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Alice Engl/Günther Pallaver

Dynamiken der Entscheidungsfindungs­prozesse zwischen Konsens und Dissens

Dynamics of decision-making between consensus and dissent

Abstract Decision-making processes are expressions and results of power relations. If decisions are made by dialogical consensus, consensus is sought in advance of formal decision-making. This means that all relevant actors are involved in the search for a common position, so that there is broad consensus in the final vote. With regard to the decision-making processes in the Convention of 33 and the Consulta, we argue that the Convention of 33 initially was oriented towards a dialogical consensus decision, moving however to a conflict-oriented majority decision at the end of its work. In contrast, the Consulta worked very consensually, especially in the final phase. In the Consulta, the following factors created good conditions for a trusting and consensual attitude of the involved actors: a de-politicized leadership; a de-politicization of topics; and a three-phase process that brought together the different perspectives. The Convention of 33, however, withdrew from consociationalism during its work and adopted a rather conflict-oriented majority decision-making process over the dialogical consensus decision.

1. Einleitung und theoretischer Zugang

Entscheidungsprozesse sind nicht nur formale Abläufe, sondern immer Ausdruck und Ergebnisse von Machtverhältnissen. Dabei rücken Handlungen, Praktiken und Strategien von Akteuren in den Mittelpunkt des analytischen Interesses. In diesem Rahmen sind die Akteure am Entscheidungsprozess zu berücksichtigen, die Indi­vidual- genauso wie die Gruppeninteressen. Das Ergebnis solcher Beobachtungen verdichtet sich in drei Modi der Entscheidungsfindung: i. hierarchisch-führungszentrierte Entscheidungen, ii. dialogische Konsensentscheidungen und iii. konflikt­orientierte Mehrheitsentscheidungen (vgl. Treibel 2013, 362).1

Bei den hierarchisch-führungszentrierten Entscheidungen sind es wenige politische Eliten, die bereits informell vor der Beschlussfassung entscheiden. Die Entscheidung selbst fällt nicht partizipativ, sondern hierarchisch von oben nach unten. Die „zeremonielle Fassade“ der Beschlussfassung muss allerdings gewahrt werden.

Bei der dialogischen Konsensentscheidung wird im Vorfeld einer formalen Beschlussfassung ein Konsens gesucht. Dies kann in informellen Regelsystemen erfolgen oder bilateral zwischen den jeweiligen Akteursgruppen. Das bedeutet, dass möglichst alle für den Prozess relevanten Akteure an der Konsenssuche beteiligt werden, sodass bei der Schlussabstimmung ein breiter Konsens gegeben ist.

Bei der konflikthaften Mehrheitsentscheidung war die informelle Konsensfindung nicht erfolgreich. Unterschiedliche Positionen stehen sich gegenüber, die öffentlich diskutiert werden, wobei um Pro- und Kontrameinungen gerungen wird. Neben den kontrastiven Positionen gibt es auch Unentschlossene. Beide Gruppen sind jedenfalls bestrebt, ihre Konsensbasis auszuweiten. Den mit Autorität ausgestatteten Funktionsträgerinnen und Funktionsträgern kommt gegenüber den anderen Entscheidungsträgern eine entscheidende Bedeutung zu, insbesondere für die Positionierung von Unentschlossenen. Mehrheitsentscheidungen werden in einer abschließenden Abstimmung gefällt (vgl. Treibel 2013, 363 – 365).

Diese drei Modi der Entscheidungsfindung können auch für den Konvent der 33 und die Consulta herangezogen werden. Unsere These lautet dabei, dass der Konvent der 33 in der Anfangsphase sehr um eine dialogische Konsensentscheidung bemüht war, in der Endphase aber die konfliktorientierte Mehrheitsentscheidung überhandnahm, während die Consulta sehr konsensorientiert arbeitete, vor allem in der Endphase.

2. Voraussetzungen der Entscheidungsfindung in der Consulta

Am Montag, den 26. März 2018 hat die Consulta nach eineinhalb Jahren Tätigkeit und 25 Sitzungen ihre Arbeit abgeschlossen und einstimmig ein Abschlussdokument angenommen.

Die Entscheidungsfindung im Wege der Einstimmigkeit wurde vor allem durch die Rahmenbedingungen ermöglicht, welche die Diskussionen und Entscheidungsprozesse in der Consulta strukturiert und gelenkt haben, wie die folgenden Ausführungen zeigen.

Das Landesgesetz zur Einrichtung der Consulta schreibt – im Gegensatz zum Landesgesetz über den Konvent der 33, wie im nächsten Abschnitt erläutert wird – kein bestimmtes Entscheidungsverfahren vor, sondern überlässt der Consulta die Organisationshoheit, indem sie selbst über Funktionsweise und Verfahren entscheiden kann („La Consulta può disciplinare con regolamento le sue modalità di funzionamento“, Trentiner Landesgesetz 1/2016 Art. 2 Abs. 4; vgl. legge provinciale 2016). Auf der Grundlage dieser Bestimmung hat sich die Consulta aber keine gebündelte Geschäftsordnung gegeben, sondern allfällige Fragen zu den Arbeitsverfahren in Einzelentscheidungen getroffen und in der Regel per Akklamation angenommen. Solche Entscheidungen betrafen beispielsweise die Wahl des Vizepräsidenten, die Gründung einer Arbeitsgruppe zur Planung der Partizipationsphase, die Aufarbeitung der Inhalte mit Hilfe von Referentinnen und Referenten, und eben auch das konsensorientierte Beschlussfassen.

Der Weg zu einer konsensorientierten und schließlich einstimmigen Beschlussfassung wurde unter anderem durch folgende Faktoren geebnet: eine de-politisierte Führungsstruktur der Consulta; eine De-Politisierung der Themen; und ein Drei-Phasen-Prozess, der die unterschiedlichen Perspektiven zusammenführte. Diese drei Faktoren schufen gute Voraussetzungen für eine vertrauensvolle und konsensförderliche Grundhaltung der beteiligten Akteure.

Den Vorsitz in der Consulta hatten die beiden Universitätsprofessoren Giandomenico Falcon als Präsident und Jens Woelk als Vizepräsident inne. Damit lag die Leitung der Consulta, im Gegensatz zum Konvent der 33, nicht in politischer Hand. Diese de-politisierte Führungsstruktur hat die Arbeit in der Consulta wesentlich geprägt, vor allem durch die technischen Arbeitsweisen, die von der Präsidentschaft vorgeschlagen und von den Mitgliedern angenommen wurden. Und auch insgesamt orientierte sich die Zusammensetzung der Consulta stark an einer Präsenz fachlicher Vertreter, vor allem durch Universitätsprofessoren und andere Experten, was parteipolitische Diskussionen in den Hintergrund rückte.

Die von der Präsidentschaft der Consulta durchgesetzte technische Arbeitsweise führte zu einer gewissen De-Politisierung der Themen, wie folgendes Beispiel zeigt. Für die inhaltliche Erarbeitung der Themen wurde eine sogenannte Referentenmethode angewandt, bei der jedes Thema von einem bestimmten Referenten bearbeitet wurde. Die Referenten haben die einzelnen Themen sowohl für die Debatte in der Consulta als auch das Abschlussdokument aufbereitet, sowohl durch mündliche Referate als auch durch eine schriftliche Ausarbeitung.

Damit lag der Großteil der inhaltlichen Arbeit zwar in der Hand von diesen Referentinnen und Referenten und dementsprechend zentral war ihre Rolle für die ­gesamte Tätigkeit der Consulta und letztlich auch für die Entscheidungsprozesse. Aber diese Methode trug entscheidend dazu bei, politische Machtverhältnisse auszugleichen und unterschiedliche Ansichten, die im Zuge der Diskussion im Plenum und in der Partizipationsphase zu einem Thema aufkamen, in die jeweilige Abhandlung einzuarbeiten.

Für das Abschlussdokument haben die Referenten zu jedem Thema unter Einarbeitung der Ergebnisse der Diskussionen in der Consulta und der Ergebnisse der Partizipationsphase einen Bericht geschrieben, der folgende Punkte enthielt: Überblick über die gegenwärtige Lage mit einer rechtlichen und politischen Kontextualisierung, Informationen über die Ergebnisse der Partizipationsphase und Auflistung der Vorschläge zur Änderungen des Autonomiestatuts mit einer ausführlichen argumentativen Begründung.

Entlang dieser Punkte wurde schließlich auch das Abschlussdokument strukturiert. Jedes Kapitel beginnt mit Vorschlägen, die anschließend kontextualisiert und begründet wurden. Das Ergebnis ist ein langes und teilweise sehr ausführliches Abschlussdokument – an der Seitenzahl gemessen doppelt so lang wie jenes des Konvent der 33 – das in seiner Gesamtaussage von allen Vertreterinnen und Vertretern in der Consulta mitgetragen werden konnte, auch von jenen, die mit einigen Punkten nicht einverstanden waren.

Ein weiterer wichtiger Faktor für die Konsensorientierung in der Consulta war schließlich auch der Drei-Phasen-Prozess, der die Arbeit der Consulta in drei Schritte teilte. Diese Methode hat dazu beigetragen, anfangs bestehende Meinungsunterschiede zu überwinden. Den ersten Schritt in diesen drei Phasen bildete das sogenannte vorläufige Dokument der Consulta zur Reform des Sonderstatuts für Trentino-Südtirol, das für die Partizipationsphase erarbeitet wurde. Dieses gliederte sich in Leitsätze, die von der gesamten Consulta getragen wurden, und sonstige Empfehlungen, die im Laufe der Diskussionen zum Ausdruck kamen, aber nicht von allen befürwortet wurden, also Minderheitenmeinungen. Minderheitenmeinungen gab es zu allen acht Themen, nämlich Grundlagen der Autonomie und Präambel; Rollen, Aufgaben und Beziehungen der Autonomen Provinzen und der Region; Sprachminderheiten; Gemeinden, Formen des Zusammenschlusses und Vertretung; Regierungsform von Provinz und Region; Direkte Demokratie, Bürgerbeteiligung und gute Verwaltung; sowie Finanzressourcen und finanzielle Verpflichtungen (Con­sulta 2017).

Besonders in dieser Anfangsphase konnten diese unterschiedlichen Meinungen gut integriert werden, da für die Partizipationsphase ein pluralistisches Dokument nicht als Hindernis, sondern im Gegenteil als diskussionsförderlich erachtet wurde. Dies ermöglichte eine relativ unkontroverse Handhabung der Minderheitenmeinungen. Diese wurden von Beginn an bei den Diskussionen berücksichtigt und in das vorläufige Dokument integriert.

Im Zuge der zweiten, partizipativen Phase und der dritten und damit abschließenden Phase im Plenum der Consulta wurden die Themen aus unterschiedlichen Blickwinkeln diskutiert und durch das durch Referenten geleitete Verfahren aufgearbeitet. Im Laufe dieser Arbeiten gelang es schließlich, die unterschiedlichen Perspektiven zu konsensfähigen Vorschlägen für alle acht Themen zusammenzuführen, die am Ende einstimmig angenommen wurden.

Selbstverständlich sind die allgemeinen Rahmenbedingungen für einen partizipativen Prozess im Trentino von vornherein weniger konfliktträchtig als in Südtirol, vor allem aufgrund der unterschiedlichen politisch-institutionellen und gesellschaftlichen Voraussetzungen. So gibt es zum Beispiel keine Polarisierung aufgrund der Konfliktlinie zwischen den Sprachgruppen und auch kein so kontroverses Thema wie die Selbstbestimmung. Demgegenüber hat Südtirol aber deutlich mehr Erfahrung mit konsensorientierten Entscheidungsverfahren, vor allem aufgrund seines konkordanzdemokratischen politischen Systems.

Konfliktträchtige allgemeine Rahmenbedingungen sind kein Hindernis für konsensorientiertes Arbeiten, wie das historische Beispiel in Abschnitt 4 zeigt. Die besondere Herausforderung für Gremien, die Vorschläge für Verfassungsänderungen erarbeiten, liegt darin, politische und gesellschaftliche Konfliktlinien zu überwinden und einen breiten Konsens der relevanten Akteure zu erzielen. Deshalb müssen Konsensformeln die politisch-institutionellen Rahmenbedingungen überbrücken, zum Beispiel durch de-politisierende und die Machtverhältnisse ausgleichende Arbeitsweisen, wie sie in der Consulta angewandt wurden.

3. Voraussetzungen der Entscheidungsfindung im Konvent der 33

Der Konvent der 33, der am 30. Juni 2017 seine letzte Sitzung abhielt, ist in seiner Abschlussdiskussion wieder an seinen Start zurückgekehrt. Alles kreiste um das Wort Konsens und was darunter zu verstehen sei. Damit hatte die Debatte unter den 33 begonnen, damit endete sie, darüber wurde gestritten.

Das Landesgesetz, mit dem der Konvent 2015 eingerichtet wurde, sieht nämlich vor, dass dieser „nach dem Konsensprinzip“ arbeitet (Landesgesetz Nr. 3/2015, Art 1, Abs. 2). Aber was ist Konsens? Eigentlich bedeutet Konsens, dass alle am Entscheidungsprozess Beteiligten dem Ergebnis aus denselben verallgemeinerbaren Gründen zustimmen, beim Kompromiss hingegen tun sie dies aus unterschiedlichen, auch nicht verallgemeinerbaren, und privaten Gründen (vgl. Landwehr 2012, 361), beim Mehrheitsprinzip bleibt der Dissens bestehen.

Darüber hat der Konvent der 33 Ende Mai letzten Jahres eine ganze Sitzung aufgewendet, ohne zu einem eindeutigen Schluss, zu einem Konsens zu kommen. Außer: es sollte nicht über das Abschlussdokument abgestimmt werden, weil abstimmen bedeutet, dass es eine Mehrheit gibt, die gewonnen, und eine Minderheit, die verloren hat.

Einig war sich der Konvent der 33 auch, dass er kein Dokument in Artikeln gegliedert erarbeiten kann. 2016 verabschiedete der Gesetzgeber deshalb eine Er­gänzung des Gesetzes zur Einsetzung eines Konvent der 33. Diese sieht vor, dass der Autonomiekonvent zur Vervollständigung seiner Arbeit (Art. 17 c), „eine Vorschlagsphase (vorzusehen hat), in der ein Dokument ausgearbeitet wird, welches Vorschläge für den Landtag zur Überarbeitung des Autonomiestatuts enthält. Das Dokument wird an die Präsidentinnen oder Präsidenten der Landtage von Trient und Bozen und der Präsidentin oder dem Präsidenten des Regionalrates übermittelt. Auch die Verfassung und Übermittlung von Minderheitenberichten ist möglich“ (Landesgesetz 27/2016).

Die Streichung des Passus’ „in Artikeln gegliedert“ löst aber nicht den Widerspruch zwischen dem Konsensprinzip und der Möglichkeit der Abgabe von Minderheitenberichten. Der Logik des Prinzips des Grundkonsenses wohnt die verhandlungsorientierte Logik inne.

Der Abschlussbericht verdeutlicht diesen Widerspruch. Im verabschiedeten Abschlussbericht der 33 wird bei all den Punkten, bei denen es keinen Konsens gab, auf den Dissens bzw. auf die Alternativvorschläge hingewiesen. Damit wird die Mehrheits- und die Minderheitenmeinung festgeschrieben, letztere kommt unter anderem auch in den fünf Minderheitenberichten zum Ausdruck, die vom Konvent der 33 zur Kenntnis genommen wurden. Während zu Beginn des Konvent der 33 auf die dialogische Konsensentscheidung hin gearbeitet wurde, kam es bei der Abfassung des Endberichts zu einer konfliktorientierten Mehrheitsentscheidung. Die Argumente der Minderheit, bestimmte Themen wie etwa jenes der Selbstbestimmung, nicht in die Präambel aufzunehmen, wurden von der Mehrheit nicht berücksichtigt. Die breite Mehrheit bildeten dabei vor allem die deutschsprachigen Mitglieder, die Minderheit in erster Linie die italienischen Mitglieder, insbesondere, wenn man die Minderheitenberichte ansieht: Roberto Bizzo, Roberto Toniatti, Maurizio Vezzali, Riccardo Dello Sbarba/Laura Polonioli (Autonomiekonvent 2017).

4. Drei Problemfelder und ein historisches Vorbild

Dieser Grundwiderspruch weist auf drei Problemfelder hin. Erstens stammen alle Minderheitenberichte von Mitgliedern der italienischsprachigen Minderheit des Konvent der 33, die zweitens die Mehrheit der im Konvent der 33 vertretenen Italiener darstellen, das wären fünf von neun. Und drittens handelt es sich bei den kontroversen Punkten um grundlegende Fragen. Dazu zählen beispielsweise die Aufnahme der christlichen Wurzeln und des Selbstbestimmungsrechts in die Präambel, die künftige Rolle der Region, die Abschaffung oder die Beibehaltung des Regierungskommissariats, die Ansässigkeitsklausel, das Schulsystem, der ethnische Proporz, der Pakt für das Zusammenleben und andere Punkte.

Diese drei Punkte zusammen genommen stellen jenseits vom spezifischen Fall des Konvents der 33, der laut Gesetz im Konsens arbeiten sollte, einen Bruch in der Konkordanzdemokratie Südtirols dar, bei der das Prinzip der Mehrheitsentscheidung zugunsten der Kooperation stark relativiert ist (Pallaver 2016, 66). Es herrscht nicht nur das Prinzip, alle Sprachgruppen an den Entscheidungsfindungsprozessen mit ein zu beziehen, sondern auch, dass in grundsätzlichen Fragen keine Sprachgruppe von der anderen überstimmt wird (auch wenn das in der Vergangenheit vereinzelt vorgekommen ist). Grundsätzlich herrscht die Logik des „gütlichen Einvernehmens“, der amicabilis compositio.

Diese Grundsätze des Verfahrens haben sich in Südtirol bewährt. Es sind nicht die Kompetenzen, die Südtirols Autonomie auch international so besonders machen, sondern die Methode, die zur Befriedung des ethnischen Konflikts geführt hat (vgl. Alber 2017). Und an dieser Methode wurde im Konvent der 33 vorbei entschieden.

Nun wird es einen ersten Einspruch geben. Der Konvent der 33 unterbreitet dem Landtag nur einen Vorschlag. Erst dieser ist dann angehalten, das Prinzip der Konkordanz zur Anwendung zu bringen. Rein formal ist dies korrekt. Aber in der sozialen Wirklichkeit hinterlassen provokative Anlassfälle tiefgreifende Spuren, die später wieder mühsam saniert werden müssen. Erodiert wird nämlich bereits im Vorfeld der Landtagsdebatten zur Autonomiereform einer der wichtigsten „synthetischen Kräfte“ (Simmel 1992, 393) innerhalb der Südtiroler Gesellschaft, nämlich das Vertrauen. Dieses bildet die Voraussetzung für die Kooperation unter den Sprachgruppen. Die Kooperation ist wiederum Voraussetzung für eine Gesellschaft, die einen höheren Grad an Gemeinwohl (Putnam 1993) besitzt als eine, in der Misstrauen herrscht. Vertrauen ist aber auch ein Indikator für die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit eines Landes (Fukuyama 1995).

Wie es auch anders gehen kann, wie Vertrauen gewonnen werden kann, zeigt uns ein Blick in die Geschichte. Bei der Erarbeitung des Zweiten Autonomiestatuts wurde nämlich dieselbe Methode wie beim Konvent der 33 angewandt. Die 1961 vom damaligen italienischen Innenminister Mario Scelba eingesetzte Neunzehnerkommission erarbeitete die Vorschläge für das neue Autonomiestatut, das dann im italienischen Parlament verabschiedet wurde und 1972 in Kraft trat (Scarano 2017). Im Konsenswege.

In der Neunzehnerkommission waren die deutschsprachigen Vertreter mit sieben Exponenten in der Minderheit. Neben einem Ladiner traten die Italiener mit elf Mitgliedern auf. Die Verhandlungen verliefen oft turbulent und verzögerten sich, mitunter wurden sie sogar sabotiert, aber letztendlich entwickelte sich laut Claus Gatterer eine Art „Korpspatriotismus“, der garantierte, dass die Arbeiten immer wieder in Gang gesetzt wurden, weil sich unter den Mitgliedern ein Vertrauensverhältnis gebildet hatte (Gatterer 1968, 1256 – 1261).

1964 übergab die Kommission ihr Verhandlungsergebnis dem italienischen Ministerpräsidenten Aldo Moro. Im 75 Seiten umfassenden Bericht gab es 26 Sachgebiete, die einstimmige Empfehlungen zur Reform des Autonomiestatuts beinhalteten. Bei diesen 26 Sachgebieten handelte es sich um grundlegende institutionelle und administrative Fragen zur Autonomie. In weiteren 35 Fällen wurden solche Reformen mehrheitlich angeregt, aber es handelte sich nicht um grundlegende Fragen. Und schließlich gab es noch weitere 51 Punkte, welche die Unterkommission der Neunzehnerkommission erarbeitet hatte, die von der Plenarkommission ohne Detailprüfung weitergeleitet wurden (Relazione 1964).

Die SVP hatte sich auf substantielle Kernpunkte konzentriert, weil ihr bewusst war, dass sie für ihre zentralen Forderungen einen Konsens benötigte. Und in der Tat, kein einziger substantieller Vorschlag wurde gegen den Willen der SVP verabschiedet. Auch die Neunzehnerkommission war ein rein konsultatives Organ, wie der Konvent der 33. Genauso wie der Konvent der 33 hat auch die Neunzehnerkommission lediglich Vorschläge unterbreitet, weil letztlich das Parlament die definitive Entscheidung zu treffen hatte.

Diese von allen mitgetragene Grundhaltung war eine zentrale Voraussetzung für eine auf Konsens beruhende Neugestaltung des Autonomiestatuts. Der telos der Arbeit war schon in der Neunzehnerkommission bestimmt worden, nicht erst im Parlament. Hingegen wird sich der telos im Konvent der 33 von jenem im Landtag ziemlich unterscheiden (wenn es jemals dazu kommen sollte). Aber auf dem Weg dorthin ist bereits so einiges an politischem Porzellan zerbrochen worden. Ja auch an der Arbeit in der Sechser- und Zwölferkommission hätte man sich ein Vorbild nehmen können. Bei der Debatte über die Durchführungsbestimmung zur Toponomastik war ein Mitglied dagegen, die Entscheidung wurde vertagt, um einen Konsens zu finden.

5. Kein Konsens, kein Kompromiss, eine Mehrheit

Und nun zum Konvent der 33: Nehmen wir als Beispiel ein Thema von grundsätzlicher Bedeutung. Die deutschsprachige Mehrheit im Konvent der 33 ist für die Verankerung des Rechts auf Selbstbestimmung in der Präambel. Die Mehrheit der Italiener im Konvent der 33 ist dagegen. Wir wissen, dass dies auch in der italienischen Bevölkerung Südtirols Vorbehalte hervorruft bis hin zu strikter Ablehnung. In dieser grundsätzlichen Frage gibt es keinen Konsens, aber die deutschsprachige Mehrheit wollte unbedingt daran festhalten. Das Argument der Mehrheit: Das Recht auf Selbstbestimmung ist in der Zwischenzeit universell gültig, eine gewohnheitsrechtlich geltende Norm des Völkerrechts und von einer Reihe von internationalen Organisationen wie der UNO anerkannt, deshalb brauchen sich die Italienerinnen und Italiener vor dieser Verankerung in der Präambel nicht zu fürchten.

Aber sie fürchten sich trotzdem. In einer Konkordanzdemokratie der gütlichen Einigung würde man deshalb diesen Hinweis in der Präambel weglassen, weil auch umgekehrt argumentiert werden kann. Wenn das Recht auf Selbstbestimmung universell anerkannt ist, hängt dessen Geltung nicht davon ab, ob dieses in der Präambel des neuen Südtiroler Autonomiestatuts steht. Aber daran auf Biegen und Brechen festhalten zu wollen, auch wenn es substantiell nichts bringt, führt zum Verlust von persönlichem und institutionellem Vertrauen bei den Italienern. Kann dies der telos des Konvent der 33 sein?

Wir können es drehen und wenden wie wir wollen. Der Umstand, dass in Süd­tirol mehrere Sprachgruppen miteinander leben, hat diese zu einer „Schicksalsge­meinschaft“ zusammengeschweißt. Erfolg und Misserfolg der Südtiroler Gesellschaft hängen nicht mehr nur von einer, sondern von allen Gruppen ab, unabhängig von ihrer Größe oder ihrer Stärke. Südtirol ist heute mit einem gesellschaftlichen Minimumgesetz in Anlehnung an das Minimumgesetz der Pflanzen des Chemikers Justus von Liebig konfrontiert, das dieser 1828 aufgestellt hat. Dieses besagt, dass das Wachstum von Pflanzen durch die im Verhältnis knappste Ressource eingeschränkt wird. Mangelt es an einer solchen Ressource, und benötigt die Pflanze im Vergleich zu anderen auch nur ein Minimum davon, kann dieser Mangel nicht ausgeglichen werden, indem Ressourcen hinzugefügt werden, die bereits im benötigten Umfang vorhanden sind. Diese Logik gilt für alle Sprachgruppen in unserem Lande.

Der Konvent der 33 hat sich der Konkordanzdemokratie entzogen, der konfliktorientierten Mehrheitsentscheidung den Vorzug vor der dialogischen Konsensentscheidung gegeben, während die Consulta, obwohl nicht durch einen konkordanzdemokratischen Kontext geprägt, konsensorientiert arbeitete. Der Landtag hat die Chance, dieses Defizit des Konvent der 33 auszubessern. Es braucht nicht die numerische Macht der (deutschsprachigen) Mehrheit, sondern die Empathie der (italienischsprachigen) Minderheit gegenüber.

Anmerkungen

1 Die von Treibel erarbeiteten Modi der Entscheidungsfindung beziehen sich auf innerparteiliche Entscheidungsprozesse, können aber abgewandelt und adaptiert auch auf Entscheidungsprozesse wie den Konvent der 33 und die Consulta angewandt werden.

Literaturverzeichnis

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