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Elisabeth Alber / Annika Kress

Theorie und Praxis partizipativer Demokratie in den Gemeinden der Europaregion Tirol-Südtirol-Trentino1

The theory and practice of participatory democracy in the municipalities of the Euroregion Tyrol - South Tyrol - Trentino

Abstract In light of the crisis faced by representative democracy and the challenges posed by shifting political conceptions, participatory democracy presents itself as an innovative form of political legitimation. As the sphere of government closest to the people, local administration appears to be the ideal context in which to experiment with instruments of participatory democracy and to guarantee the increasingly integrated and efficient provision of services to the community. Involving the citizens as political co-creators should ensure that municipal planning and decision-making processes best reflect their needs and priorities by resulting in the types of decisions that would make for an open, fair and democratic local government. Due to the fact that the success of participatory instruments in political decision-making depends on both their systematic application and the willingness of the people to be an active part of the process, municipalities seem to be the level of government that can most easily put these instruments into practice. This paper examines the extent to which the legal-institutional framework of the local level in the Euroregion Tyrol - South Tyrol - Trentino favours participatory democracy, and offers insights with regard to best practices. An assessment of regional legislation, municipal bylaws and governmental initiatives shows that while municipalities are continually expanding the scope of participation in decision-making processes in theory, the actual practice of participatory democracy is still lagging behind.

1. Die Gemeinden im Spannungsfeld des Glokalen

Wie auch anderswo, stehen die Kommunen in der Europaregion Tirol-Südtirol-Trentino vor den immer größeren Herausforderungen der Krise der repräsentativen Demokratie und des sich wandelnden Politikverständnisses (vgl. Pallaver 2015; Karlhofer 2009), der Ressourcenknappheit und der wachsenden Europäisierung der Gemeindeebene (vgl. Stahl und Degen 2014). Die zunehmende Komprimierung von Raum und Zeit ist genauso eine Herausforderung für die kommunale Ebene wie die notwendige (aber oft auch erwünschte) Rückbesinnung auf das Lokale. Auch die Gemeinden im Bundesland Tirol und in den Autonomen Provinzen Bozen und ­Trient müssen sich weitgehend neu aufstellen hinsichtlich ihrer Aufbau- und Ab­lauforganisation, hinsichtlich der Art und des Umfangs ihrer Funktionen und hinsichtlich ihrer Leistungsfähigkeit und dem damit verbundenen territorialen Zuschnitt.2

Als die den Bürgerinnen und Bürgern am nächsten stehende Gebietskörperschaft ist die Gemeinde für sie der primäre Identifikationsraum, auch aufgrund der Tatsache, dass in der Gemeindepolitik die Hürden für die Beteiligung an der demokratischen Willensbildung wesentlich geringer sind. Allgemein ist festzustellen, dass sich infolge des sich wandelnden Politikverständnisses die Diskussion um Beteiligungsprozesse immer mehr von fachlich-methodischen zu umfassenden Fragen nach den Beziehungen zwischen den Bürgerinnen und Bürgern als Dienstleistungsempfänger und der Gemeinde als Dienstleistungsanbieter verlagert. Die kommunale Ebene scheint – nicht nur, aber insbesondere – in Krisenzeiten der Ort zu sein, an dem institutionelle Innovation mittels der Anwendung neuer Bürgerbeteiligungsmodelle leichter erprobt werden kann. Die Bürgerinnen und Bürger werden zunehmend sowohl aus ökonomischen als auch aus demokratiepolitischen Gründen als Mitgestalterinnen und Mitgestalter in Entscheidungsprozesse eingebunden. Dies verändert sowohl die Prioritätensetzung der lokalen Selbstverwaltung als auch die Bedarfseinschätzung in Bezug auf die lokale Demokratie und trägt ganz konkret zur Generierung von handlungs- und problemlösungsorientiertem Wissen bei. Der Erfolg partizipativer Beteiligungsmodelle hängt dabei einerseits von deren systematischen Anwendung ab, andererseits von der Bereitschaft der Bürgerinnen und Bürger, aktiv teilzunehmen an Prozessen der inhaltlichen Mitgestaltung.

Diese Abhandlung veranschaulicht die rechtlich-institutionellen Rahmenbedingungen der partizipativen Demokratie auf kommunaler Ebene in der Europaregion Tirol-Südtirol-Trentino. Die gewählten Beispiele in den Fallstudien erheben keinen Anspruch auf Vollständigkeit und zielen weniger darauf ab, die unterschiedlichen Erfahrungen im Detail zu analysieren, als vielmehr, Ansätze eines durch neue Partizipationsformen erweiterten Politikverständnisses aufzuzeigen.

2. Allgemeines zu partizipativer Demokratie

Im Bundesland Tirol und in den Autonomen Provinzen Bozen und Trient stößt die indirekte Teilnahme von Bürgerinnen und Bürgern mittels Wahlen und der Mitgliedschaft in Parteien und Interessenvertretungen zunehmend an seine Grenzen. Die formell durch die Verfassung und den nachgeordneten Bestimmungen definierte Politik (Government) ist vor die Herausforderung gestellt, auf zunehmende Komplexität sozio-politischer Systeme sowohl mit systeminternen Reformen als auch mit erweiterten Beteiligungsmodellen (Governance) zu reagieren. Aus demokratietheoretischer Sicht steht hinter dem Konzept der partizipativen Demokratie – im angelsächsischen Raum spricht man von deliberativer Demokratie – die Erkenntnis, dass ein politisches System ohne eine umfassende Einbindung aller seiner Bürgerinnen und Bürger in Prozesse inhaltlicher Mitgestaltung zusätzlich zu den periodischen Urnengängen bei Wahlen oder Volksabstimmungen nicht mehr konsens- und innovationsfähig ist. Deliberation wird als „die argumentative Suche nach und die Gewichtung von Gründen für und gegen [einer Vielzahl von] Handlungsoptionen durch eine Gruppe“ bezeichnet (Landwehr 2012, 360). Partizipative Verfahren in der Entscheidungsfindung sind demnach als innovative Formen von politischer Legitimation zur Konkretisierung des Gemeinwohls anzusehen, welche die parlamentarische Demokratie flankieren und diese auch verändern (vgl. Steiner 2012). Inwiefern die vermehrte Anwendung partizipativer Formen der Bürgerbeteiligung ein gangbarer Weg ist, um sowohl dem legitimatorischen Anspruch der Identität zwischen dem Einzelnen und den gewählten Volksvertretern als auch dem Anspruch des Aufbaus einer starken Öffentlichkeit besser gerecht zu werden, ist kontextgebunden. Dasselbe gilt für die Frage, unter welchen Bedingungen Bürgerinnen und Bürger bereit sind, in Entscheidungsprozesse mit eingebunden zu werden. Allgemein greift die Erkenntnis um sich, dass Bürgerinnen und Bürger vermehrt Interesse daran haben, aktiv ihr Lebensumfeld mitzugestalten (vgl. Chambers/Kopstein 2006). Aufgrund des ansteigenden Bestandes an Fallstudien partizipativer Beteiligungsmodelle auf allen Regierungsebenen (vgl. Participedia 2016; Partizipation.at 2016) lässt sich feststellen, dass das Demokratieverständnis und die damit verbundenen konkreten Entscheidungsfindungsprozesse im Wandel sind (vgl. Alber 2015; Benedikter 2014; Nanz/Fritsche 2012). Demokratietheoretisch gibt es derzeit jedoch weder ein klares Modell in Bezug auf die mögliche Ausgestaltung einer idealen partizipativen Staatsform, noch eine alleinig akzeptierte Lehrmeinung. Instrumente partizipativer Demokratie sind meist beratender Natur, ergebnisoffen und klammern die Frage nach der Leistungsfähigkeit politischer Systeme zunächst weitgehend aus. Dies, um der Ideensammlung und -schaffung mittels eines Austausches zwischen den Institutionen und der Gesellschaft Raum zu verschaffen und so sowohl die Qualität der Entscheidungen zu verbessern als auch deren Legitimation zu steigern (vgl. Landwehr 2012). In Abgrenzung zu direkt-demokratischen Instrumenten versteht die partizipative Demokratie Mitbestimmung als politische Teilhabe aller am Prozess der inhaltlichen Mitgestaltung bis hin zum Lösungsvorschlag und steuert nicht auf eine Ja- oder Nein-Abstimmung zu.

3. Die kommunale Ebene im Bundesstaat Österreich

Artt. 115–120 des Bundes-Verfassungsgesetzes (B-VG) schreiben die rechtlichen Rahmenbedingungen der Gemeinden fest. Anzumerken ist, dass die Struktur und die Aufgaben der österreichischen Gemeinden aus rechtsvergleichender Sicht und unter Berücksichtigung des zentralistischen Wesensmerkmals des Bundes ungewöhnlich detailliert ausgeführt sind. Weitere Referenzbestimmungen bilden die Gemeindeordnungen auf der Landesebene, die die Rechte und Pflichten der Gemeinde­organe festlegen und von Land zu Land unterschiedlich sind.

3.1 Fallstudie Tirol

Gemäß Artt. 115 Abs. 2, 116a Abs. 4 und 119a Abs. 3 B-VG in Verbindung mit den Artt. 72–78 der Tiroler Landesordnung 1989 ist der Landesgesetzgeber für die Regelung der Tiroler Gemeindeordnung zuständig. Die Gemeinden Tirols sind in der Tiroler Gemeindeordnung 2001 (TGO, 36. Gesetz vom 31. März 2001 über die Regelung des Gemeindewesens in Tirol) geregelt. Eine Ausnahme bildet die Landeshauptstadt Innsbruck, die gemäß Art. 116 Abs. 3 B-VG eine Stadt mit eigenem Statut ist. Direkte Bürgerbeteiligung wird im Abschnitt 3 der Tiroler Gemeindeordnung in der Form von Volksbefragungen, Gemeindeversammlungen und Petitionen geregelt. Andere partizipative Beteiligungsmodelle werden im Gegensatz zum Trentino und zu Südtirol nicht spezifisch erwähnt. Jedoch können die Gemeinden Tirols solche Verfahren im eigenen Ermessen umsetzen. Interessant ist, dass in Verbindung mit Art. 13 TGO (Definition der Gemeindebewohner und Gemeindebürger) auch Kinder und Jugendliche als sachverständige Personen mit beratender Stimme vom Gemeinderat in den Ausschuss entsandt werden können. Hervorzuheben ist auch, dass das Stadtrecht für Innsbruck im Artikel 21b Enqueten vorsieht. Jene sind – sofern nicht anders bestimmt – unter dem Vorsitz des Bürgermeisters öffentlich zugänglich. Im Konkreten lautet die Bestimmung: „Der Gemeinderat kann auf Antrag von mindestens vierzehn seiner Mitglieder die Abhaltung einer Enquete (Einholung schriftlicher Äußerungen sowie Anhörung von Sachverständigen und anderer Auskunftspersonen) über Angelegenheiten des eigenen Wirkungsbereiches der Stadt […] beschließen.“ Bisher wurden drei Enqueten abgehalten (vgl. Gemeinde Innsbruck, 2016).

Trotz der eher geringen rechtlichen Vorgaben auf Gemeindeebene spielen partizipative Beteiligungsprozesse allgemein eine recht große Rolle in Tirol. Davon zeugen sowohl die Ausrichtung verschiedener Ämter (z. B. das Amt der Landesentwicklung und Zukunftsstrategie) als auch die Praxisbeispiele (z. B. mitbestimmung.cc). So haben Gemeinden z. B. im Rahmen der Lokalen Agenda 21 oder über die Tiroler Jugendgemeindeberatung die Möglichkeit, vom Land Beratung in Beteiligungsfragen zu erhalten und im weiteren Prozessverlauf unterstützt zu werden. Die Lokale Agenda 21 entspringt dem 1992 erarbeiteten Leitfaden zur Umsetzung der Agenda 21 der Vereinten Nationen zu nachhaltiger Entwicklung. Artikel 28 der Agenda 21 zeigt den besonderen Stellenwert der kommunalen Ebene für nachhaltige Entwicklung auf:

„Da so viele der in der Agenda 21 angesprochenen Probleme und Lösungen ihre Wurzeln in Aktivitäten auf örtlicher Ebene haben, ist die Beteiligung und Mitwirkung der Kommunen ein entscheidender Faktor bei der Verwirklichung der Agendaziele. […] [Sie spielen] eine entscheidende Rolle dabei, die Öffentlichkeit aufzuklären und zu mobilisieren und im Hinblick auf die Förderung einer nachhaltigen Entwicklung auf ihre Anliegen einzugehen.“ (Konferenz der Vereinten Nationen 1992)

Die Österreichische Strategie zur Nachhaltigen Entwicklung, die auf der Agenda 21 fußt, stellt auch wiederum weitreichende Beteiligungsmöglichkeiten in den Mittelpunkt der nachhaltigen Entwicklung und erklärt, „schließlich geht es um eine verstärkte Einbeziehung der Bevölkerung in die Gestaltung ihres Lebensraumes. […] Daher sollen […] Rahmenbedingungen und Unterstützungsmechanismen für eine neue Kultur des Bottom-Up geschaffen werden“ (NSTRAT 2002).

In Tirol haben im Rahmen der Lokalen Agenda 21 bereits 79 Prozesse in 61 Gemeinden stattgefunden (vgl. Amt der Tiroler Landesregierung 2015), die sich über eine breite Spanne der Themenfelder der Agenda 21 erstrecken. Sie reichen von Ortsbelebung (Brixlegg, 2015) und Stadtteilentwicklung (Hall in Tirol, 2014 und 2015) über Mobilität (Stams, 2015) und Verkehr (Dölsach, 2015) bis hin zu Jugendagendaprozessen (Mieming, 2015; Kufstein, 2012 und 2014; Hall in Tirol, 2012) und Energie (Trins, 2010).3 Unter anderem arbeitete man mit dem Instrument des Bürger/-innenrats, z. B. 2013 zur Dorfkerngestaltung in der Gemeinde Leisach oder in Galtür in der Diskussion um das Freizeitzentrum.

Andere Beispiele für Beteiligungsverfahren sind die Bürgerbeteiligungsprozesse bei der Erarbeitung des Stadtverkehrskonzepts in Kitzbühel und die partizipative Erarbeitung von Leitlinien zur Verbesserung der schlechten Rahmenbedingungen für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf in den Pilotgemeinden in Tirol (vgl. Partizipation.at 2016).

Um den Wünschen und Bedürfnissen von Jugendlichen gerecht zu werden, hat Tirol eine Jugendgemeindeberatung eingerichtet.4 Die Gemeinden können sich mit ihren Anliegen an den vom Land mit der Beratung beauftragten Verein „Jugendarbeit-Mobil“ wenden, z. B. um die Identifizierung von Jugendlichen mit ihrer Heimatgemeinde zu fördern, „ehrenamtliche Beteiligung nachhaltig in die Jugendarbeit zu implementieren“ und vorhandene Strukturen auszubauen und zu vernetzen (vgl. JAM 2014). Seit 2010 haben knapp über 40 Gemeinden in 55 Projekten Gebrauch von der Jugendgemeindeberatung gemacht und die Jugend durch Peergroup-Interviews, Jugendhearings, Qualitätsdialoge und Zukunftswerkstätten in Entscheidungsfindungsprozesse eingebunden (vgl. Steiner 2015). Exemplarisch sind z. B. Jugendhearings 2013 in Baumkirchen zur aktiveren Einbringung der Jugendlichen in der Gemeinde und in Ischgl zu den Leitfragen „Fühlen sich die Ischgler Jugendlichen in ihrer Gemeinde wohl?“ und „Was wünschen sich die Jugendlichen in Ischgl?“ sowie die Jugendplattform NEXT zur Verbesserung der Jugendbeteiligung und der Mobilität der Jugendlichen im Wipptal (vgl. JAM 2013).

4. Die kommunale Ebene im asymmetrischen Regionalstaat Italien

In der italienischen Verfassung sind Gemeinden laut Art. 114 Abs. 1 autonome Körperschaften mit eigenen Statuten, Befugnissen und Aufgaben gemäß den in der Verfassung verankerten Grundsätzen. Der Staat verfügt über die ausschließliche Gesetzgebungskompetenz für Wahlgesetzgebung, Regierungsorgane und grundlegende Aufgaben der Gemeinden (Art. 117 Abs. 2 lit. p der italienischen Verfassung). Anders als die Regionen mit Normalstatut, haben die Autonomen Regionen – darunter auch Trentino-Südtirol – die ausschließliche Gesetzgebungskompetenz im Bereich der Ordnung der örtlichen Körperschaften und der entsprechenden Gebietsabgrenzung. Im Jahre 1993 erhielten die Gemeinden der Autonomen Region Trentino–Südtirol mittels des Regionalgesetzes Nr. 1/1993 Satzungsautonomie. Hinsichtlich der Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger am Gemeindewesen verweist das Regionalgesetz Nr. 1/1993 Art. 4 auf Formen herkömmlicher aber auch innovativer Formen der Bürgerbeteiligung, die von informellen Gruppen, Komitees und Bürgervereinigungen vorangetrieben und organisiert werden können. Laut dem Regionalgesetz regelt die Satzung das Recht der Bürgerinnen und Bürger auf Information, Aktenzugang und Beteiligung und sieht – neben den Volksbefragungen – auch die Pflicht zur Abhaltung von Bürgerversammlungen vor.

4.1 Fallstudie Südtirol

Vor dem Hintergrund des Regionalgesetzes Nr. 1/1993 erarbeitete der Südtiroler Gemeindenverband eine Mustersatzung, die viel Raum für individuelle Anpassung und eben auch für das Aufführen von anderen partizipativen Instrumenten vorsieht. So findet man in der Mustersatzung unter dem Abschnitt der Bürgerbeteiligung die folgenden Unterpunkte: Beteiligungsberechtigte, Jugendbeteiligung in Form von Jugendräten, Seniorenbeteiligung in Form von Seniorenräten, Bürgerversammlungen, direkte Bürgerbeteiligung und innovative Formen der Bürgerbeteiligung.

Tab. 1: Übersicht der aufgeführten Beteiligungsformen in den Südtiroler Gemeinde­satzungen (Stand März 2016)

Jugendbeteiligung (Jugendrat)

Seniorenbeteiligung (Seniorenrat)

sonstige Beiräte

Bürgerversammlung

innova­tive Bürgerbeteiligung

Online- Bürgerforum

Sonstiges

erwähnt/ja

115 (106)

102 (92)

4

113

105

98

12

nicht erwähnt/nein

1 (10)

14 (24)

112

3

11

18

104

Quelle: Südtiroler Gemeindesatzungen, eigene Darstellung

Eine Sichtung der Gemeindesatzungen hat ergeben, dass die Mustersatzung in den Bereichen der Bürgerbeteiligung und Volksbefragung von fast allen Gemeinden nahezu wortwörtlich übernommen und nur in wenigen Unterpunkten angepasst wurde.5 Aus Tabelle 1 wird ersichtlich, dass infolgedessen auch die Beteiligungsformen aus der Mustersatzung in die einzelnen Gemeindesatzungen übernommen wurden. Insgesamt erwähnt nur die Satzung der Gemeinde Proveis keine Jugendbeteiligung und weitere neun führen keine (mögliche) Einsetzung eines Jugendrats an. Seniorenbeteiligung, die in der Mustersatzung deutlich mit „nach Ermessen“ markiert ist, wird trotzdem von 102 Gemeinden erwähnt, eine (mögliche) Einsetzung eines Seniorenrats erwähnen wiederum nur noch 92 Gemeinden. Die Möglichkeit, sonstige Beiräte einzusetzen, z. B. Familien- oder Ausländerbeiräte, wird in den Satzungen von vier Gemeinden gegeben (Bozen, Natz-Schabs, Meran und Wolkenstein). Die Praxis weicht allerdings stark von der Theorie ab und in der Realität haben nur wenige Gemeinden tatsächlich Jugend- oder Seniorenräte eingesetzt. Unter innovativer Bürgerbeteiligung versteht die Mustersatzung großteils Kommunikationsformen im Rahmen der E-Democracy.

Es gibt auch Beispiele von Gemeinden, die konkret über diese Mustersatzung hinausgehen, was unter dem Punkt Sonstiges in der Tabelle zusammengefasst ist. So schreiben die Satzungen von Mals und Kurtatsch z. B. den Bürgerhaushalt als Instrument fest, im Sarntal gibt es die informelle Bürgerbefragung und in Tramin die besonderen Beteiligungsformen im Umweltbereich. Artikel 56 der Gemeindeordnung Bozens sieht die öffentliche Debatte vor, wobei Artikel 21 der gesonderten Bozner Gemeindeordnung zur Bürgerbeteiligung jenes Instrument regelt. Im Jänner 2015 fand die erste öffentliche Debatte zum Thema „Plan für die städtebauliche Umstrukturierung des Areals zwischen der Südtiroler Straße, der Perathonerstraße, der Bahnhofsallee und der Garibaldistraße“ statt. Es hatten sich 37 Redner gemeldet.

Allgemein gilt festzuhalten, dass in Südtirol bisher insbesondere im Bereich der Leitbilder für die Gemeindeentwicklung partizipativ gearbeitet wurde. Jedoch trug diese Arbeit mehr dem Bedürfnis der Verwalter Rechnung, in Anwesenheit der Bevölkerung ihre Leistungen darzulegen, und nicht der Idee, systematische Beteiligungsprozesse aufzubauen (vgl. Gudauner et al. 2014). In Bezug auf partizipative Beteiligungsverfahren für Jugendliche und junge Erwachsene wurden in Südtirol nach den Gemeinderatswahlen 2015 viele Jugendbeteiligungsgremien neu bestellt. Mehrere Gemeinden arbeiten hierzu mit dem Südtiroler Jugendring zusammen, der seine Expertise unter anderem im Bereich der Begleitung der Gemeindejugendbeiräte anbietet (vgl. Peer 2015; ARGE Partizipation 2015). Allgemein gilt für die Autonome Provinz Bozen, dass partizipative Beteiligungsprojekte für junge Erwachsene immer mehr gemäß dem Leitsatz der Ko-Projektierung in die Wege geleitet werden (vgl. Bizzarri 2015).

4.2 Fallstudie Trentino

Tab. 2: Übersicht der aufgeführten Beteiligungsformen in den Trentiner Gemeindesatzungen (Stand März 2016)

Trentino

Jugendbeteiligung (Jugendrat)

Seniorenbeteiligung (Seniorenrat)

Frauenbeteiligung (Frauenrat)

Bürgerversammlung

innova­tive Bürgerbeteiligung

Bürgerbefragung

Sonstiges

erwähnt/ ja

106 (90)

100 (78)

82 (78)

62

3

135

22

nicht erwähnt/ nein

82 (98)

88 (110)

106 (110)

126

185

53

166

Quelle: Trentiner Gemeindesatzungen, eigene Darstellung

Im Trentino folgen die Gemeinden nicht ganz so uniform einer Mustersatzung, sondern scheinbar drei oder vier verschiedenen Varianten, oder weichen komplett von anderen Gemeindesatzungen ab (Stand März 2016). So lassen sich hier schwerer als in Südtirol generelle Tendenzen ableiten. Auffällig ist jedoch, dass gerade die älteren Satzungsvarianten hauptsächlich direkt-demokratische Elemente beinhalten und Partizipation mit diesen gleichsetzen. Partizipative Beteiligungsinstrumente werden kaum berücksichtigt. Eine Ausnahme wäre die Bürgerbefragung. Die neueren Fassungen hingegen regeln in weitaus größerem Maße z. B. Bürgerversammlungen, Bürgerkomitees und Jugend- und Seniorenräte. Auch ist die Bürgerbeteiligung in den neueren Satzungen weiter nach oben gerutscht und oftmals schon im zweiten Abschnitt der Satzung untergebracht. Gerade in den neueren Satzungen fällt auf, dass die partizipativen Bürgerbeteiligungsverfahren, die letztendlich explizit in den Satzungen genannt werden, darauf ausgerichtet sind, die Beteiligung von spezifischen Bevölkerungsgruppen verstärkt zu fördern. Im Trentino haben insbesondere Senioren-, Jugend- und Frauenbeteiligungsbestreben einen hohen Stellenwert in den Satzungen und sind oft als Gruppen genannt, denen besondere Rücksicht gilt. So erwähnen 106 Gemeinden die Wichtigkeit von Jugendbeteiligung, von denen 90 Gemeinden die Möglichkeit geben, einen Jugendrat einzurichten, 100 die Seniorenbeteiligung und 78 die Möglichkeit eines Seniorenrates, sowie 82 Gemeinden die Frauenbeteiligung und 78 die Möglichkeit zu einem Frauenrat (im Vergleich dazu ist die Anzahl der sonstigen in den Satzungen genannten Beiräte in Südtirol sehr gering). Die Bürgerversammlung, die in Südtirol in fast allen Satzungen aufgeführt ist und die auch in der Tiroler Gemeindeordnung als verpflichtend geregelt wird, wird im Trentino von nur 62 Gemeinden genannt, während 126 sie nicht in ihren Satzungen erwähnen. Innovative Bürgerbeteiligungsinstrumente werden sogar nur von drei Gemeinden genannt (Pergine Valsugana, Villa Lagarina, Sella Giudicarie). Die Bürgerbefragung hingegen findet sich in 135 Satzungen wieder, während sie in Südtirol eher selten genannt wird. Unter Sonstiges sind hier Beteiligungsmöglichkeiten wie Treffen verschiedener Interessengruppen mit dem Bürgermeister, die Popularklage oder Stadtviertelversammlungen angeführt. Des Weiteren sieht z. B. die Satzung ­Roveretos das Instrument der öffentlichen Debatte vor.

Hervorzuheben ist die umfassende Reform der lokalen Verwaltung in der Autonomen Provinz Trient. Die sogenannten Talgemeinschaften wurden als eine behördliche Zwischenebene zwischen der Gemeinde und der Provinz mittels Landesgesetz Nr. 3/2006 mit dem Ziel eingerichtet, einen Teil der Zuständigkeiten der Provinz auf die Gemeinde zu übertragen (vgl. Brunazzo 2011). Teile der Bestimmungen des Landesgesetzes Nr. 3/2006 wurden durch das Landesgesetz Nr. 12/2014 abgeändert. Es handelt sich dabei um Bürgerbeteiligungsverfahren an den Entscheidungsprozessen der Talgemeinschaften. Im Detail sehen die Artt. 17 decies bis 17 sedecies Folgendes vor: Partizipationsberechtigt an den Diskussionsforen sind Personen ab dem 16. Lebensjahr und die für den jeweiligen Prozess relevanten Interessengruppierungen. Die Beteiligungsverfahren können auf Initiative der Gemeinden, der Talgemeinschaften, der Interessengruppierungen und von mindestens 5 Prozent der Einwohnerschaft einer Talgemeinschaft beantragt werden. Eine unabhängige Behörde für Partizipation bestehend aus einem Beamten aus der Verwaltung der Provinz und zwei Experten im Bereich partizipativer Demokratie soll auf lokaler Ebene eingerichtet werden. Die Behörde wird von der Trentiner Landesregierung für fünf Jahre nominiert, soll mindestens zweimal im Jahr tagen und soll partizipative Prozesse sowohl werten und begleiten als auch selbst initiieren. Sie soll all jene partizipativen Prozesse federführend durchführen, die verpflichtend sind. Konkret müssen in den Bereichen Genehmigung von Sozialplänen, Leitfäden zur wirtschaftlichen Entwicklung sowie bestimmter Investitionen auf dem Territorium Diskussionsprozesse von – im Regelfall – einer Maximaldauer von drei Monaten eingeleitet werden. Die Bestimmungen sehen vor, dass die Ergebnisse beratender Natur sind und die Letztentscheidungsbefugnis der für den Fall relevanten Verwaltungsbehörde zusteht. Jedoch muss jene ihre abweichende Entscheidung bzw. die Nichtberücksichtigung der Ergebnisse schriftlich begründen.

Im Allgemeinen werden die Bürgerinnen und Bürger im Trentino vor allem bei der Erstellung von Leitfäden und Plänen im Bereich des Sozialen, der strategischen Entwicklung, der Anliegen der Agenda 21 usw. mit einbezogen (vgl. Bobbio/Pomatto 2008). In Bezug auf die Einbindung von jungen Erwachsenen können die sogenannten Piani giovani di zona genannt werden, bei denen sowohl die Landesebene als koordinierende und finanzierende Instanz als auch die involvierten Gemeinden nach dem Prinzip der Ko-Projektierung Initiativen zusammen mit den Akteurinnen und Akteuren vor Ort andenken und umsetzen (vgl. Provinz Trient 2016). Aus institu­tioneller Sicht beschäftigen sich, ähnlich wie in Südtirol, mehrere Abteilungen mit dem Thema der partizipativen Demokratie, wobei eine systematische Arbeits- und Herangehensweise noch nicht vorherrscht.

5. Resümee

Unter der Annahme, dass partizipative Beteiligungsmodelle auf Gemeindeebene sowohl eine Neubelebung der Volkssouveränität als auch des Subsidiaritätsprinzips bewirken, hat die Recherche ergeben, dass derzeit partizipative Formen der Mitgestaltung zwar angedacht und verankert, aber nur vereinzelt erprobt und seitens der Gemeindeverwaltungen oft ohne wirkliches Interesse an einer kontinuierlichen Einbindung der Bürgerinnen und Bürger eingesetzt werden. Gründe hierfür mögen fehlendes Sachwissen über die Vielfalt an Beteiligungsmodellen, fehlende Ressourcen oder auch die mangelnde Bereitschaft der Bürgerinnen und Bürger sein, solche Beteiligungsprozesse einzufordern und zu nutzen. Daraus ergibt sich aus theoretischer Sicht, dass partizipative Instrumente derzeit in den Gemeinden vorwiegend informell und experimentell mit dem Ziel der Information und Konsultation mittels eines Top-down-Dialogs seitens der Gemeindeverwaltungen genutzt werden bzw. deren Anwendung oftmals vom Gutdünken der Bürgermeisterin bzw. des Bürgermeisters oder der Gemeinderäte abhängen. Die Diskrepanz zwischen vorgesehenen und reellen Maßnahmen ist groß, wobei man hiervon nicht automatisch ableiten kann, wie es um die Beteiligungskultur allgemein bestellt ist. Die Partizipationskultur sowie das Freiwilligenengagement sind in allen drei Landesteilen nämlich sehr ausgeprägt, auch wenn sie großteils kaum über die Dimension der organisierten Zivilgesellschaft hinausgehen. Daraus ergibt sich, dass in der Europaregion Tirol-Südtirol-Trentino eine große Bandbreite an Handlungsfeldern und Akteurinnen und Akteuren zum Thema der partizipativen Demokratie im weiteren Sinne präsent ist. Inwiefern die Gemeinden der Europaregion Tirol-Südtirol-Trentino Werkstatt der Re-Demokratisierung der Demokratie (vgl. Allegretti 2010) werden können, ist kontextgebunden und hängt – wenn auch nur bedingt – von der Institutionalisierung partizipativer Instrumente ab. Denn einer Beteiligungskultur wohnt eine Bottom-up-Dimension inne, welche ihren institutionellen Top-down-Ausgestaltungsformen vorgeht und für deren Wirksamkeit ausschlaggebend ist. Impulse von außen, wie die Lokale Agenda 21 oder die Europäisierung, sind sicherlich von Nutzen sowohl für systeminterne Reformen mittels Bürgerbeteiligung, als auch für den Ausbau eines kooperativen Politik- und Verwaltungsstils. Dem Ausbau partizipativer Bürgerbeteiligungsmodelle muss nämlich ein gutes Zusammenspiel aller in der Gemeinde demokratischen Kräfte zugrunde liegen, das langfristig dazu beiträgt, den Begriff der Bürgernähe neu zu interpretieren. Einerseits um Demokratiedefiziten entgegenzuwirken, andererseits um partizipative Beteiligungsmodelle nachhaltig umzusetzen.

Anmerkungen

1 Wir danken Diana Ortner (Dorferneuerung Tirol, Lokale Agenda 21), Reinhard Macht (Leitung Fachbereich Jugend, JUFF Tirol), Martina Steiner (JAM – Jugendarbeit Mobil), Kevin Hofer (Südtiroler Jugendring), Luca Bizzarri (Amt für Jugendarbeit der Autonomen Provinz Bozen für die italienische Sprachgruppe) und Francesca Gnech (Amt für Jugendarbeit der Autonomen Provinz Trient) für die Hilfe und die Informationen.

2 Siehe diverse Beiträge in diesem Band.

3 Prozesse im Rahmen der Lokalen Agenda 21 werden vom Land Tirol in Abhängigkeit der Gemeindefinanzen mit bis zu 75 Prozent der Kosten gefördert, wobei für lokale Prozesse die Förderhöhe max. 20.000 € netto beträgt und für regionale Prozesse max. 15.000 € netto Basisförderung plus max. 5.000 € netto pro teilnehmende Gemeinde. Zusätzlich werden die Gemeinden durch professionelle Begleitung des Prozesses in der Vorbereitung, Öffentlichkeitsarbeit und Nachbetreuung unterstützt (vgl. Amt der Tiroler Landesregierung 2015).

4 Die Finanzierung der Jugendgemeindeberatung wird vom Land Tirol übernommen, wobei die Gemeinden mit 300 € an den Kosten beteiligt werden und anfallende Spesen tragen, sowie die Räumlichkeiten und Ansprechpartner zur Verfügung stellen.

5 Die Satzung der Stadt Bozen verweist hinsichtlich der Tätigkeit der Stadtgemeinde auf die Europäische Charta der lokalen Selbstverwaltung. Die am 01.09.1988 in Kraft getretene Charta ist das einzige europäische Rechtsinstrument mit einem Überwachungsmechanismus, das die Grundsätze lokaler Selbstverwaltung und einer bürgernahen kommunalen Demokratie regelt. Hervorzuheben ist auch das Zusatzprotokoll vom 01.06.2012 über Beteiligungsrechte in den Angelegenheiten lokaler Gebietskörperschaften (vgl. Kiefer 2014).

Literaturverzeichnis

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Allegretti, Umberto (2010). Democrazia partecipativa – Esperienze e prospettive in Italia e in Europa, Firenze: Firenze University Press

Amt der Tiroler Landesregierung – Geschäftsstelle für Dorferneuerung Lokale Agenda 21 Leitstelle (2015). Gemeindeübersicht Lokale Agenda 21 Prozesse, www.tirol.gv.at/landwirtschaft-forstwirtschaft/agrar/dorferneuerung-tirol/ (11.03.2016); die aktuellsten Daten (Stand September 2015) wurden mittels persönlicher Korrespondenz der Autorinnen erhoben; ein vergleichbares Dokument vom April 2014 ist auf der genannten Webseite zu finden

ARGE – Partizipation (2015). Gesamtschau Partizipationsaktivitäten Österreich und Südtirol, auf Anfrage erhalten über den Südtiroler Jugendring (www.jugendring.it) (11.03.2016)

Benedikter, Thomas/Michelotto, Paolo (2014). Die Gemeindepolitik mitgestalten. Ideen und Verfahren für direkte Bürgerbeteiligung in der Gemeinde. Ein Leitfaden, Bozen: Politis

Bizzarri, Luca (2015). Pfade der Partizipation und Jugendpolitik in Europa und in der Autonomen Provinz Bozen, in: Alber, Elisabeth/Trettel, Martina (Hg.), Partizipation und partizipative Demokratie in der Europaregion Tirol-Südtirol-Trentino: Denkanstöße und Beispiele, Bozen: EURAC research, 85–103

Bobbio, Luigi/Pomatto, Gianfranco (2008). Partecipazione e conflitti nella Provincia autonoma di Trento, in: Fabbrini, Sergio (Hg.), Partecipazione e Governance - Rapporto sulla Qualità della Democrazia in Trentino, Trento: Provincia autonoma di Trento, einsehbar unter www.provincia.tn.it/link_home/pagina26.html (11.03.2016)

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JAM – Mobile Jugend- und Gemeinwesenarbeit (2014). Tätigkeitsbericht Tiroler Jugendgemeinde-Beratung, auf Anfrage erhalten über http://jugendarbeit-mobil.at/wp/ (11.03.2016)

Karlhofer, Ferdinand (2009). Zeitenwende oder Zwischenspiel? Die Landtagswahl 2008 und ihre Folgen, in: Karlhofer, Ferdinand/Pallaver, Günther (Hg.), Politik in Tirol – Jahrbuch 2009, Innsbruck/Wien/Bozen: StudienVerlag, 9–25

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