 60 Jahren. Folgende Gemeinden erfüllten diese Voraussetzung:

Ein Blick auf die Verteilung der Gemeinden zeigt, dass es sich um rurale Gegenden handelt; die in der internationalen Literatur zum Thema identifizierten Wahrscheinlichkeiten für höhere Präsenz von vaccine hesitancy sind also auch in Südtirol erfüllt. Auch die Sprachgruppe als beeinflussende Eigenschaft zeigt sich. Es handelt sich dabei um mehrheitlich von deutschsprachigen Südtirolerinnen und Südtirolern bewohnte Gemeinden. Geographisch ist eine Clusterbildung vor allem in den westlichen Landesteilen zu beobachten, mit dem Ulten- und Passeiertal als „Hochburgen“ der vaccine hesitancy. St. Pankraz und Moos in Passeier weisen die höchsten Zahlen an Ungeimpften auf, hier war im November 2021 noch fast die Hälfte der Bevölkerung unter 60 Jahren ungeimpft, also zu einem Zeitpunkt, als Impfstoffe durchaus schon flächendeckend verfügbar waren. Ein Blick auf die möglichen Gründe für vaccine hesitancy lässt convenience, also Verfügbarkeit, als auslösende Ursache hier unwahrscheinlich erscheinen; es dürfte sich eher um ein Problem mit Vertrauen (confidence) handeln. Fachkräfte aus dem Gesundheitsbereich genießen meist größeres Vertrauen als politische Entscheidungsträger/-innen, und üben somit auch ­Einfluss auf Impfentscheidungen aus. Im Passeiertal waren 2021 laut Angaben des Bürgermeisters drei der fünf Hausärztinnen und Hausärzte selbst ungeimpft, es ist also wahrscheinlich, dass hier auch das medizinische Fachpersonal nicht zum Ver­trauens­auf­bau beigetragen hat (vgl. Rufin 2021).

Legt man nun die Quoten an Ungeimpften pro Gemeinde und die Wahlergebnisse bei den Parlamentswahlen 2022 (Kammer und Senat) übereinander, zeigt sich eine deutliche Korrelation zwischen vaccine hesitancy in den Gemeinden und dem guten Abschneiden der Liste Vita. (Abb. 2)

Vita kann also durchaus Erfolge verzeichnen, die Ergebnisse liegen in der Kammer meist über jenen im Senat und erreichen in fast allen Gemeinden über 10 Prozent, vielfach sogar 10 – 20 Prozent und in St. Pankraz 25,83 Prozent. St. Pankraz ist auch die Gemeinde mit der höchsten Rate an Ungeimpften insgesamt, hier verdeutlicht sich also der Zusammenhang von vaccine hesitancy und Wahlverhalten. Besonders eindrucksvoll ist das Südtiroler Ergebnis von Vita, wenn man es mit dem Ergebnis der Partei auf gesamtstaatlicher Ebene vergleicht: In Abgeordnetenkammer und Senat konnte man nur jeweils 0,7 Prozent der Stimmen auf sich vereinen (vgl. La Repubblica 2022); in der Provinz Bozen waren es dagegen insgesamt 6 Prozent (vgl. Il Fatto Quotidiano 2022). Südtirol wird seinem Ruf als Hochburg der ­vaccine hesitancy also auch im gesamtstaatlichen Vergleich des Wähler/-innenverhaltens bei den Parlamentswahlen 2022 gerecht.

Vergleicht man die Wahlergebnisse von Vita bei den Parlamentswahlen 2022 mit jenen bei den Landtagswahlen 2023 wird deutlich, dass es Verluste in den von ­vaccine hesitancy geprägten Gemeinden gibt. Zurückzuführen ist dies wohl weniger auf einen generellen Stimmungswandel im Land, was das Thema vaccine hesitancy betrifft, als auf eine starke Mitbewerberin um die Stimmen der Impfskeptiker/-innen, die zudem noch mit volkstumspolitischen Themen punkten konnte, nämlich die Liste JWA (Abb 3).

Vita konnte ihre Wahlergebnisse aus den Parlamentswahlen 2022 in den meisten Gemeinden nicht verteidigen; ein vergleichender Blick auf die Ergebnisse von JWA lässt vermuten, dass es Wähler/-innenströme von Vita zu JWA gegeben hat (Abb 4).

In den meisten von vaccine hesitancy geprägten Gemeinden lässt JWA Vita deutlich hinter sich, eine Ausnahme bildet die Gemeinde St. Christina. In einer ladini­schen Gemeinde dürfte sich die Dominanz von JWA in der deutschen Sprachgruppe weniger auswirken bzw. es vielleicht eher eine Präferenz für eine gesamtstaatlich aktive Partei geben. Besonders auffallend ist der Unterschied zwischen JWA und Vita in der „impffaulsten“ Gemeinde St. Pankraz, wo Vita nur noch 3,9 Prozent der Stimmen erreicht, JWA aber 21,6 Prozent. JWA konnte somit wohl viele Wähler/-innen von Vita (25,83 Prozent für die Abgeordnetenkammer 2022) für sich überzeugen. Hinzu kommt ein großes rechtspatriotisches Wähler/-innenpotential, das sich auch im starken Abschneiden der Südtiroler Freiheit äußert; auch bei dieser Wähler/-innengruppe konnte JWA wahrscheinlich punkten. Der Frage nach mög­lichen Gründen für den Wechsel von Vita zu JWA müsste in einer Wähler/-innen­befragung nachgegangen werden. Es lässt sich vermuten, dass es mit der Präferenz zusammenhängt, bei Wahlen auf Regionalebene einer regionalen anstatt einer gesamtstaatlichen Partei seine Stimme zu geben. Zudem war Jürgen Wirth Anderlan im Wahlkampf sehr sichtbar, unter anderem auch in den sozialen Medien, und konnte neben der Anti-Establishment Haltung auch populistische Positionierungen zum Thema Migration für seine Zwecke nutzen. Vita ist demnach in der öffentlichen Wahrnehmung wohl eher eine impfkritische single issue party als JWA, und die ­Relevanz des Themas Impfen und Corona hat mit dem Ende der akuten Pandemiephase ebenfalls abgenommen.

Abschließend lässt sich also für die Fallstudie Südtirol ein Zusammenhang zwischen vaccine hesitancy und Wahlverhalten feststellen; die besonders impfkritischen Gemeinden wie z. B. St. Pankraz weisen auch besonders gute Wahlergebnisse für impfkritische Parteien auf, dies gilt sowohl für die Parlamentswahlen 2022 als für die Landtagswahlen 2023. Während Vita bei den Parlamentswahlen 2022 in Südtirol weit deutlich mehr Relevanz erreichen konnte als auf gesamtstaatlicher Ebene, konnte die Partei diesen Erfolg 2023 bei den Landtagswahlen nicht mehr wieder­holen. Viele der Vita Wähler/-innen dürften für eine regionale Wahl zu einer regionalen Alternative gewechselt sein, dargestellt von der Liste JWA. Obwohl die bei den Parlamentswahlen erreichten 6 Prozent der Stimmen fast halbiert wurden, bedeuteten 2,59 Prozent der Stimmen ein Landtagsmandat für Renate Holzeisen von Vita. Gepaart mit der Stärke von JWA, die zwei Mandate erreichen konnte, zeigt dies, dass es in Südtirol weiterhin ein beachtliches Wähler/-innenpotential für impf- und systemkritische Parteien gibt. Sowohl Vita als auch JWA haben sich in der Zwischenzeit breiter aufgestellt und vertreten neben Selbstbestimmung und Impffreiheit auch andere Themen. Programmatisch gibt es dabei viele Gemeinsamkeiten und ­einige wenige Unterschiede. Dennoch dürfte der ausschlaggebende Grund für eine Wahlentscheidung für JWA und Vita eine klassische Protestwahl gewesen sein, die vaccine hesitancy und die damit verbundenen Merkmale (Anti-System-Haltung, mangelndes Vertrauen in politische Entscheidungsträger/-innen, Wunsch nach Aufarbeitung der Corona-Jahre usw.) in den Mittelpunkt des politischen Interesses gestellt hat.

5. Schlussfolgerungen

Die Jahre der Corona-Pandemie haben europaweit auch politische Spuren hinterlassen, und Südtirol bildet hier keine Ausnahme. Die aus der Hochphase der Pandemie bekannten Demonstrationen der Impfgegner/-innen sind zwar mittlerweile abgeebbt, aber der Wunsch nach Aufarbeitung der Gesundheitspolitik der letzten Jahre dürfte weiterhin ein wichtiges Kriterium für die Wahlentscheidung vieler Personen sein. Auf gesamtitalienischer Ebene wird das Thema auch medial nur noch wenig diskutiert, und impfkritische Parteien können kaum Wähler/-innen für sich gewinnen, wie das Ergebnis von Vita (0,7 Prozent) bei den Parlamentswahlen 2022 zeigt. Die weiter gefassten populistischen Elemente decken im gesamtitalienischen Raum bereits Fratelli d’Italia und die Lega in ausreichendem Maße ab, und so wäre eine hohe Rele­vanz des Impfthemas ein wichtiges Distinktionsmerkmal für Vita; nach einer solchen Entwicklung sieht es im italienischen Vergleich aber derzeit nicht aus.

Ganz anders präsentiert sich die Situation in Südtirol. Hier sind im neu gewählten Landtag mit Vita und JWA gleich zwei Listen vertreten, deren Kernthemen Impffreiheit bzw. die Ablehnung der Corona-Schutzmaßnahmen sind. In der Zusammenschau mit dem Wahlerfolg der Südtiroler Freiheit und der Fratelli d‘Italia zeigt sich, dass es hier durchaus ein großes Wähler/-innenpotential für populistische Themen gibt, und dass insbesondere auch die Aufarbeitung der Pandemie und die Selbstbestimmung in unterschiedlichen Ausprägungen Themen sind, die einen Teil der Wähler/-innenschaft ansprechen. Neben den immer vertretenen klassischen Protestwählerinnen und Protestwählern weist Südtirol also eine gesellschaftliche Gruppe auf, deren Wahlverhalten und Wahlentscheidung von vaccine hesitancy stark beeinflusst wird. Interessant ist dabei, dass es eine Clusterung nach Landesteilen (v. a. im Westen, Ulten- und Passeiertal) und nach rural und deutschsprachig geprägten Gemeinden gibt. Vergleicht man dies mit den Daten aus Deutschland und Österreich, so zeigt sich ein ähnliches Bild. Es wäre für zukünftige Studien gewinnbringend, für Südtirol noch weitere Variablen wie Bildungsgrad und sozioökonomischen Status in die Analyse zu integrieren, um darstellen zu können, ob es auch hier Paralle­len zu den Nachbarstaaten des deutschen Sprachraums gibt. Der Faktor Sprache spielt für Südtirol bei den meisten politischen Entscheidungsprozessen eine wichtige Rolle, und so verwundert es nicht, dass vaccine hesitancy zwischen den unterschiedlichen Sprach- und Kulturräumen unterschiedlich ausgeprägt ist. Dies dürfte auch am verschiedenen Medienkonsum liegen, an der im deutschen Sprachraum verbreiteten Impfskepsis, mystifizierten Naturerhöhung und Wissenschafts­kritik, die sich auch in Südtirol ablesen lässt – sowohl in den niedrigen Impfraten bei anderen Impfungen als auch bei jenen gegen Covid-19.

Es besteht also ein Zusammenhang zwischen vaccine hesitancy und Wahlverhalten; ausschlaggebend ist neben dem Thema Selbstbestimmung wohl vor allem die Variable Vertrauen. Vertrauen ist sowohl für politische Entscheidungen als auch für die Entscheidung, sich einer Impfung zu unterziehen oder diese zu verweigern, zentral. Mangelndes Vertrauen in politische Entscheidungsträger/-innen führt also zu vaccine hesitancy, und eben dieser Vertrauensmangel und die Impfzögerlichkeit ­zeigen sich anschließend als wichtige Determinanten für die Wahlentscheidung für eine impfkritische Partei, die meistens auch ein gewisses Maß an Staats- und System­kritik in ihrem Programm führt. Während man die anderen auslösenden Faktoren für vaccine hesitancy mit Public Health Maßnahmen eher niedrigschwellig beeinflussen kann (z. B. durch die einfache Verfügbarkeit von Impfangeboten) ist der Aufbau von Vertrauen ein langfristiger und schwieriger Prozess; dies gilt sowohl im Gesundheits- als auch im Politikbereich. Ansätze zur Förderung der Gesundheitskompetenz (Health Literacy) könnten einen Startpunkt darstellen, um Verschwörungserzählungen und Wissenschaftsfeindlichkeit zu überwinden, und in einem zweiten Schritt so auch die dadurch beeinflusste vaccine hesitancy zu minimieren. Auch hierzu wäre es, ebenso wie für die Analyse der Wahlergebnisse, zielführend, die Zielgruppe der Impfskeptiker/-innen und ihre weiteren demographischen Merkmale genauer zu kennen und ihre Einstellungen auch in vertiefenden qualitativen Untersuchungen zu erheben.

Die impfkritischen Parteien Vita und JWA konnten in Südtirol bei den Parlamentswahlen 2022 und den Landtagswahlen 2023 Erfolge erzielen. Während ein Sitz im Parlament nicht erreicht werden konnte, sind beide Listen nun im neu gewählten Südtiroler Landtag vertreten. Über die dortige parlamentarische Arbeit der nächsten Jahre wird sich zeigen, ob die Parteien neben ihren Kernthemen Impf­freiheit und Selbstbestimmung auch noch weitere Themenbereiche erfolgreich besetzen können. Für ein politisches Fortbestehen der Bewegungen wird eine solche thematische Verbreiterung notwendig sein, da die Relevanz des Corona- und Impf­themas wohl auch im impfkritischen Südtirol mit zunehmendem Zurückliegen der Pandemie abnehmen wird. JWA versucht bereits, sich mit anderen populistischen Kernthemen wie z. B. der Ablehnung einer geschlechtergerechten Sprache in einen breiteren politischen Fokus zu rücken. Ob damit eine langfristige Verortung im politischen System Südtirols erreicht werden kann, wird die nächste Legislatur zeigen. Ähnliches gilt für Vita, die als gesamtitalienische Liste auf den volkstumspoli­tischen Fokus von JWA verzichtet, und u. a. auch eine zweisprachige Unterrichtsmöglichkeit fordert. Ob einer sprachgruppenübergreifenden populistischen Bewegung eine Profilierung im an Populistinnen und Populisten beider Sprachgruppen nicht armen Landtag gelingt, ist ebenfalls abzuwarten.

Abb. 1: Ungeimpfte in Prozent pro Gemeinde (14.11.21)

Quelle: Eigene Darstellung nach Daten aus der Tageszeitung „Dolomiten“ vom 18.11.2021

Abb. 2: Ungeimpfte und Wahlergebnisse der Liste Vita nach Gemeinden, Parlaments­wahlen 2022 (Abgeordnetenkammer und Senat)

Quelle: Eigene Darstellung nach Daten aus dem neuen Südtiroler Bürgernetz 2022 und Daten aus der Tageszeitung Dolomiten vom 18.11.21

Abb. 3: Wahlergebnisse Vita Parlamentswahlen 2022 und Landtagswahlen 2023

Quelle: Eigene Darstellung nach Daten aus dem neuen Südtiroler Bürgernetz 2022; 2023

Abb. 4: Wahlergebnisse Vita und JWA, Landtagswahlen 2023

Quelle: Eigene Darstellung nach Daten aus dem neuen Südtiroler Bürgernetz 2023

Anmerkungen

1 Im 5C-Modell von Betsch et al. (2018) ist nicht von convenience, sondern von constraints, also von Hürden, die Rede; es handelt sich um denselben Faktor, der aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchtet wird.

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