Roland Sturm
Die bayerische Landtagswahl 2023 – Stabilität trotz heftiger Erschütterungen
The 2013 Bavarian Election – Stability of Government, but Tectonic Changes in the Electorate
Abstract The regional election held in Bavaria in October 2023 confirmed the parliamentary majority of the CSU and Freie Wähler coalition, who have been in power since 2018. It redrew the political landscape, because it moved the Bavarian party system further to the right of centre. The election winners were the Freie Wähler and the AfD, a right-wing party outside the current political consensus. All parties that govern on the federal level in Berlin suffered heavy losses in the election. The FDP no longer gained sufficient support to enter the regional parliament. The SPD, the party of the Federal Chancellor, saw a further decrease of its vote share which in 2018 was already below ten per cent. The Greens also suffered from heavy losses in the recent regional election though they secured most of their support in the big cities (with four constituency wins in Munich). Outside the largest metropolitan areas, the Freie Wähler had a strong performance and even gained two constituencies. The remainder of the constituencies were won by the CSU.
1. Der Wahlkampf
Der Wahlkampf wurde durch zwei Entwicklungen bestimmt, die mit zentralen Themen der Landespolitik wenig zu tun hatten. Es dominierten zum einen bundespolitische Themen, insbesondere die Klimapolitik der in Berlin regierenden Ampelkoalition (Stichwort: Heizungsgesetz) und deren Migrationspolitik, angesichts wachsender Zuwanderung, die die Städte und Gemeinden finanziell und hinsichtlich der Erfüllung ihrer Pflichten zur Unterbringung und Versorgung der Zuwandernden überfordert.
Zum anderen stand zeitweise die „Flugblattaffäre“ im Mittelpunkt des Interesses. Ende August veröffentlichte die „Süddeutsche Zeitung“ ein antisemitisches Flugblatt, das – als der heutige Vorsitzende der Freien Wähler, Hubert Aiwanger, in den 1980-er Jahren in die 11. Klasse des Gymnasiums ging – in dessen Schulranzen gefunden wurde. Mit dem Flugblatt wurde zu einem fiktiven Schreibwettbewerb aufgerufen, und als Preise wurden beispielsweise „ein Freiflug durch den Schornstein in Auschwitz“ oder ein „Aufenthalt in Dachau“ ausgelobt. Zur Entlastung Aiwangers führte dieser an, dass das Flugblatt von seinem Bruder stamme, die „Jugendsünde“ lange her sei und er bisher in keiner Weise als Antisemit aufgefallen sei. Dennoch wog der Antisemitismusvorwurf schwer, zumal ein früherer Lehrer Aiwangers, der der SPD (Sozialdemokratische Partei Deutschlands) nahesteht, sowie Schulkamerad/-innen von weiteren Verhaltensauffälligkeiten Aiwangers berichteten.
Aiwanger sah in der „Flugblattaffäre“ eine gegen ihn gerichtete Wahlkampfkampagne. Ministerpräsident Markus Söder (CSU – Christlich-Soziale Union in Bayern) reagierte auf die Affäre seines Stellvertreters mit einem 25 Fragen-Katalog, den Hubert Aiwanger umgehend beantworten musste. Söder stellte danach fest, dass das Flugblatt „ekelhaft“ und „widerlich“ sei, eine Entlassung Aiwangers sei aber zum jetzigen Zeitpunkt „ein Übermaß“ (Frankfurter Allgemeine Zeitung 2023a, 1). Die Opposition im Landtag warf Söder im Hinblick auf die Fortsetzung der CSU-Freie Wähler Koalition „Hinhaltetaktik“ vor und erinnerte zur Untermauerung des Vorwurfs des Rechtsextremismus an eine Rede Aiwangers in Erding auf einer Protestversammlung gegen das Heizungsgesetz. Hier hatte er in die Menge gerufen „die schweigende große Mehrheit“ müsse sich „die Demokratie wieder zurückholen“, eine Wortwahl, die nach Meinung der Opposition Aiwanger in die Nähe der Rechtsaußenpartei AfD (Alternative für Deutschland) rückte. Am 7. September befasste sich der Zwischenausschuss1 des Landtags mit der Flugblattaffäre. Der Antrag von Teilen der Opposition auf Entlassung Aiwangers scheiterte.
Anders als von der Opposition wohl erwartet, schadete Aiwanger die Flugblattaffäre im Wahlkampf nicht – im Gegenteil. Der „Bayerntrend“, eine Infratest dimap-Umfrage im Auftrag des Bayerischen Rundfunks, fand vier Wochen vor der Wahl einen Zustimmungswert von 17 Prozent für die Freien Wähler (Wahlergebnis 2018: 11,6 Prozent) (Frankfurter Allgemeine Zeitung 2023b, 1) Aiwanger und Söder erklärten Anfang September die Affäre für beendet (Frasch/Ripperger 2023a, 3) – gerade noch rechtzeitig bevor mit dem politischen Frühschoppen auf dem Gillamoos im niederbayerischen Abensberg die heiße Phase des Wahlkampfs begann. Die längste Schlange von Interessierten an den dortigen Wahlreden bildete sich vor dem Weißbierstadl, wo Hubert Aiwanger auftrat.
Nach den Daten von Infratest dimap spielte die Flugblattaffäre keine wichtige Rolle für die Wahlentscheidung. Das wichtigste Thema war für das Wahlvolk die „wirtschaftliche Entwicklung“, gefolgt von Zuwanderung, Klima und Energie und innere Sicherheit. In der öffentlichen Wahrnehmung war allerdings die Migrationskrise wichtiger als es diese Umfrage verdeutlichte. Wie zu erwarten war, war für die Wähler/-innen der Grünen „Klima und Energie“ mit großem Abstand das Hauptthema, für Wähler/-innen der AfD war es, ebenfalls mit großem Abstand, die Zuwanderung (vgl. Tagesschau 2023a). Die „Bayerntrend“-Umfrage von Infratest.dimap im Auftrag des Bayerischen Rundfunks hatte die Zuwanderung als wichtigstes Thema schon Mitte September identifiziert (Frankfurter Allgemeine Zeitung 2023c, 4). Die CSU reagierte spät, mit Vorschlägen im Asylverfahren verstärkt das Sachleistungsprinzip durchzusetzen, Asylbewerber/-innen vermehrt zur Arbeit zu verpflichten, die Zahl der sicheren Herkunftsländer zu vergrößern und eine „Integrationsgrenze“ von 200.000 Personen festzulegen (Frasch 2023c, 4).
Koalitionsoptionen waren von Beginn an ein Wahlkampfthema. Söder legte großen Wert auf die „Brandmauer“ zur Ausgrenzung der AfD. Als Ziel erklärte er die Fortsetzung der bürgerlichen Koalition von CSU und Freien Wählern in Bayern (die sogenannte Bayernkoalition). Den Grünen, die heftig um eine Koalitions- und damit Regierungsbeteiligung warben, erteilte er wiederholt eine deutliche Absage. Den Grünen fehle das „Bayern-Gen“. Eine Koalition mit ihnen werde es „definitiv“ nicht geben. Er selbst versuchte, wie das die CSU schon seit Franz-Josef Strauß getan hat, die Identität von Bayern und der CSU zu betonen. Wie Edmund Stoiber, ein anderer Vorgänger und ein anderes Vorbild von Markus Söder, wurde er nicht müde, die Überlegenheit des Freistaats in der deutschen politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Landschaft zu preisen. Dies kann hilfreich sein, wenn das strahlende Bayern-Image auf die CSU abstrahlt, führt aber auch regelmäßig in der linksliberalen norddeutschen Presse zum Bayern-Bashing, wenn eigentlich die CSU gemeint ist (vgl. Der Spiegel 2023).
Die Sozialdemokratie spielte im Wahlkampf ebenso wie die FDP (Freie Demokratische Partei) nur eine Nebenrolle. Die Idee der SPD, einen sozialen Akzent zu setzen (Slogan: „Soziale Politik für Dich“), blieb folgenlos für die relevanten Wahlkampfthemen. Ihr Spitzenkandidat Florian von Brunn, von Söder, wenn überhaupt, als „Florian von Dings“ erwähnt, blieb weitgehend unbekannt. Er gab an, er wolle „machen statt södern“. Ca. ein Drittel der Bayern kennen ihn. Flotte Sprüche bei Christopher Street Days, wie „Sex statt Söder“ oder „Horny statt Hubsy“, halfen nicht weiter, die SPD ins Gespräch zu bringen, ebenso wenig ein Fünf-Punkte-Plan („Von-Brunn-Plan“) mit wirtschafts- und sozialpolitischen Forderungen. In Bayern ist die SPD, die in Berlin den Kanzler stellt, Nummer fünf unter den Parteien (vgl. Frasch 2023a).
Die FDP versuchte mit Prominenten das Bekanntheitsdefizit ihres Spitzenkandidaten Martin Hagen auszugleichen. Der frühere Herausgeber (1993 – 2010) des politischen Wochenmagazins „Focus“, Helmut Markwort; die Tochter des früheren CSU-Ministerpräsidenten Susanne Seehofer und der frühere FDP-Minister Wolfgang Heubisch (2008 – 2013) waren hierfür aber nur begrenzt geeignet. Der ehemalige Landesvorsitzende der FDP, Albert Duin (2013 – 2017), bemerkte resignierend: „Wir feiern uns dafür ab, was wir jetzt wieder erreicht haben im Landtag, dabei interessiert es den Bürger draußen null“ (Frasch 2023b). Der Wahlkampfslogan der FDP: „Servus Zukunft“ wurde dann auch zu einem „Servus FDP“. Die Berliner Agentur, die diesen Slogan erfunden hatte, hatte ironischerweise die Doppeldeutigkeit des Begriffs „Servus“ in Bayern nicht erkannt. Vorbild war für sie der Filmtitel „Zurück in die Zukunft“.
Das bayerische Fernsehen veranstaltete zwei Spitzenkandidatenduelle. Geplant war Regierung gegen Opposition und dann eine Runde der kleineren Landtagsparteien (Freie Wähler, FDP, SPD, AfD). Für die Regierung trat in der ersten Runde Markus Söder an, als Vertreter der Grünen, der damals noch stärksten Oppositionsfraktion, Ludwig Hartmann. Einen klaren Sieger hatte keine der Runden. Bei Betonung der bekannten Unterschiede in der Migrationspolitik und hinsichtlich des Ausbaus der erneuerbaren Energien ging es in der Debatte zwischen Hartmann und Söder wenig aggressiv zu. Hartmann erneuerte seine Hoffnung auf Schwarz-Grün. Das Thema Kampf dem Rechtsruck, das für die Grünen 2018 schon einmal funktionierte, griffen sie mit der Parole „Herz statt Hetze“ erneut auf. Ihr Spitzenduo Katharina Schulze und Ludwig Hartmann formten auf Plakaten mit aneinander liegenden Händen Herzen. Die Grünen bemühten sich auch darum, ihren Konflikt mit Teilen der Bauernschaft nicht ausufern zu lassen. Markus Söder schloss im Namen der Staatsregierung publikumswirksam vor der Wahl einen „Zukunftsvertrag zur Landwirtschaft in Bayern“ mit den Vertretern und Vertreterinnen des Bayerischen Bauernverbandes. Mit diesem kam er den Forderungen der konventionellen Landwirtschaft weit entgegen. Unter anderem wurde gefordert: Die Schaffung der rechtlichen Grundlage für die Entnahme von „Problemtieren“, wie Wolf und Bär, die Ablehnung des Verbots von Pflanzenschutzmitteln bzw. eine finanzielle Unterstützung bei EU-Verboten, oder ein klares Bekenntnis zur Tierhaltung.
Die Freien Wähler blieben bei diesen Vereinbarungen, trotz Regierungsbeteiligung, außen vor, weil sie für die CSU Konkurrenten und Konkurrentinnen auf dem flachen Land sind. Im Wahlkampf gelang es den Freien Wählern sich als „bürgerliche Alternative“ (Slogan: „Anpacken für Bayern“) zur CSU zu empfehlen. Pragmatismus und Vernunft, die Förderung kleiner Strukturen, also Ehrenamt, Mittelstand und Regionalbanken beispielsweise, sind die Prioritäten einer Partei, deren Ursprünge in der Lokalpolitik liegen. Hier gibt es bei der Energiewende Überschneidungen mit den Grünen, allerdings bei starker Betonung kommunaler Entscheidungsautonomie. Von insgesamt 2.000 Bürgermeister/-innen in Bayern sind ca. 1.000 parteifrei oder Freie Wähler, von 71 Landräten und Landrätinnen sind 14 Freie Wähler. Seit 2008 sind die Freien Wähler im Landtag, seit 2018 in der Landesregierung. Das Gesicht der Freien Wähler ist Hubert Aiwanger, der selbst im bayerischen Wahlkampf bundespolitische Ambitionen für seine Freien Wähler betonte.
Bei der CSU dominierte Ministerpräsident Markus Söder die politische Kommunikation. Er sah in der Wahl (und im späteren Wahlerfolg) auch so etwas wie ein Plebiszit über seine eigene Person (und seine möglichen Ambitionen als Kanzlerkandidat im Bund). Im Wahlkampf wurde von der CSU als „rote Linie“ für die Ansprüche Söders und seine führende Stellung in der Partei ein Wahlergebnis von 35 Prozent für die CSU genannt, angestrebt wurden 40 Prozent plus (Holl 2023, 8). Nach den Daten von Infratest.dimap meinten 61 Prozent der Befragten, er sei ein guter Ministerpräsident; 56 Prozent gaben an „Ihm geht es mehr um sich selbst als um die Sache“. 55 Prozent waren zufrieden mit seiner politischen Arbeit, und nur 35 Prozent sagten „Bei ihm weiß man immer genau was er will.“ (vgl. Tagesschau 2023b). Das Wahlprogramm der CSU trug den Titel „Regierungsprogramm“. Markus Söder ließ sich, wie auch die anderen Spitzenkandidaten und Kandidatinnen mit ähnlich guten Ergebnissen, kurz vor der Wahl auf einem Parteitag mit 96 Prozent Unterstützung bestätigen. Vor dem Beginn des Wahlkampfs besetzte die Landesregierung populäre Themen. Beschlossen wurde eine Klage gegen den Bayern benachteiligenden Finanzausgleich (Bayern als Geberland zahlt knapp 10 Milliarden Euro ein), die in Berlin geplante Cannabis-Legalisierung wurde abgelehnt, Angela Merkel erhielt im Juni den bayerischen Verdienstorden, Markus Söder versuchte, den Kampf gegen Wokeness2 zum Wahlkampfthema zu machen. Ebenfalls im Juni schloss die CSU ohne Beteiligung der Jäger und vor allem der Freien Wähler einen „Waldpakt für Bayern“.
Die Alternative für Deutschland (AfD) hatte in der vergangenen Legislaturperiode vor allem mit Streit in der eigenen Fraktion Schlagzeilen gemacht. Die thematische Prägung des Wahlkampfs mit dem Schwerpunkt Zuwanderung machte sie in der Wählerschaft attraktiv. Die CSU hatte es nun mit zwei effektiven Parteien rechts von ihr, den Freien Wählern und der AfD zu tun. 46 Prozent derjenigen, die 2023 Freie Wähler wählten, und 65 Prozent der AfD-Wähler/-innen stimmten der Aussage zu: „Die CSU ist mir einfach nicht mehr konservativ genug.“ (vgl. Tagesschau 2023c). Während die AfD sich als Teil des bürgerlichen Lagers, mit dem Anspruch mitzuregieren, definierte, grenzten sich Freie Wähler und CSU von ihr als „rechtsextremer“ Partei ab. Beide Spitzenkandidaten und Kandidatinnen der AfD, Katrin Ebner-Steiner und Martin Böhm, wurden dem völkischen Flügel der AfD zugeordnet.
Insgesamt kandidierten bei der Wahl 15 Parteien und 1.811 Kandidaten und Kandidatinnen. 9,4 Millionen Bürger/-innen waren wahlberechtigt.
2. Das Wahlergebnis
2.1 Das Wahlsystem
Das bayerische Wahlsystem hat einige Besonderheiten im Vergleich zu anderen deutschen Wahlsystemen. Es handelt sich um eine personalisierte Verhältniswahl mit offenen Listen. Der/die Wähler/-in hat zwei Stimmen. Die erste Stimme ist die Wahlkreisstimme, mit der Zweitstimme kann der/die Wählende direkt eine/-n Bewerber/-in auf der Liste einer Partei ankreuzen. Erst- und Zweitstimme werden zur Ermittlung der Sitzverteilung auf die Parteien zusammengezählt. Zwischen den Wahlkreisen findet kein landesweiter Verhältnisausgleich statt. Das Wahlgebiet ist in sieben Wahlkreise aufgeteilt (vgl. Tabelle 1). Da jede/-r Wahlsieger/-in in seinem/ihrem Stimmkreis gewählt ist, können zur Herstellung der Verhältnismäßigkeit wegen möglicher Überhangmandate auch Ausgleichsmandate entstehen. Der Landtag wird dadurch größer als gesetzlich normiert. Nach der Wahl 2023 hat der Bayerische Landtag 203 statt 180 Mitglieder wegen elf Überhangmandaten für die CSU und sieben Ausgleichsmandaten für die Freien Wähler, drei Ausgleichsmandaten für die Grünen und zwei Ausgleichsmandaten für die AfD. Es gilt eine Sperrklausel von 5 Prozent für den Einzug in den Landtag. Die durch das Bundesgesetz geregelte Mindestgrenze von 1 Prozent der Stimmen für eine Beteiligung an der Parteienfinanzierung erreichten 2023 neben der nicht mehr im Landtag vertretenen FDP (3,0 Prozent), die Ökologisch-demokratische Partei (ÖDP) (1,8 Prozent) und DIE LINKE (1,5 Prozent).
Tab. 1: Wahl- und Stimmkreiseinteilung
Wahlkreis |
Abgeordnete | ||
Gesamt |
Im Stimmkreis |
Auf Wahlkreisliste | |
Oberbayern |
61 |
31 |
30 |
Niederbayern |
18 |
9 |
9 |
Oberpfalz |
16 |
8 |
8 |
Oberfranken |
16 |
8 |
8 |
Mittelfranken |
24 |
12 |
12 |
Unterfranken |
19 |
10 |
9 |
Schwaben |
26 |
13 |
13 |
Bayern insgesamt |
180 |
91 |
89 |
Quelle: eigene Zusammenstellung.
2.2 Das Wahlergebnis
Bei der Landtagswahl 2023 wuchs die Wahlbeteiligung auf für Landtagswahlen beachtliche 73,3 Prozent (+ 1,0 Prozent). Klarer Wahlsieger war die CSU, obwohl sie hinter ihren eigenen Erwartungen zurückblieb und lediglich ihr Ergebnis von vor fünf Jahren stabilisierte. Das CSU-Ergebnis war das schlechteste Resultat für die Partei seit 1950. Geradezu ein Desaster war die Wahl für die in Berlin regierenden Ampelparteien: SPD, Grüne und FDP. Die Grünen, bei der letzten Wahl noch zweitstärkste Kraft im Landtag, fallen hinter Freie Wähler und AfD zurück. Die SPD, schon 2018 in Bayern eine Splitterpartei mit weniger als 10 Prozent der Stimmen, verliert weiter. Die FDP schafft es deutlich nicht mehr in den Landtag. Die bundespolitische Überlagerung des Wahlkampfes hat das Seine zu diesem Ergebnis beigetragen. 54 Prozent gaben in einer Infratest.dimap-Umfrage an, die Landtagswahl sei ein Denkzettel für die Bundestagswahl, nur 39 Prozent verneinten dies (vgl. Tagesschau 2023d).
Das im Bund vernachlässigte Thema der Zuwanderung stärkte die Parteien rechts von der CSU, vor allen Dingen die Freien Wähler. Markus Söder versuchte, die „Sondereffekte“ dieser Wahl, Migration und Flugblattaffäre, für das Erstarken der Freien Wähler verantwortlich zu machen, mit der impliziten Hoffnung, dass die CSU ohne diese „Sondereffekte“ besser dastehen würde. Es sollte aber nicht vergessen werden, dass die Arbeit der Landesregierung (einschließlich der Freien Wähler) insgesamt bewertet wurde. Nach den Daten von Infratest.dimap fiel diese Bewertung knapp positiv aus (51 Prozent) (vgl. Tagesschau 2023e). Wenn man sich nicht so sehr um die bayerischen Belange kümmert und die zeitgleichen Hessenwahlen mitbetrachtet, so setzen die Bayernwahlen einen Trend der deutschen Landtagswahlen fort, der sich parteiübergreifend beobachten lässt. Die jeweiligen Regierungschefs werden bei Landtagswahlen bestätigt. Es gibt eine starke Tendenz zur Personenwahl.
Tab. 2: Wahlergebnis 2023 (Veränderung im Vergleich zur Wahl 2018)
Partei |
Gültige Gesamtstimmen |
Sitzverteilung | ||||
Anzahl |
% |
Veränderung |
Anzahl |
% |
Veränderung | |
CSU |
5.059.142 |
37,0 |
–0,2 |
85 |
41,9 |
0 |
Grüne |
1.972.147 |
14,4 |
–3,2 |
32 |
15,8 |
–6 |
Freie Wähler |
2.163.353 |
15,8 |
+4,2 |
37 |
18,2 |
+10 |
AfD |
1.999.924 |
14,6 |
+4,4 |
32 |
15,8 |
+10 |
SPD |
1.140.585 |
8,4 |
–1,3 |
17 |
8,3 |
–5 |
FDP |
413.595 |
3,0 |
–2,1 |
0 | ||
DIE LINKE |
200.795 |
1,5 |
–1,7 |
0 | ||
Bayernpartei |
129.469 |
0,9 |
–0,8 |
0 | ||
ÖDP a |
245.145 |
1,8 |
+0,2 |
0 | ||
DIE PARTEI |
64.085 |
0,5 |
+0,1 |
0 | ||
Tierschutzpartei |
60.764 |
0,5 |
+0,2 |
0 | ||
V-Partei b |
22.934 |
0,2 |
–0,1 |
0 | ||
Partei der Humanisten |
14.022 |
0,1 |
+0,1 |
0 | ||
dieBasis |
119.314 |
0,9 |
neu | |||
Volt |
41.623 |
0,3 |
neu | |||
Bayern insgesamt |
13.655.897 |
100 |
203 |
100 |
–2 |
a ÖDP – Ökologisch-Demokratische Partei;
b V-Partei- Partei für Veränderung, Vegetarier und Veganer
Quelle: Der Landeswahlleiter des Freistaats Bayern 2023;; eigene Berechnungen.
Die Grünen verloren zwar ein Direktmandat in München, holen aber ihre vier Direktmandate alle im dortigen großstädtisch-studentischen Milieu. Die Freien Wähler gewinnen gegenüber der CSU auf dem Lande und erobern erstmals zwei Direktmandate in Landshut und Neuburg-Schrobenhausen. Sie und die AfD sind die Gewinner der Wahl. Die AfD-Ergebnisse sind in allen Altersgruppen zweistellig und erreichen ihren besten Wert bei den 35- bis 44-Jährigen mit 20 Prozent. Auch wenn die Methodik der Ermittlung von Wählerwanderungsbilanzen umstritten ist, zeigen solche Bilanzen doch Trends. Für die CSU ist die Bilanz eindeutig. Sie gewinnt 85 der 91 Direktmandate. Die Partei verlor dennoch massiv an die AfD und noch viel stärker an die Freien Wähler. Die Verluste konnte sie ausgleichen durch Zugewinne aus allen anderen politischen Lagern und sogar durch Zustrom von Nichtwähler/-innen (vgl. Tagesschau 2023f).
Überdurchschnittlich stark war die CSU bei den über 70-Jährigen, bei Menschen mit einfacher Bildung und bei Menschen, die mehr als 20 Jahre in Bayern leben. Von einigen Klischees gilt es Abschied zu nehmen. Die Jungwähler/-innen sind nicht in erster Linie Grünen-Anhänger/-innen. Sie wählten wie alle Altersgruppen am meisten die CSU und etwa genauso stark wie die Grünen die AfD. Die SPD kann, nicht nur wegen ihrer insgesamt schwachen Unterstützung in der Wählerschaft, nicht mehr für sich reklamieren, die Arbeiter/-innen zu repräsentieren. Aus dieser Berufsgruppe wählte ein Drittel die AfD, nur noch 5 Prozent entschieden sich für die SPD (vgl. Jerabek/Heim 2023).
Tab. 3: Stärken der CSU, in Prozent
Partei |
über |
einfache |
20 Jahre und länger Wohndauer in Bayern |
CSU |
53 |
45 |
39 |
Freie Wähler |
14 |
20 |
16 |
SPD |
12 |
7 |
8 |
Grüne |
9 |
4 |
13 |
AfD |
7 |
18 |
15 |
FDP |
3 |
1 |
3 |
Quelle: Tagesschau 2023g; Tagesschau 2023h; Tagesschau 2023i
Die AfD wird stärkste Oppositionspartei. Sie gewinnt Stimmen auch von den Freien Wählern und aus allen politischen Lagern, auch von den Grünen. In kleinen Gemeinden und kleineren Städten sind CSU, AfD und Freie Wähler deutlich stärker als in den großen Städten. Bei den Grünen ist dies nach den Daten der Forschungsgruppe Wahlen umgekehrt. Das Wahlverhalten von Frauen unterscheidet sich, mit Ausnahme der geringeren Unterstützung der AfD, nicht wesentlich von dem der Männer (vgl. Welt 2023).
Von den 203 gewählten Abgeordneten sind 78 neu. Der Landtag ist mit einem Durchschnittsalter von 50 Jahren jünger geworden und weniger akademisch, es sind mehr Personen ohne Hochschulstudium vertreten. Nur ein Viertel der Abgeordneten ist weiblich, weniger als im vorigen Landtag (damals 26,8 Prozent).
2.3 Die CSU behauptet ihre Sonderstellung
Die Wahl 2023 bestätigte die Sonderstellung der CSU in Bayern. Sie regiert ununterbrochen seit 1957. Zum letzten Mal erreichte die Partei eine absolute Mehrheit der Wählerstimmen 2003 mit 60,7 Prozent und 2013 eine absolute Mehrheit der Sitze im Landtag. Seit 2003 reduzierte sich der Anteil der Wählerstimmen, die auf die Partei entfielen (mit Ausnahme von 2013), stetig. 2008 war die CSU gezwungen, eine Legislaturperiode lang mit der FDP zu regieren, seit 2018 sind die Freien Wähler ihr Koalitionspartner. Dies deutet an, dass sich hinter der Fassade der Stabilität deutliche Verschiebungen des Parteienwettbewerbs abzeichnen. In Zukunft könnte ein weiterer Stimmenverlust der CSU dazu führen, dass die Partei bei Bundestagswahlen unter die fünf Prozent-Hürde rutscht. Sie wäre dann, selbst wenn sie alle Wahlkreise in Bayern gewinnt, nicht mehr im Bundestag vertreten. Ihre Doppelrolle als Regionalpartei mit bundespolitischen Ambitionen wäre Geschichte (vgl. Sturm 2020).
Das Wahlergebnis von 2023 weist auch auf innerbayerischen Wandel hin. Das Wahlverhalten wurde konservativer (unter anderem in Opposition zur Berliner Ampelkoalition). Die Parteien der Ampelkoalition erreichten bei der Landtagswahl zusammen gerade noch 25,8 Prozent – weit entfernt von einer Mehrheit. Das konservative Lager ist aber gespalten. Freie Wähler und CSU halten Distanz zur AfD. Die Freien Wähler haben einen charismatischen Redner an der Spitze, der dem Ministerpräsidenten Markus Söder die in Bayern nicht unwichtige „Lufthoheit“ über den Stammtischen und im Bierzelt streitig macht. Der CSU gelingt es nicht mehr, den rechten Rand der bayerischen Politik zu integrieren.
3. Regierungsbildung
Die Koalitionsparteien CSU und Freie Wähler nahmen in der Woche nach der Wahl zügig Gespräche auf und einigten sich auf Koalitionsverhandlungen. Schon im Wahlkampf hatte Markus Söder eine andere Konstellation der Landesregierung ausgeschlossen. Er war auch nicht bereit, die sonst üblichen Sondierungsgespräche „mit allen demokratischen Parteien“ zu führen, was ihm das Drohpotential mit einem anderen möglichen Koalitionspartner nahm. Hinzu kam, dass nach Umfragen eine Mehrheit der Wähler/-innen die Zusammenarbeit von Freien Wählern und CSU positiv bewertete. Sie blieb ihre Wunschkoalition.
Dennoch gab es im Vorfeld und mit dem Beginn der Verhandlungen der Koalitionspartner Irritationen. Die Freien Wähler machten ihren Wahlerfolg gelten und verlangten eine/-n vierte/-n Kabinettsminister/-in. Genannt wurde das Landwirtschaftsressort. Der neue Fraktionsvorsitzende der CSU im bayerischen Landtag, Klaus Holetschek, ebenso wie der Ministerpräsident selbst, wandten sich gegen diese Forderung und erinnerten die Freien Wähler an die Kräfteverhältnisse in der Koalition. Aus Sicht Söders war Aiwanger wegen der Flugblattaffäre noch „auf Bewährung“ und sollte bescheiden bleiben. Aiwanger riet der CSU, nicht „so mädchenhaft aufzutreten“. Söder sagte: „Ich rate umgekehrt, nicht pubertär zu agieren.“ (Frasch/Ripperger 2023b, 3).
Die Koalitionspartner lösten ihre Kontroversen durch Kompromisse. Der Koalitionsvertrag beginnt außerhalb des üblichen Vorgehens mit einer Präambel, die rückblickend als Reaktion auf die Flugblattaffäre gelesen werden kann, was aber beide Koalitionspartner so nicht verstanden haben wollen. Die Präambel hält unter anderem fest: „Wir treten jeglicher Form von Antisemitismus, Intoleranz, Fremdenfeindlichkeit und Rassismus entschlossen entgegen“ (Bayerische Staatsregierung 2023, 1). Die Freien Wähler erhielten den gewünschten zusätzlichen Kabinettsposten, mussten aber eine Staatssekretärin abgeben. Das Ressort für Digitales ist das kleinste und musste an die Staatskanzlei des Ministerpräsidenten den Glamourpart (Filmförderung und Filmfest) abgeben. Der CSU Fraktionsvorsitzende Holetschek betonte, Digitalisierung sei ohnehin Chefsache. Am 26. Oktober 2023 wurde der Koalitionsvertrag unterzeichnet – am 31. Oktober wurde Markus Söder vom bayerischen Landtag erneut zum Ministerpräsidenten gewählt. Er erhielt 120 von 198 abgegebenen Stimmen. Mit Nein stimmten 76 Abgeordnete, zwei enthielten sich (vgl. Frasch 2023d).
Anmerkungen
Literaturverzeichnis
Bendel, Oliver (2021), Wokeness, https://wirtschaftslexikon.gabler.de/definition/wokeness-123231/version-384489 (21.01.2024)
Der Landeswahlleiter des Freistaates Bayern (2023), Landtagswahl 2023. Endgültiges Ergebnis, www.landtagswahl2023.bayern.de/index.html (21.01.2024)
Der Spiegel (2023), Mia san mia, Der Spiegel, 09.09.2023, 13 – 23
Frankfurter Allgemeine Zeitung (2023a), Söder verlangt von Aiwanger Antworten auf 25 Fragen, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 30.08.2023, 1
Frankfurter Allgemeine Zeitung (2023b), Aiwanger profitiert von Flugblatt-Affäre, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 13.09.2023, 1
Frankfurter Allgemeine Zeitung (2023c), Zuwanderung wichtigstes Thema, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 13.09.2023, 4
Frasch, Timo (2023a), Auch die SPD will Bayern sein, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 29.09.2023, 3
Frasch, Timo (2023b), Die Leiden der Bayern-FDP, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 23.09.2023, 4
Frasch, Timo (2023c), Söder: Lampedusa kennt keine bayerische Landtagswahl, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 19.09.2023, 4
Frasch, Timo (2023d), Ein kleines Ministerium mehr, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 27.10.2023, 4
Frasch, Timo/Ripperger, Anna-Lena (2023a), Das Ende einer Affäre?, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 04.09.2023, 7
Frasch, Timo/Ripperger, Anna-Lena (2023b), Alles auf Migration, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 10.10.2023, 3
Holl, Thomas (2023), Söders Prozente, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 04.10.2023, 8
Jerabek, Petr/Meim Maximilian (2023), Sieg mit Schattenseiten, in: BR24, 09.10.2023, www.br.de/nachrichten/bayern/bayern-wahl-sieg-mit-schoenheitsfehlern-fuer-csu-chef-markus-soeder,Ts6N2rG (21.01.2024)
Bayerische Staatsregierung (2023), Koalitionsvertrag „Freiheit und Stabilität – Für ein modernes, weltoffenes und heimatverbundenes Bayern“, www.bayern.de/staatsregierung/koalitionsvertrag-2023-2028/ (21.01.2024)
Sturm, Roland (2020), True Bavarians. The Volatile Identity Politics of Born Regionalists, in: Donat, Elisabeth/Meyer, Sarah/Abels, Gabriele (Hg.), European Regions. Perspectives, Trends and Developments in the 21st Century, Bielefeld: transcript, 117 – 126
Tagesschau (2023a), Welches Thema spielt für ihre Wahlentscheidung die größte Rolle?, in: Tagesschau, 08.10.2023, www.tagesschau.de/wahl/archiv/2023-10-08-LT-DE-BY/index.shtml (21.01.2024)
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Tagesschau (2023c), Die CSU ist mir einfach nicht mehr konservativ genug, in: Tagesschau, 08.10.2023, www.tagesschau.de/wahl/archiv/2023-10-08-LT-DE-BY/index.shtml (21.01.2024)
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