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Sarah Oberbichler

Frauenrepräsentation in der Politik

Zwischen deskriptiver und substanzieller Vertretung in der ­Südtiroler Landespolitik (1964–2023)

Women in Politics

Between Descriptive and Substantive Representation in South Tyrolean Regional Politics (1964–2023)

Abstract Although women participate in elections as frequently as men today, they remain underrepresented in political offices. The same is true for the political landscape in South Tyrol. Despite the introduction of a gender quota in 2013, which mandates a minimum of one-third representation for both genders on candidate lists in elections, the proportion of women elected to the South Tyrolean Provincial Parliament remains just below 30 percent. This study investigates women’s representation in South Tyrolean politics, emphasizing the gap between formal gender equality and actual representation. By analyzing election results from 2008 to 2023 (with retrospective references to 1964) and parliamentary records from 1995 to 2023, using both quantitative and qualitative methods, the research delves into the interplay ­between descriptive (quantitative) and substantive (qualitative) representation. The central focus of the analysis is on the interplay between descriptive and substantive representation.

The study concludes that no definitive correlation between descriptive and substantive representation surfaces and emphasizes the central role of the political context. The legislative period beginning in 2013 can be seen as a turning point for the substantive representation of women in South Tyrol, characterized by the introduction of the gender quota, the loss of the absolute majority of the South Tyrolean People’s Party and a newly voted provincial ­governor.

1. Einleitung

Die Gleichstellung von Männern und Frauen bezüglich des Wahlrechts wurde in ­Italien und somit auch Südtirol 1946 erreicht, deutlich später als in den benachbarten Ländern Österreich oder Deutschland, wo dies bereits 1919 gelang (Boukrif 2006, 271). In Südtirol vergingen daraufhin weitere 18 Jahre, bis die ersten beiden Frauen, Waltraud Gebert Deeg und Lidia Menapace, in den Landtag gewählt wurden.< Zwischen 1968 und 2023 zogen lediglich weitere 33 Frauen in den Landtag ein (Süd­tiroler Landtag 2023), womit in Südtirol bis heute eine starke Diskrepanz zwischen formal-rechtlicher Gleichheit und realer Gleichheit besteht. Obwohl Frauen heute genauso häufig an Wahlen teilnehmen wie Männer, sind Frauen in politischen Ämtern nach wie vor unterrepräsentiert (Beirat für Chancengleichheit et al. 2022; Südtiroler Landtag 2023). Durch die Einführung der Geschlechterquote 2013 müssen zwar beide Geschlechter mit mindestens einem Drittel in den Listen der Kandidaten und Kandidatinnen vertreten sein (Landesgesetz 2017), trotzdem stagniert der Frauen­anteil, der in den Südtiroler Landtag gewählt wird, knapp unter der sogenannten kritischen Masse von 30 Prozent. Südtirol ist hier kein Sonderfall, vergleichende europäische Untersuchungen haben nicht nur in Italien, sondern auch in Deutschland, Österreich oder Großbritannien eine Stagnation bzw. geringe Fortschritte bei der Frauenrepräsentation in der Politik mit Beginn des 21. Jahrhunderts festgestellt, wobei Frauen in der Regionalpolitik noch grundsätzlich besser repräsentiert sind als in der Landespolitik (European Commission 2008).

In vielen Ländern bleiben Frauen in der Politik also nach wie vor unterrepräsentiert. In der Geschlechterforschung werden für dieses Phänomen mehrere Faktoren angeführt. Einerseits wird die historische Trennung zwischen Politik und Privatem und ihre Zuordnung nach Geschlecht genannt (Kreissl/Sauer 2017, auch die Situation der Frau selbst. Diese Erklärungsfaktoren finden sich auch in Inter­views, die 2023 mit Südtiroler Politikerinnen geführt wurden, wieder. Neben mangelnder Vereinbarkeit von Familie und Beruf und fehlenden weiblichen Vorbildern werden nach wie vor herrschende stereotype Rollenbilder als Gründe für die fehlende Repräsentation von Frauen in der Politik genannt . Bereits 1998 hatte Beate Hoecker ( in diesem Zusammenhang von ­einem „magischen Dreieck“ gesprochen, wodurch ein Zusammen­spiel der sozio­ökonomischen, institutionellen und kulturellen Faktoren die Unterrepräsentation von Frauen bedinge. Iris Marion Young hat darüber ­hinaus die ungerechten Machtverhältnisse, die zur Unterrepräsentation von Frauen führen, in „five faces of oppression“ (ökonomische Ausbeutung, sozioökonomische Marginalisierung, fehlende Autonomie über die eigene Arbeit, kultureller Imperialismus und systematische Gewalt) unterteilt.

Vergleichende Untersuchungen zur politischen Partizipation von Frauen in ­Europa ergaben zudem, dass ein wesentlicher Einflussfaktor im Rollenverständnis der Frau in einer Gesellschaft zu suchen ist. So weisen Staaten mit egalitärer Einstellung (z. B. nordische Staaten) eine höhere Frauenpartizipation auf als Staaten mit eher patriarchaler Einstellung (Hoecker 2008; Regalia 2021). Gesetzliche Regelungen können einen Einfluss auf die Geschlechtergleichstellung nehmen. So hat Frankreich zum Beispiel den Frauenanteil auf regionaler Ebene stark erhöht (auf rund 50 Prozent), seit 2004 ein Hybridsystem (Kombination aus Mehrheitswahlrecht und Verhältniswahlrecht) angewandt wird, das zu einer erfolgreichen Umsetzung der Rechtsvorschriften zur Förderung der Geschlechtergleichstellung bei Wahlen geführt hat (European Commission 2008). Das Beispiel Italien zeigt jedoch, dass trotz Förderung der Geschlechtergleichstellung Frauen in Spitzenpositionen, auch auf regionaler Ebene, unterrepräsentiert bleiben (Biancalana/Regalia 2014). Zwar gibt es starke regionale Unterschiede, im Jahr 2022 waren Frauen in den Regionen jedoch durchschnittlich mit knapp 30 Prozent vertreten. Dabei fehlt es nicht an Frauen, die an politischen Positionen interessiert sind. In den italienischen Gemein­den hatten Frauen 2022 einen Anteil von 51 Prozent (Ministero dell’Interno 2022).

Was sich in der Frauenrepräsentation seit 1946 in Südtirol getan hat, welche gesetzlichen Grundlagen für einen Geschlechterausgleich in der Südtiroler Politik geschaffen wurden und wie Fraueninteressen vom Südtiroler Landtag vertreten werden, sind die zentralen Fragen, die diesem Beitrag zugrunde liegen. In diesem Zusammenhang wird neben der deskriptiven (quantitativen) auch die substanzielle (qualitative) Repräsentation von Frauen untersucht. Als Grundlage für die quantitativen und qualitativen Analysen dienen Ergebnisse der Südtiroler Landtagswahlen sowie parlamentarische Akten (Anfragen und Beschlussanträge) des Südtiroler Landtages. Hierbei werden Ergebnisse der Landtagswahl im Oktober 2023 mit Ergebnissen früherer Landtagswahlen verglichen. Die Auswertung der parlamentarischen Akten zielt darauf ab, Fraueninteressen in politischen Diskussions- und Entscheidungsprozessen zu ermitteln. Das Interesse liegt hierbei darauf, wie sich das Zusammenspiel zwischen deskriptiver und substanzieller Repräsentation gestaltet. Dabei wird von der These ausgegangen, dass sich Frauen in der Politik häufiger als Männer mit frauenspezifischen Themen auseinandersetzen und dadurch mehr weibliche Abgeordnete auch zu einer besseren Vertretung von Fraueninteressen in landesparlamentarischen Initiativen führen.

2. Frauenrepräsentation in der Politik

Mit seinen Institutionen, aber auch mit seinen Entscheidungen und Instrumenten konstruiert das politische System „Geschlechter“, das heißt benachteiligte Weiblichkeit und bevormundete Männlichkeit. Die Präsenz der Frau in der Politik wird durch ein Zusammenspiel „männlich“ geprägter politischer Strukturen einerseits und Haltung der Gesellschaft andererseits beeinflusst (Sauer 2001, 52–53). In der Geschlechterforschung wird dabei von deskriptiver (quantitativer) und substanzieller (qualita­tiver) Repräsentanz von Frauen unterschieden (Wiechmann 2018). Deskriptive Repräsentation in der Politik meint die Anzahl von Frauen, die politische Ämter ausführen. Die Forschung zur deskriptiven Repräsentation fragt nach Trends und Gründen für die Unterrepräsentation von Frauen. Mit substanzieller Repräsentation von Frauen hingegen steht die Repräsentation von Interessen, die von oder für ­Frauen formuliert werden, im Vordergrund. Was Fraueninteressen sind, lässt sich objektiv nur schwer beantworten, jedoch kommen verschiedene empirische Kon­zepte zu ähnlichen Schlussfolgerungen: Themen wie Gleichbehandlung und Gleich­bezahlung von Arbeit, Betreuung von Angehörigen und Kindern, häusliche Arbeit sowie Gewalt gegen Frauen repräsentieren Fraueninteressen, da deren politische Umsetzung auf Frauen einen signifikant höheren Effekt haben als auf Männer. Umso stärker Fraueninteressen in bindende Entscheidungen, Gesetze oder Programme einfließen (Agenda Setting, Politik-Formulierung) und wirkungsvoll umgesetzt werden (Politik-Implementation), umso höher die substantielle Repräsentation ­(Blome/Fuchs 2017).

Ob eine größere Anzahl von Frauen in der Politik tatsächlich auch zu entsprechenden Policy-Outputs führt, ist in der momentan vorherrschenden Forschungs­literatur umstritten. Eine Studie aus Norwegen zeigt etwa eindeutige Korrelationen zwischen der Präsenz von Frauen in der Politik und konkreten politischen Ergebnissen auf. Untersucht wurden die Zusammenhänge zwischen deskriptiver Repräsentation und Einführung von Kinderbetreuungsangeboten. Die Studie kam zum Schluss, dass eine verbesserte Geschlechterrepräsentation in Norwegen positive Auswirkungen auf die Umsetzung von Kinderbetreuungsangebote hatte. Dieser positive Effekt hätte sich vor allem dann gezeigt, als Kinderbetreuung noch kein etablierter Sektor in Norwegen war, also in Zeiten der politischen Innovation (Bratton/Ray 2002). Eine andere Studie aus Deutschland aus dem Jahr 2011 wiederum resümierte, dass es zu keiner Steigerung von Fraueninteressen in Anträgen oder Gesetzesentwürfen komme, wenn mehr Frauen im Parlament säßen. Zwar hätten Frauen andere Interessen gezeigt als männliche Kollegen, zu welchem Grad sie diese Interessen aktiv einbringen können, liege jedoch weniger an der deskriptiven Repräsentation, sondern am politischen Kontext (Brunsbach 2011).

Unabhängig davon, ob mehr Frauen in der Politik den Fokus auf Fraueninteressen erhöhen, stärkt die sichtbare Präsenz von Frauen in der Legislative das Vertrauen der Frauen in den Gesetzgebungsprozess. Die Hypothese lautet hier, dass sich Wählerinnen und Wähler eher mit der Politik identifizieren und ihren Entscheidungen vertrauen, wenn sie sich in der Legislative vertreten sehen (Schwindt-Bayer/Mishler 2005). Und zuletzt muss auch hervorgehoben werden, dass die Implementation von Fraueninteressen im Alltag nicht nur von der Politik abhängt. Agnes Blome und Gesine Fuchs (2017) sehen etwa große Macht- und Einflusschancen von Frauen in Führungspositionen der Exekutive.

Ein weiterer Faktor in Analysen zur Frauenrepräsentation ist die sogenannte „kritische Masse“. So definiert die Europäische Kommission etwa eine kritische Masse von 30 Prozent Frauenanteil als Schwelle, um überhaupt einen Einfluss auf die Politik ausüben zu können (European Commission 2008). Ein Überschreiten dieser Schwelle verteile, so Schwindt-Bayer und Mishler der Frauen allmählich auf alle Mitglieder der Versammlung, was zu einer schnelleren Reaktion auf die politischen Anliegen der Frauen führe. Diese Hypothese wird auch von unterstützt.

3. Gesetzlicher Rahmen zu Genderpolitik und Geschlechterquote in Südtirol

Jenseits von repräsentationstheoretischen Diskursen gibt es noch weitere Anknüpfungspunkte für die Umsetzung einer angemessenen Frauenrepräsentation in der Politik. Ein erster Anknüpfungspunkt ist die Verfassung der Republik Italien, gefolgt vom Südtiroler Autonomiestatut. Die Verfassung der Republik Italien sieht ­neben der gleichen Würde ohne Unterschied des Geschlechtes (Art. 3) einen gleichberechtigten Zugang zu den Wahlmandaten vor (Artikel 51 Absatz 1). Artikel 51 Absatz 1 wurde 2003 ergänzt und lautet wie folgt:

„Alle Staatsbürger beiderlei Geschlechts haben unter gleichen Bedingungen gemäß den vom Gesetz bestimmten Erfordernissen das Recht auf Zutritt zu den öffentlichen Ämtern und zu den durch Wahl zu besetzenden Stellen. Daher fördert die Republik die Chancengleichheit von Frauen und Männern durch spezifische Maßnahmen.“ (Verfassung der Republik Italien 1948, Art. 51)

Mit dem Autonomiestatut von 1972 wurden ebenfalls paritätische Bestimmungen für die Teilnahme an Wahlen und eine ausgewogene Vertretung beider Geschlechter in Südtirol festgelegt (Dekret des Präsidenten der Republik 1972). Ein weiteres Gesetz für die Gleichstellung von Frauen und Männern „in allen gesellschaftlichen ­Bereichen“ (Landesgesetz 2010, Art. 1) verabschiedete Südtirol 2010, initiiert durch die SVP-Politikerin und Vorreiterin in Sachen Chancengleichheit, Martha Stocker (Landesgesetzentwurf 2009). Im Mai 2013, in Vorbereitung auf die Landtagswahlen im Oktober 2013, wurde schließlich ein Wahlgesetz zur Wahl des Südtiroler Landtages verabschiedet, mit dem zum ersten Mal eine Geschlechterquote eingeführt wurde. Dieses Gesetz ging 2017 in das Landesgesetz vom 19.09.2017 Nr. 14 über, das nun für alle weiteren Wahlen eine Grundlage bildet. Im Sinne der Geschlechtergleichheit wird in diesem Wahlgesetz geregelt, dass nicht mehr als zwei Drittel der Listenkandidaturen von einem der beiden Geschlechter belegt sein darf:

„Jede Liste mit Kandidaten für das Amt des Landtagsabgeordneten muss eine Anzahl von Kandidaten enthalten, die nicht geringer als 12 und nicht höher als 35 ist. Die Kandidatenliste muss Vertreter beider Geschlechter umfassen. In jeder Kandidatenliste darf keines der beiden ­Geschlechter mehr als zwei Drittel der Kandidaten stellen, wobei ­even­tuelle Bruchteile auf die nächste Einheit auf- bzw. abgerundet ­werden.“ (Landesgesetz 2017, Art. 8)

Sollte eines der Geschlechter mehr als zwei Drittel ausmachen, „werden die Kandidaten des überrepräsentierten Geschlechts von der Liste gestrichen“ (Landesgesetz 2017, Art. 16). Des weiteren wurde festgelegt, dass auch in der Landesregierung beide Geschlechter vertreten sein müssen, wobei der „Anteil des unterrepräsentierten Geschlechts […] mindestens im Verhältnis zu seiner Stärke im Landtag“ (Landes­gesetz 2017, Art. 67) sein muss. Im Jahr 2018 wurde zudem auch ein Regionalgesetz verabschiedet, das mitunter den Geschlechterausgleich im Gemeindeausschuss vorsieht, wobei der „Anteil des unterrepräsentierten Geschlechts […] mindestens im Verhältnis zu seiner Stärke im Gemeinderat garantiert werden“ muss (Regional­gesetz 2018, Art. 55). Außerdem wurde 2022 Art. 2 im Landesgesetz 2010 „Einrichtung und Ordnung des Rates“ so verändert, dass im Rat der Gemeinden künftig ­jedes Geschlecht mit mindestens einem Drittel der Mitglieder vertreten sein muss (Landesgesetz 2022, Art. 2).

4. Deskriptive Repräsentanz von Frauen in der Landespolitik

4.1 Frauen im Landtag und in der Landesregierung seit 1964

Frauen in Südtirol war bereits seit der ersten Legislaturperiode (1948–1952) formalrechtlich die politische Partizipation ermöglicht, auch wenn die Realität noch lange Zeit eine andere war. Den beiden Politikerinnen, Waltraud Gebert Deeg (Südtiroler Volkspartei) und Lidia Menapace (Democrazia Christiana), gelang der Einzug in den Landtag 1964, womit zum ersten Mal auch Frauen in der Südtiroler Landes­politik vertreten waren. Lidia Menapace war außerdem auch als erste Frau Mitglied der Südtiroler Landesregierung mit Zuständigkeit im Ressort „Soziale Fürsorge und Gesundheitswesen“. Beide Politikerinnen, die christlich-sozial geprägt waren, betraten ein bis dahin rein männliches politisches Umfeld, in dem soziale Fragen und insbesondere die Frage der Gleichberechtigung zwischen Frauen und Männern vom Kampf um die Autonomie überschattet waren. Zurecht können sie als Pionierinnen der Frauenpolitik in Südtirol gesehen werden. Insbesondere Waltraud Gebert Deeg, die fünf Legislaturperioden (siehe Abbildung 1) lang Abgeordnete im Südtiroler Landtag war, vertrat mit ihrem politischen Engagement im Sozialbereich die Interessen von Frauen. Sie gründete nicht nur die SVP-Frauenbewegung, sondern war auch Gründerin von „Frauen helfen Frauen“ (Mumelter/Clementi/Tragust 2021). ­Lidia Menapace schlug später einen anderen politischen Weg ein und wurde zu einer markanten Frauenrechtlerin auf nationaler Ebene (Noi donne 2009).

Nach den beiden Pionierinnen stieg die Anzahl der Frauen im Landtag langsam aber stetig an. 1973 zogen drei Frauen in den Landtag ein, 1978 waren es vier Frauen und 1983 waren Frauen schließlich mit 17 Prozent im Landtag vertreten (Abbildung 1). Eva Klotz (Wahlverband des Heimatbundes, Südtiroler Heimatbund, Union für Südtirol, Süd-Tiroler Freiheit), die erstmals 1983 im Südtiroler Landtag vertreten war, wurde in sieben aufeinanderfolgenden Legislaturperioden gewählt und ist somit die Landtagsabgeordnete mit der längsten Amtszeit. Die „kritische Masse“ von 30 Prozent Frauenanteil wurde zum ersten Mal, aber auch zum letzten Mal, im Wahljahr 2003 erreicht, als elf Frauen in den Landtag gewählt wurden. Seitdem stagniert der Frauenanteil im Südtiroler Landtag (jeweils zehn Frauen 2008 und 2013), in 2018 war die Tendenz sogar leicht rückläufig (neun Frauen). Bei den Landtagswahlen 2023 wurden wiederum zehn Frauen (29 Prozent) aus sieben verschiedenen Listen in den Landtag gewählt. Drei Frauen gehören der Südtiroler Volkspartei (SVP) an. Zum Vergleich: Im Jahr 2003 waren es noch sechs Frauen. Mit dem Verlust der absoluten Mehrheit der Südtiroler Volkspartei 2013 hat sich die Parteienvielfalt im Südtirol Landtag vergrößert (Atz/Pallaver 2019). Neben den Grünen/Verdi/Vërc, die für zwei Frauen Sitze sichern konnten, stellten die Freiheitlichen, Fratelli d’Italia, Vita, Die Süd-Tiroler Freiheit und Team K jeweils eine weibliche Landtagsabgeordnete.

Seit 1964 waren zudem lediglich sieben Frauen Mitglieder der Landesregierung, fünf davon gehörten der Südtiroler Volkspartei an. In der Legislaturperiode von 1998 bis 2003 waren mit Sabina Kaslatter Mur (Ressort: Deutsche und ladinische Schule und Berufsausbildung) und Luisa Gnecchi (Ressort: Arbeitswesen, italienische Schule und Berufsausbildung) das erste Mal zwei Frauen Teil der Landesregierung. Die Landesregierung blieb jedoch männlich dominiert, denn zu keiner Zeit waren mehr als zwei Frauen vertreten. Luisa Gnecchi (Centrosinistra/Mitte-Links) war in der Legislaturperiode 2003 bis 2008 außerdem die erste von insgesamt zwei Vizelandeshauptfrauen seit 1964. Erst zehn Jahre später folgte ihr Waltraud Deeg. Dabei fehlte es den Frauen nicht an Ausdauer; Zwei SVP Politikerinnen waren drei Legislaturperioden lang Mitglieder der Landesregierung, Waltraud Gebert Deeg von 1973 bis 1988 und Sabina Kaslatter Mur von 1998 bis 2013. Die Aufgabenverteilung innerhalb der Regierung entsprach und entspricht auch in Südtirol recht klassischen Rollenverteilungen. Weibliche Regierungsmitglieder waren vor allem für sozio­kulturelle Bereiche zuständig. Dazu gehören: Kultur, Schulwesen, Soziales und Familie. Männer hingegen übernahmen Bereiche wie Finanzen, Wirtschaft, Tourismus, Landwirtschaft oder Infrastruktur. Eine Ausnahme bildete Maria Hochgruber ­Kuenzer (2018 bis 2023), deren Zuständigkeit unter anderem im Bereich Infrastruktur (Ressort: Raumentwicklung, Landschaft und Landesdenkmalamt) lag (Südtiroler Landtag – Datenbanken und Sammlungen o. J.).

4.2 Kandidaturen bei den Südtiroler Landtagswahlen seit 2008

Mit dem Gesetz zur Wahl des Südtiroler Landtages vom Mai 2013 wurde, wie bereits in Kapitel 3 erläutert, zum ersten Mal eine Geschlechterquote für eine Landtagswahl eingeführt. Diese Quote sieht vor, dass sowohl Männer als auch Frauen mit mindestens einem Drittel (= 33 Prozent) auf den Listen vertreten sein müssen. Bei einem Maximum von 35 Listenplätzen (Minimum sind 12) müssen demnach mindestens zwölf Plätze an Frauen vergeben werden, falls diese in der Minderheit sind. Eine Gegenüberstellung der Listenkandidatinnen und Kandidaten bei den Landtagswahlen 2008, 2013, 2018 und 2023 (Abbildung 2) zeigt, dass der Frauenanteil seit 2008 um fast 10 Prozent gestiegen ist (von 31 Prozent auf knapp 41 Prozent), mit dem größten Sprung nach der Einführung der Quote 2013 (7 Prozent Anstieg im Vergleich zu 2008). Zwischen 2013 und 2018 gab es einen minimalen Rückgang (2 Kandidatinnen weniger als 2013), der aber statistisch kaum ins Gewicht fällt. 2023 gab es erneut einen Anstieg von über zwei Prozent im Vergleich zu 2018.

Die Gegenüberstellung der Listen von 2008 und 2023 nach Geschlecht verdeutlicht die Wirksamkeit der Geschlechterquote (Abbildung 3). Im Jahr 2008 wiesen neun von 15 Listen einen Männeranteil von 70 Prozent und mehr auf, wobei bei vier Listen dieser Anteil sogar über 80 Prozent lag. Im Jahr 2023 hingegen hatten die Freiheitlichen mit 67 Prozent den höchsten Männeranteil unter den an der Wahl teilnehmenden Parteien, während zehn von insgesamt 16 Parteien einen Frauen­anteil von über 40 Prozent vorzeigen konnten. Parteien, die bereits vor der Einführung der Geschlechterquote auf einen Ausgleich zwischen den Geschlechtern achteten, waren die Grünen/Verdi/Vërc sowie der Partito Democratico (PD).

Ein Zusammenhang zwischen ideologischer Ausrichtung und dem Anteil von weiblichen Kandidaturen kann nicht eindeutig festgestellt werden, aber es gibt Tendenzen. Parteien mit starkem Fokus auf soziale Gerechtigkeit legen auch Wert auf Geschlechterausgleich in ihren Listen. Das sind Parteien aus dem Mitte-Links Lager (z. B. Grüne/Verdi/Vërc oder Partito Democratico) sowie linke Parteien (z. B. Par­tito della Rifondazione Comunista oder Vereinte Linke). Am deutlichsten ist die konsequente und bewusste Umsetzung der Geschlechtergleichheit bei den Grünen/Verdi/Vërc. 2008 traten sie mit 48 Prozent Frauen bei den Landtagswahlen an, 2013 waren es 50 Prozent, 2018 und 2023 wiederum 48 Prozent.

Im Jahr 2023 zeichneten sich jedoch auch Forza Italia und die neu gegründete Liste JWA-Wirth Anderlan durch einen nahezu ausgeglichenen Geschlechteranteil auf ihren Wahllisten aus. Die Liste von Forza Italia bestand aus 10 Frauen und 10 Männern, die Liste von Wirth Anderlan aus 16 Frauen und 19 Männern, und das, obwohl er in der Öffentlichkeit selbst eine recht kritische Meinung zur „undemokratischen“ Geschlechterquote kundtat (Salto 2023). Auch bei den Freiheitlichen, die zwei Spitzenkandidatinnen vorzeigen können, traf die Geschlechterquote immer wieder auf Kritik. 2023 waren sie auch die einzige Partei, die die Geschlechter­quote von 33 Prozent nur durch Aufrunden erfüllen konnte. Anders als bei den Wahlen 2018 und 2013, als ihr Anteil von weiblichen Kandidaturen bei 40 bzw. 41 Prozent lag.

Die Südtiroler Volkspartei erfüllt seit der Einführung der Geschlechterquote mit jeweils 34 Prozent Frauenanteil (2013, 2018 und 2023) die Quote aber auch nicht mehr. Bei den Landtagswahlen 2023 hatte die Südtiroler Volkspartei nach den Freiheitlichen den geringsten Frauenanteil auf ihrer Liste. Interessant ist in diesem Zusammenhang auch, dass die SVP häufiger von Frauen als von Männern gewählt wird (Atz/Pallaver 2019).

4.3 Vorzugsstimmen für Frauen seit 2008

In Südtirol können Wählerinnen und Wähler bei den Landtagswahlen bis zu vier Vorzugsstimmen für Kandidatinnen und Kandidaten der angekreuzten Liste vergeben. Dabei gibt es, anders als etwa im Trentino, keine Regelung zur geschlechter­gerechten Vergabe der Vorzugsstimmen. Mehr Listenkandidatinnen haben insgesamt gesehen auch zu einer Zunahme von Vorzugsstimmen für Frauen geführt. Im Jahr 2008 erhielten beispielsweise Frauen 169.000 von 682.000 Vorzugsstimmen (25 Prozent), während es 2023 176.000 von 586.000 (30 Prozent) waren, was einer Steigerung von 5 Prozent entspricht (bei 10 Prozent mehr Frauen auf den Listen). Die meisten Vorzugsstimmen an Frauen vergaben übrigens Wählerinnen und Wähler, die per Briefwahl wählten (34 Prozent der Stimmen gingen 2013 und 2018 an ­Frauen, 2023 waren es sogar 42 Prozent). Zum Vergleich, in den Gemeinden Corvara und Abtei vergaben Wählerinnen und Wähler bei den letzten drei Landtagswahlen über 80 Prozent der Stimmen an männliche Kandidaturen.

Auch wenn mehr Listenkandidatinnen im Durschnitt zu mehr Vorzugsstimmen für Frauen führen, unterscheidet sich die Effektivität der Quote von Liste zu Liste. So erhielt etwa die Liste Wirth Anderlan, obwohl sie einen Frauenanteil von 46 Prozent aufwies, 90 Prozent der Vorzugsstimmen für männliche Kandidaten. Und nicht alle Listen mit einer hohen Anzahl von Vorzugsstimmen für Frauen wiesen auch einen entsprechend hohen Frauenanteil auf. Im Jahr 2023 erhielten erstmals weibliche Kandidaten auf den Listen der Grünen/Verdi/Vërc und Die Freiheitlichen mehr Vorzugsstimmen als ihre männlichen Kollegen (Abbildung 4). Jedoch hatten die Freiheitlichen die geringste Anzahl an weiblichen Kandidaten auf ihrer Liste, während die Grünen/Verdi/Vërc unter anderem die Partei mit den meisten weib­lichen Kandidaturen war.

Mehr Vorzugsstimmen für Frauen führten außerdem nicht zu mehr Spitzenpositionen für Frauen, denn sowohl 2008 als auch 2023 wurden jeweils zehn Frauen in den Landtag gewählt. Mehr als 10.000 Stimmen erhielten 2008 außerdem fünf Kandidatinnen, 2023 waren es vier Kandidatinnen. Ulli Mair (Die Freiheitlichen) stand 2008 an vierter Stelle mit 27.500 Vorzugsstimmen (2013 erhielt sie sogar 31.171 Stimmen), 2023 war Maria Elisabeth Rieder (Team K) mit 12.496 Stimmen die meistgewählte Frau.

Ein Blick ins Trentino zeigt jedoch, dass durch eine geschlechtergerechte Ver­gabe von Vorzugsstimmen sehr wohl die Frauenrepräsentation auch in Spitzenpositionen erhöht werden kann. Im Trentino, wie auch in vielen anderen italienischen Regionen, müssen bei Landtagswahlen laut Gesetz beide Geschlechter zu gleichen Maßen auf den Listen vertreten sein. Wählerinnen und Wähler geben anders als in Südtirol dabei nicht vier, sondern zwei Vorzugsstimmen ab. Werden beide Stimmen abgegeben, müssen diese an einen Kandidaten/eine Kandidatin eines anderen Geschlechts gegeben werden (Legge elettorale provinciale 2003). Bei den Landtagswahlen 2023 im Trentino waren also 50 Prozent Frauen und 50 Prozent Männer auf den Wahllisten vertreten. Durch die geschlechtergerechte Vergabe an Vorzugsstimmen gingen 46 Prozent der Vorzugsstimmen an weibliche Kandidaturen und folglich 14 Landtagssitze an Frauen (40 Prozent) (Comune di Trento o. J.). Zum Vergleich: In Südtirol gingen 2023 30 Prozent der Stimmen und zehn Landtagssitze an Frauen.

5. Substanzielle Repräsentanz von Frauen

Wie in Kapitel 2 beschrieben, ist die Frage, ob eine größere Anzahl von Frauen in der Politik (deskriptive Repräsentation) schließlich auch zu entsprechenden Policy-­Outputs führt (substantielle Repräsentation), nicht einfach zu beantworten. Um den Zusammenhang von deskriptiver und substantieller Frauenrepräsentation auch nur ansatzweise zu verstehen, werden in diesem Kapitel Beschlussanträge und Anfragen des Südtiroler Landtags mit frauenspezifischer Themensetzung untersucht. Grundlage für die Analyse bildete die Datenbank des Südtiroler Landtages (Südtiroler Landtag – Datenbanken und Sammlungen o. J.), in der landesparlamentarische Initiativen bis 1993 archiviert sind. Was frauenspezifische Themen sind, wurde vor der Analyse festgelegt, wobei als Fraueninteressen Inhalte definiert wurden, die bei politischer Umsetzung auf Frauen einen signifikant höheren Effekt haben als auf Männer. Dazu gehören:

Chancengleichheit

Frauengesundheit

Kinderbetreuung

Frauen und Migration

Arbeit und Frauen

Gewalt an Frauen

Schwangerschaft/Geburt

Frauenarmut

Pflege

Prostitution

Hilfe für Frauen

Frauen und Kultur

Frauen und Kriminalität.

Die Datenbank des Südtiroler Landtages wurde zunächst nach Beschlussanträgen und Anfragen durchsucht, die sich in ihren Titeln explizit auf frauenspezifische Themen beziehen. Zum Beispiel „Beschlussantrag Nr. 589/22-XVI: Recht auf Kleinkindbetreuungsplatz“. Im nächsten Schritt wurden den als relevant erachteten Ini­tiativen nach einer eingehenden Prüfung der Volltexte die oben genannten Themen zugeordnet. Jede Initiative erhielt dabei nur ein Thema. Falls mehrere Themen vertreten waren, wurde lediglich das übergeordnete Thema verwendet. Für die Aus­wertung wurden des Weiteren Metadaten erhoben (Erstunterzeichnende, deren Geschlecht sowie Partei­zugehörigkeit):

Tab. 1: Auszug aus der Analyse landesparlamentarischer Initiativen

Jahr

Initiative

Thema

Ersteinbringer / Ersteinbringerin

Geschlecht

Partei

2022

Beschlussantrag Nr. 589/22-XVI: Recht auf Kleinkindbetreuungsplatz

Kinder­betreuung

Rieder Maria Elisabeth

weiblich

Team K

5.1 Fraueninteressen in Beschlussanträgen seit 1995

Beschlussanträge stehen den Landtagsabgeordneten als Mittel der Mitwirkung zur Verfügung, indem eine Debatte oder ein Beschluss zu einer bestimmten Angelegenheit herbeigeführt wird. 88 von insgesamt 3.978 Beschlussanträgen beschäftigten sich seit 1995 explizit mit Frauenthemen (= 2,2 Prozent), 54 Beschlussanträge wurden von Frauen initiiert, 34 von Männern. Abbildung 5 zeigt, dass die Einbringung von Beschlussanträgen mit Fraueninteressen seit 1995 deutlich zugenommen hat. Zwischen 1995 und 2013 wurden 33 Prozent der Anträge eingebracht, von 2013 bis 2023 waren es 67 Prozent.

 Besonders stark stieg die Anzahl von Beschlussanträgen von Frauen für Frauen. Bei Betrachtung des gesamten Zeitraums (1995 bis 2023) brachten Frauen durchschnittlich 2,68 Anträge pro Jahr ein, Männer 1,94. Es bestehen jedoch deutliche Unterschiede zwischen dem Zeitraum vor 2013 und dem Zeitraum danach. So reichten zwischen 1995 und 2012 sowohl Männer als auch Frauen im Durchschnitt 1,4 Anträgen pro Jahr ein. Zwischen 2013 und 2023 initiierten Frauen jedoch 3,8 Anträge pro Jahr, Männer hingegen nur 2,6. Ab dem Jahr 2020 werden die Unterschiede noch größer. Frauen reichten nun durchschnittlich fünf Anträge pro Jahr ein, Männer hingegen weiterhin nur 2,6.

Zusammengefasst lässt sich also sagen, dass Frauen bis 2013, vor der Einführung der Geschlechterquote, gleich viele Anträge mit Fraueninteressen wie Männer ini­tiierten, nach 2013 aber deutlich mehr Anträge von Frauen als von Männern ein­gereicht wurden. Die Legislaturperiode von 2013 bis 2018 war für die Südtiroler Politik mit einigen Veränderungen verbunden, die sich positiv auf die Frauenpolitik auswirkten. Hier ist einerseits die Einführung der Geschlechterquote und sind die dazugehörigen Diskurse 2013 zu nennen, die sicherlich für ein stärkeres Bewusstsein für die Rolle der Frauen in der Politik geführt haben, aber auch die ver­änderten Machtverhältnisse in Südtirol. Mit den Landtagswahlen 2013 verlor die Südtiroler Volkspartei ihre absolute Mehrheit, was zu einer Zunahme der Parteienvielfalt in ­Südtirol führte. Parteien mit einem stärkeren Fokus auf Gleichberechtigungsfragen erlangten dadurch mehr politische Mitsprache. Auch löste der SVP-Politiker Arno Kompatscher seinen Vorgänger Luis Durnwalder nach 24 Regierungsjahren als Landeshauptmann ab. Kompatscher machte sich 2019 selbst zum Landesrat für Chancengleichheit (2014 bis 2019 war es Martha Stocker, die sich als Mitglied der Landesregierung stark für die Gleichberechtigung der Geschlechter einsetzte) und damit das Thema Frau zur Chefsache.

Besonders häufig wurde in Beschlussanträgen mit Fraueninteressen die Kleinkindbetreuung thematisiert (insgesamt 22 Anträge), gefolgt von Themen rund um Geburt/Schwangerschaft (14 Anträge) und Chancengleichheit (14 Anträge). Bis 1998 konzentrierten sich die Interessen ausschließlich auf die Themen „Arbeit und ­Frauen“ sowie Chancengleichheit. Die Thematik der Kinderbetreuung wurde erstmals im Jahr 2000 behandelt und seit 2019 ausschließlich von Frauen angesprochen. Zwischen 2016 und 2023 (mit Ausnahme 2021) wurde außerdem jedes Jahr mindestens ein Beschlussantrag zum Thema Chancengleichheit eingereicht, ebenfalls überwiegend von weiblichen Abgeordneten.

Ein Zusammenhang zwischen der deskriptiven Repräsentanz von Frauen im Landtag und der Einbringung von Fraueninteressen in politische Diskussions- und Entscheidungsprozesse konnte jedoch nicht festgestellt werden. Zwischen 2003 und 2008, als der Frauenanteil im Südtiroler Landtag am größten war, wurden lediglich 12,5 Prozent Anträge mit Fraueninteressen eingereicht, und nur 2 Prozent davon wurden von Frauen initiiert. In der Legislaturperiode 2018 bis 2023 hingegen, bei einem Frauenanteil von 26 Prozent, wurden 44 Prozent der Beschlussanträge ein­gereicht, 69 Prozent davon von Frauen.

5.2 Fraueninteressen in politischen Anfragen seit 1999

Ein vergleichbares Muster wie bei Beschlussanträgen zeigte sich auch bei politischen Anfragen. Politische Anfragen dienen der Kontrolle der Landesverwaltung und werden vor allem von Oppositionsparteien gestellt. Zwischen 2003 und 2008, jener Legislaturperiode mit dem höchsten Frauenanteil im Landtag, wurden lediglich zwei Anfragen mit frauenspezifischer Themensetzung von Frauen initiiert. Überhaupt wurden zwischen 1999 und 2013 von insgesamt 132 Anfragen mit Frauen­interessen lediglich sechs von Frauen eingereicht, 90,5 Prozent hingegen von männlichen Landtagsabgeordneten. Nach 2013 kam es zu einer Kehrtwende. 68,5 Prozent der Anfragen wurden nun von weiblichen Abgeordneten initiiert, 31,5 Prozent von männlichen Abgeordneten. Und seit 2020 wurden kaum noch Anfragen mit Fraueninteressen von Männern eingereicht, wodurch Anfragen mit Frauenthemen immer mehr zur Angelegenheit der weiblichen Abgeordneten werden. Wie bei Beschlussanträgen konnte damit kein Zusammenhang zwischen der deskriptiven Repräsentanz und der Einbringung von Fraueninteressen festgestellt werden (Abbildung 6).

Etwas mehr als ein Drittel der politischen Anfragen befasste sich mit Themen rund um die Betreuung von Kleinkindern. Geburt/Schwangerschaft und Frauen­gesundheit waren ebenfalls häufige Themen in den Anfragen mit Fokus auf Fraueninteressen. Signifikante Unterschiede zwischen Frauen oder Männern ließen sich bei den Themen nicht erkennen.

5.3 Parteizugehörigkeit und Fraueninteressen

Neben der Einführung der Geschlechterquote gibt es weitere Faktoren, die poten­ziell Einfluss auf die Zunahme von Themen mit Fraueninteressen in politischen Diskus­sions- und Entscheidungsprozessen haben können. Einer dieser Faktoren ist die Parteizugehörigkeit von Frauen, die in den Südtiroler Landtag gewählt wurden. In den Jahren von 1993 bis 2023 waren 43 Prozent der Frauen im Südtiroler Landtag Mitglieder der Südtiroler Volkspartei. Darüber hinaus gehörten insgesamt vier Frauen (11,5 Prozent) den Grünen/Verdi/Vërc an, während weitere drei Frauen Mitglieder der Freiheitlichen waren. Das im Jahr 2018 gegründete Team Köllensperger (Team K) entsandte bis zum Jahr 2023 eine Frau in den Landtag (Abbildung 7).

Bei genauerer Betrachtung von Frauen, die seit 1993 Beschlussanträge mit ­Fraueninteressen initiierten, zeigt sich, dass diese vor allem Oppositionsparteien angehörten. 43 Prozent der Anträge wurden von Grünen-Politikerinnen initiiert und lediglich 19,5 Prozent von SVP-Politikerinnen. Darüber hinaus kamen allein 17,5 Prozent der Anträge von Maria Elisabeth Rieder vom Team K. Politische Anfragen als Instrument der politischen Kontrolle dahingehend wurden zu 45 Prozent von Politikerinnen der Freiheitlichen initiiert (die jedoch nur wenig Beschlussanträge mit Frauen­interessen einbrachten), gefolgt von den Grünen/Verdi/Vërc (24 Prozent) und erneut dem Team K (19 Prozent). Grundsätzlich wird Parteien des linken Spektrums eine größere Affinität zu frauenspezifischen Themen unterstellt als dem bürger­lichen Lager (Brunsbach 2011). In Südtirol sind die Grünen/Verdi/Vërc Vorreiter bei frauenspezifischen Themen, allerdings widmen sich auch sezessionistische bzw. rechtspopulistische Parteien (Die Freiheitlichen, Süd-Tiroler Freiheit) Frauen­themen, wenn auch vorzugsweise als Instrument der Kontrolle.

6. Fazit

Die Ergebnisse der quantitativen und qualitativen Auswertungen lassen sich wie folgt zusammenfassen:

1. Die deskriptive Repräsentation von Frauen bei den Südtiroler Landtags­wahlen hat seit 1964 bis zur letzten Wahl 2023 stark zugenommen; es kandidieren insgesamt mehr Frauen und es gehen insgesamt gesehen mehr Vorzugsstimmen an Frauen. Einen großen Einfluss darauf nahm die Einführung der Geschlechterquote 2013. Mehr weibliche Kandidaturen haben jedoch nicht zu mehr Spitzenkandidatinnen geführt, es gibt also wenig Fortschritte bei den Spitzenpositionen. Ein Blick ins Trentino (Landtagswahlen 2023) zeigt jedoch, dass eine geschlechtergerechte Vergabe von Vorzugsstimmen die Repräsentation von Frauen auch im Landtag verbessern kann.

2. Trotz positiver Entwicklungen ist Südtirol im europäischen Vergleich unterdurchschnittlich von Frauen in der Landespolitik repräsentiert.

3. Der Start der XV. Legislaturperiode im Jahr 2013 kann als Wendepunkt bei der substantiellen Repräsentation von Frauen in der Südtiroler Landespolitik ge­sehen werden. Drei Ereignisse stehen im Zusammenhang mit dieser Wende: Die Einführung der Geschlechterquote, der Verlust der absoluten Mehrheit der SVP und die Wahl eines neuen Landeshauptmannes. Die Geschlechterquote hat nicht nur zu mehr weiblichen Kandidaturen geführt, die Auseinandersetzung mit dem Thema Chancengleichheit in der Politik kann auch als Antrieb für die substantielle Re­präsentation gesehen werden. Die Geschlechterquote führte zu gesellschaftlichen und damit auch politischen Debatten rund um die Rolle der Frau und stärkte das Bewusstsein für die Wichtigkeit von Frauen in der Politik. Der Verlust der absoluten Mehrheit der SVP erhöhte außerdem die Parteienvielfalt im Landtag und Arno Kompatscher als neu gewählter Landeshauptmann machte die Agenden der Chancengleichheit zu einer seiner Hauptaufgaben.

4. Fraueninteressen im Rahmen von politischen Diskussions- und Entscheidungsprozessen in Südtirol werden immer häufiger von Frauen thematisiert. Vor allem, wenn es um die Kontrolle der Landesverwaltung geht, werden Frauenthemen immer mehr zur Angelegenheit der weiblichen Abgeordneten.

5. Insgesamt konnte kein Zusammenhang zwischen deskriptiver und substanzieller Repräsentation in dieser Untersuchung festgestellt werden. Beim komplexen Zusammenhang von deskriptiver und substanzieller Repräsentation spielt auch immer der politische Kontext eine wesentliche Rolle, ob und wie stark Frauen auch Fraueninteressen vertreten. Dies gilt auch für Südtirol.

Durch diese Ergebnisse kann die eingangs gestellte These, dass sich Frauen in der Politik häufiger als Männer mit frauenspezifischen Themen auseinandersetzen und dadurch mehr weibliche Abgeordnete auch zu einer besseren Vertretung von Frauen­interessen in landesparlamentarischen Initiativen führen, nur zum Teil bestätigt werden. Dass sich Frauen stärker als Männer mit frauenspezifischen Themen auseinandersetzen ist erst im letzten Jahrzehnt der Fall, vorher hatten gleich viele Frauen als Männer, bzw. bei den politischen Anfragen mehr Männer als Frauen Initia­tiven mit Fraueninteressen eingebracht. Somit trifft diese These nur für einen Teil des Untersuchungszeitraumes zu. Die Tatsache, dass in den letzten zehn Jahren Frauenthemen in der Politik zugenommen haben, hängt jedoch mit veränderten politi­schen als auch gesellschaftlichen Kontexten zusammen und weniger mit der Repräsentation von Frauen im Landtag. Dadurch wird der zweite Teil der These wider­legt.

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Abb. 1: Frauen im Landtag seit 1964

Quelle: Südtiroler Landtag, Datenbanken und ­Sammlungen – Abgeordnete zum Südtiroler Landtag seit 1948, eigene Auswertung

Abb. 2: Kandidaturen für die Südtiroler Landtagswahlen 2008 – 2023

Quelle: Open Data Südtirol-Alto Adige, APB: Organisationsamt – Datensätze, eigene Auswertung

Abb. 3: Listen für die Südtiroler Landtagswahlen 2008 und 2023

Quelle: Open Data Südtirol-Alto Adige, APB: Organisationsamt – Datensätze, eigene Auswertung

Abb. 4: Vorzugsstimmen bei den Südtiroler Landtagswahlen 2008 und 2023

Quelle: Open Data Südtirol-Alto Adige, APB: Organisationsamt - Datensätze, eigene Auswertung

Abb. 5: Fraueninteressen in Beschlussanträgen 1995 – 2023

Quelle: Südtiroler Landtag, Datenbanken und Sammlungen – Politische Akte, eigene Auswertung

Abb. 6: Fraueninteressen in politischen Anfragen 1999 – 2023

Quelle: Südtiroler Landtag, Datenbanken und Sammlungen – Politische Akte, eigene Auswertung

Abb. 7: Frauen im Südtiroler Landtag seit 1993 nach Parteizugehörigkeit

Quelle: Südtiroler Landtag, Datenbanken und Sammlungen – Abgeordnete zum Südtiroler Landtag seit 1948, eigene Auswertung

Abb. 8: Beschlussanträge und Anfragen von Frauen nach Parteizugehörigkeit seit 1993/1999

Quelle: Südtiroler Landtag, Datenbanken und Sammlungen – Politische Akte, eigene Auswertung