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Hans Karl Peterlini

Das Unbehagen in der Geschichte

50 Jahre Feuernacht – eine Auseinandersetzung

1. Vorbemerkung: Das Unbehagen als Leitmotiv

Das Unbehagen war Sigmund Freud eine wertvolle Erkenntnisquelle, so sehr, dass er es in einer seiner wichtigen kulturtheoretischen Auseinandersetzungen in den Titel rückte: „Das Unbehagen in der Kultur“ (Freud 1974 [1930]). Mit Unbehagen nähere ich mich im Vorfeld eines Jubiläumsjahres einer Auseinandersetzung über die Feuernacht und ihre Folgen aus gegenwärtigem Blick – denn dies ist vielleicht das Wichtigste, was an diesem Thema noch zu tun ist: Die Taten sind verjährt, die Täter von einst sind zwar noch nicht alle rechtlich, aber gesellschaftlich weitgehend rehabilitiert, die Opfer von der Zeit nicht geheilt, aber mit dem Balsam des Vergessens bestrichen, die Rechnungen nicht alle beglichen, aber vergilbt. Die Dokumentationen sind üppig, vielfältig und teilweise schon vergriffen, erneuerte Auflagen angekündigt. Manche Klärung steht, zugegeben, noch aus: Der eine oder andere Masten trägt noch nicht die Plakette des oder der Attentäter (oder auch Attentäterinnen), die ihn in die Luft gejagt haben, der eine oder andere Mitwisser ist noch nicht restlos aufgeflogen, einige Täter gar nie bekannt geworden, was damals ein Glück und heute beinah ein Unglück ist, denn wie bei allen Kriegen will man nachher doch dabei gewesen sein. Vor allem die Blutbäder und kaltblütigen Morde der späten Phase sind noch von Zweifel und Verschwörungstheorien umrankt, aber für eine Einschätzung dessen, was zwischen 1956 und 1967 in Südtirol passiert ist, mit jenem Höhepunkt in der Herz-Jesu-Nacht 1961, liegt genug auf dem Tisch; wer es nicht wissen will, wird auch in Zukunft genug Zweifel finden, um dort Nebelbomben zu werfen, wo damals Bomben explodiert sind.

Was macht es dann aus, dass ein Ereignis sich im Abstand von 50 Jahren immer noch einem unbeschwerten Zugriff entzieht? Ich kann meine Momente des Unbehagens als eine Quelle der Erkenntnis dafür anbieten und daraufhin untersuchen, was an den Bombenjahren auch im Abstand von 50 Jahren noch nicht verdaut ist und damit quälend, irritierend, provozierend in unsere Gegenwart hineinwirkt. Das Unbehagen wird mir ein dreifacher Leitfaden sein: in der Darlegung der eigenen Betroffenheit, in der Auseinandersetzung mit der jüngeren wissenschaftlichen Aufarbeitung und in der Frage nach dem Unbehagen in unserer Kultur.

2. Die vergessenen Toten

Wenn ich vor Publikum aus meinem Buch über die „Südtiroler Bombenjahre“ (Peterlini 2005) lese, spüre ich die Stimmung – wie die ZuhörerInnen mitgehen, wie sie, etwa beim Kapitel über die Folterungen, die Augen senken, wie sie auch aufblühen, wenn manch erfrischende Geschichte über die Keckheit des Luis Am­platz und die Dreistigkeit der Pusterer Buam die Stimmung lockert. Komme ich dann zum Tod des jungen Carabiniere Vittorio Tiralongo, der zwei Tage vor seiner Ermordung noch seiner kleinen Tochter heimschrieb, leider habe er zum Geburtstag nicht frei bekommen, weil die amici tirolesi seine Pflicht vor Ort erforderten, ist die Stimmung meist: kalt, als würde die Luft stehen bleiben und alles Leben aus ihr entweichen. Tiralongos Ermordung ist nicht geklärt, die Schuld der Pusterer Buam weder gerichtlich bewiesen, noch faktisch wahrscheinlich, aber genauso gilt, dass ihr Wortführer Siegfried Steger selbst sich einmal nachdenklich geäußert hat, man könne nicht alles, was im Pustertal geschehen ist, dem Geheimdienst in die Schuhe schieben. Es habe mehrere Gruppen gegeben, seine sei es nicht gewesen, aber: „Ja, es hat so weit kommen müssen, dass es auch Tote gibt, leider“ (Peterlini 2005, 278f).

Wie billig liest sich gegen dieses Eingeständnis jene Fülle von Schlagzeilen, in denen regelmäßig der Triumph der Selbstgerechtigkeit durchklingt, dass Tiralongos Erschießung aus dem Hinterhalt eine mafiöse Abrechnung, ein Streit um ein Mädchen oder ein geheimdienstliches Komplott gewesen sei. Die Wahrheit lässt sich schwer feststellen, aber die Frage ist: Was wiegt die Wahrheit gegen den Hohn, einem Toten der Südtiroler 60er-Jahre das Recht abzustreiten, ein Toter der 60er-Jahre zu sein? Was wiegt die Wahrheit gegen die Ehrabschneidung, die der Tochter Tiralongos und ihrer Mutter seit Jahrzehnten widerfährt, wenn davon die Rede ist, dass er von den Brüdern eines geschwängerten Mädchens erschossen worden sei, weil er es nicht heiraten wollte, dass dieser Mord aber auf keinen Fall, auf gar keinen Fall irgendetwas mit Südtirol und seinen Anschlägen zu tun habe: Franca Cornella aus einem Trentiner Bergdorf am Molvenosee hatte den in Rom aufgewachsenen Carabiniere Tiralongo kennengelernt, als er in Trient stationiert war, sie bekamen ein Kind, die kleine Dina, aber er war erst 24 und Carabinieri durften damals erst mit 30 heiraten. Als er zur Terrorbekämpfung ins Pustertal kam, begann er seinen Austritt aus der Carabinieri-Waffe vorzubereiten, um Franca heiraten zu können, aber er kam nicht mehr dazu. Dina Tiralongo, die er von Anfang an als seine Tochter anerkannt hatte, wuchs mit dem bedauernden Getuschel auf, das sei die Kleine, die keinen Vater habe (Peterlini 2005, 275ff).

Wer weiß etwas von der Familie des Giovanni Postal, den am Morgen nach der Feuernacht eine Sprengladung an jenem Baum in Salurn zerriss, der die von den Attentätern gewünschte Grenze zu Italien symbolisieren sollte?1 Im Mailänder Prozess schauten auch die Kameraden weg, als – mit dem Montaner Hans Clementi – ein Unschuldiger verurteilt wurde. Über den wirklichen Täter wird auch 50 Jahre später nur gemunkelt und gerätselt. Die Familie des Opfers verweigerte sich der Öffentlichkeit, das Interesse an ihrem Leid war aber auch begrenzt – selber schuld klingt es in vielen Darstellungen durch, wenn einer so blöd ist, Hand an einen Sprengkörper zu legen statt die Polizei zu rufen. Was erinnert an den Soldaten Bruno Bolognese, der am Pfitscher Joch (23. Mai 1966) beim Öffnen der Tür eine Sprengfalle zündete, die ihn in Stücke riss; oder an die zwei in Gsies bei einem Feuerüberfall erschossenen Finanzer Salvatore Gabitta und Giuseppe D’Ignoti (24. Juli 1966); oder an Palmerio Ariu und Luigi De Gennaro in Sexten (26. August 1965), über die es ebenfalls gerne heißt, sie seien wohl einer süditalienischen Abrechnung zum Opfer gefallen, obwohl der eine aus Sardinien, der andere aus Bari kam? An der Porzescharte (25. Juni 1967), wo die Soldaten Armando Piva, Francesco Gentile, Mario di Lecce und Ulivo Dordi von den um einen gesprengten Masten ausgelegten Minenfallen getötet wurden, erinnerten lange nur billige, in die Erde gesteckte, bald umgefallene und verrostete Eisenkreuze an das Blutbad. So penibel die Prozesse geführt wurden, so erbärmlich war auch vonseiten des Staates die Erinnerungskultur, als wäre es das Beste, wenn Gras darüber wächst, über eine Geschichte des gemeinsamen Unbehagens. Auf der Steinalm (9. September 1966) kam mit seinen Kommilitonen Martino Cossu und Franco Petrucci auch einer der damals noch raren Südtiroler Carabineri, Herbert Volgger, ums Leben; auch seine Geschichte ist verweht. Die Liste der Anschläge ist beinahe vollkommen, die Liste der Toten eine vage Angelegenheit – rund 35 direkte und indirekte Opfer der Attentate insgesamt, darunter auch die an Folterfolgen gestorbenen Häftlinge, der Suizid mancher unschuldig Mitbetroffener, die Opfer von Überreaktionen oder von freundlichem Feuer nervöser Soldaten, aber auch der im Staatsauftrag ermordete Luis Amplatz.2 Noch 2004 erzählte mir eine der Töchter von Luis Amplatz, sie habe die ganze Nacht durchgeweint, als sie – zum 40. Todestag – mein Porträt über Amplatz las, es sei das erste Mal gewesen, dass sie es geschafft habe, etwas über ihren Vater zu Ende zu lesen.

3. Die unerhörte Leichtigkeit der Mythenbildung

Dem Verdrängen des Schattens, den eine Zeit des gewaltsamen Aufstandes auf Familien, Kinder, Kindeskinder und auf alle Erben der Gewalt wirft, ist oft eine Pose der geschwellten Brust und des geschwollenen Hahnenkamms beigestellt – seltener bei jenen, die wirklich dabei waren, die das Risiko der Tat und die Last der Verantwortung auf sich genommen haben; da mag es höchstens sein, dass der Kopf hoch getragen wird, um ihn nicht senken zu müssen, dass Stolz behauptet wird, um Verletzlichkeit zu verdecken: Freiheit und Leben riskiert zu haben, im Gefängnis gewesen zu sein, Jahre der familiären Entbehrung und gesellschaftlichen Ächtung hingenommen zu haben, um sich am Ende anpöbeln zu lassen, wie dumm und sinnlos und schädlich das eigene Handeln war, muss niemandem zugemutet werden. Schön und kaum erreicht hat Albrecht Ebensperger in den 70er-Jahren mit seinem Theaterstück über einen Heimkehrer der 60er-Jahre die Kälte nachgezeichnet, die Menschen entgegenschlug, die geglaubt hatten, der Heimat einen Dienst zu erweisen („Südtirol – ein Niemandsland“). Eine Tochter von Hans Clementi trat 2010 nach einer Diskussion über die 60er-Jahre an mich heran und sagte, sie frage sich schon manchmal: „War es das wert?“ Sie hatte als Kind keinen Vater und als Heranwachsende einen Vater, der aus dem Gefängnis zurückkam und ihr wie ein fremder Mann vorkam. Aber noch schlimmer sei gewesen mitzuerleben, wie der Vater seinen Lebensknick nie ganz überwinden konnte.

Andere Momente sind: Eine Buchpräsentation für die Schützenkompanie Auer mit Rosa Klotz3 am Podium und ihren Kindern im Publikum – nacheinander stehen sie auf und bekennen sich zur Tat des Vaters, zur Geschichte ihrer Familie. Oder: Siegfried Steger ballt bei einem Interview die Faust. Oder Sepp Innerhofer steht da, breit und unerschütterlich, zugleich mit einer Bescheidenheit, die nur auf einem beharrt: Es seien viele Fehler gemacht worden, man sei dilettantisch gewesen, ja, man sei auch radikal gewesen und rabiat, aber man habe in der Überzeugung gehandelt, dass etwas getan werden musste. Wer weiß, wie oft er vom Gefängnis zurück in die Kaserne geholt wurde, um weiter gefoltert zu werden, dass ihm Kunstvenen eingezogen werden mussten, um die grünblau geschlagenen Beine vor der Amputation zu retten, kann Achtung haben, auch wenn er manches anders bewerten mag. Schwerer fällt dies dann, wenn dieser Preis nicht gezahlt wurde, wenn aus der Sicherheit des Exils weitergehetzt wird oder das Nachdenken über die eigene Tat alles ausblendet, was sie auch angerichtet hat: Dann war die Feuernacht nur noch eine heilige Tat, die allein Südtirol gerettet hat, vor einer unheiligen staatlichen Politik, aber auch einer verdorbenen, nichtsnutzigen, verräterischen Südtiroler Politik und Diplomatie. Wenn mit Schaum vor dem Mund aufgerechnet wird, wie schändlich sich Landeshauptmann Silvius Magnago und Bischof Joseph Gargitter benommen hätten,4 wie sie – was sie nicht taten – weggeschaut hätten, während die AttentäterInnen gefoltert wurden, dann wird die berechtigte Solidarität für Gefolterte und Niedergedrückte veruntreut durch Selbstgerechtigkeit und umgewandelt in politisches Kleingeld. Dann wird die Einsicht ausgespart, dass die Attentate verpufft oder in einer Endloskette der Gewalt eskaliert wären, hätte nicht eine um gerechte Sachlösungen ringende Politik und Diplomatie das Beste aus dem Druck gemacht, der von den Anschlägen ausgegangen ist. Eine solche Optik veredelt Gewalt als Alternative zu einer pauschal abgewerteten und damit delegitimierten Politik. Darin verrät sich eine – bei vielen Protagonisten allerdings sehr wohl geläuterte – Last des schlechten Gewissens: Je schlechter und verdorbener das Land und seine Politiker waren, desto nötiger war der Aufstand, desto heiliger die gewählten Mittel.

Im verwerfenden Schlechtreden von mäßigender und kompromissfähiger Politik, die durchaus mit kritisierbaren Mängeln behaftet sein mag, liegt ein Übel der Tiroler Verteidigungs- und Aufstandskultur – es reißt alle Schranken nieder, verpönt jede Mahnung und Widerrede, wandelt politisches Handeln zur brachialen Hetze. Das war in den Bauernaufständen gegen Napoleon 1809 so, als der Bischof und viele kluge Geistliche an der Seite des Anführers Andreas Hofer die Rebellion zu mäßigen versuchten (Blaas 2005, 52, 99), aber am Ende entweder mitgerissen wurden von der Wut der Aufständischen oder ins Abseits und unter Anklage des Volksverrats gerieten (Blaas 2005, 253, 260); das war im Kulturkampf in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts so, als Reformen zur Verbesserung eines dürftigen Schulwesens bekämpft wurden, als kämen sie vom Teufel (Fontana 1978, 150–169); das war im Vorfeld des Ersten Weltkrieges so, als die Scharfmacher gegen alles Welsche den Jubel und die Wahlerfolge an sich rissen (Peterlini 1999, 230ff); das war in der Option so, als Mahner fürs Dableiben zu Volksverrätern wurden, die man nach dem Einmarsch der Deutschen 1943 denunzierte und ins KZ abschieben ließ (Lechner 2000, 282ff). Tiroler Massenbewegungen, die sich am Mythos eines guten, braven Kampfes gegen das Böse nähren, haben ihr eigenes Anliegen in der Regel weit mehr zerstört als jede vermeintliche Bedrohung durch Fremdes und Neues. Die Einordnung der Attentate der 1960er-Jahre in die Kultur des Freiheitskampfes mit Berufung auf Andreas Hofer, so sehr sie zum Teil darin wurzelt und so sehr sich die Protagonisten als neue Andreas Hofers fühlen mochten, tut ihrem Anliegen nichts Gutes: Hofers Aufstand hat Tirol drei glorreiche Siege, aber bitterste Niederlagen und Not gebracht, um am Ende doch wieder bei Bayern zu landen, nach wenigen Jahren ohnehin zu Österreich zurückzukommen und nun wieder unter Habsburg jene Reformen hinnehmen zu müssen, wegen der man gegen die Bayern gekämpft hatte.

Die Wahrnehmung der Attentate fällt leichter, wenn der Mythos gelichtet und darunter Menschen mit ihren Taten, Verantwortlichkeiten, Überzeugungen, Getriebenheiten, realen und irrealen Nöten gesehen werden.

4. Die guten und die bösen AttentäterInnen

In der Bewertung der Anschläge wurde früh eine gedankliche Schiene gelegt, die schwer zu verlassen ist und einen dankbaren Ausweg aus dem Unbehagen anbietet, dass zur Südtiroler Erfolgsgeschichte auch Kapitel der Gewalt, des Irrens und Versuchens gehören: Es ist die klare Trennung der AttentäterInnen in gute und brave, sympathische und aufrechte versus ungute und böse, perfide und niederträchtige AttentäterInnen. Die – ethisch erforderte – Verurteilung der Gewalt fällt leichter, wenn zuvor jener Kreis der eigenen, gutmeinenden, braven, ehrbaren Südtiroler AttentäterInnen ausgeklammert wurde. Einer der Väter dieser messerscharfen Operation ist der Südtiroler Historiker und Journalist Claus Gatterer, der sich früh und beispielhaft, mit großem Einfühlungsvermögen und kritischem Blick mit der Zeit der Todesmarsch-Parole, dem staatlichen Unverständnis, der italienischen Angst und der angestauten Wut auf Südtiroler Seite auseinandersetzte. Den Südtirol-Terror unterteilt er in zwei Phasen, wobei die erste eine Phase autochthonen Terrors gewesen sei: „Der durch den Namen Josef Kerschbaumers, des kleinen Dorfkaufmanns aus Frangart bei Bozen, gekennzeichnete Terrorismus vom Sommer 1961 war eine innertirolische Angelegenheit, wobei die Partner aus Nordtirol teilweise alte, von einem Tirol von Kufstein bis Borghetto träumende Großtiroler, teilweise junge frustrierte Widerstandskämpfer gegen den Nazismus waren“ (Gatterer 1968, 1253). An anderer Stelle: „Der autochthone Südtiroler Terrorismus [wird] verkörpert durch den in der Haft verstorbenen Sepp Kerschbaumer. Diese Gruppe kämpfte in eigener Sache, auf heimatlichem Boden. Sie wollte Menschenopfer vermeiden.“ Dagegen sei der „rechtsextremistische Terrorismus […] vorwiegend importiert“ worden (Gatterer 1979, 301). Zwar ist sich auch Gatterer bewusst, dass die Grenzen fließend waren, die Grundthese aber hält er aufrecht: „Die in verschiedenen Etappen nach Österreich geflüchteten Südtirol-Terroristen müssen zum autochthonen Südtirol-Terrorismus gezählt werden, obschon sie in Österreich und Deutschland von verschiedenen, zum Teil auch rechtsextremen Gruppen vereinnahmt und ‚eingesetzt‘ wurden. Sie blieben auch völkisch- konservativ (also ÖVP-nahe und in der Zielsetzung österreichisch), so lange sie von dieser Seite unterstützt wurden. Sie gerieten in rechtsextremes Fahrwasser, sobald die demokratische Betreuung aufhörte. […] Viele von ihnen waren indessen durchaus demokratisch orientiert“ (Gatterer 1979, 301f).

Die Südtiroler AttentäterInnen kämpften somit auf eigenem Boden für die eigene Sache, wollten Menschenleben schonen und waren weitgehend demokratisch; ließen sie sich mit den rechtsextremen Terroristen ein, so waren sie vereinnahmt und eingesetzt und mangels Betreuung in falsches Fahrwasser geraten – ein passiver, letztlich unverschuldeter Vorgang. Es sind mildernde Umstände, die Gatterer den eigenen Leuten gewährt, nachvollziehbar aus seiner ursprünglichen Nähe zum beginnenden Autonomiekampf und dem späteren Erschrecken über manche Züge, die sich darin zeigten. Durch die scharfe Trennlinie, die er zwischen echten und rechtsextremen Attentätern zog, konnte er die Sympathie für den Kerschbaumer-Kampf auch in die intellektuelle Distanzierung davon hineinretten, konnte er sich umso deutlicher von jenen Entwicklungen distanzieren, die Gewalt so hässlich machen.

Bemerkenswert ist, wie sich dieses Konstrukt fortgepflanzt hat. So war die Gatter’sche Phaseneinteilung auch für den grünen Landtags-und späteren Europaabgeordneten Alexander Langer eine Möglichkeit, die Sympathie für einen ehrlichen Aufstand aufrechtzuerhalten bei gleichzeitiger Abscheu vor dessen Instrumentalisierung durch nationalistische Kreise (Langer 1988 und 1994). Hatte Gatterer noch unterschieden zwischen den Rechtsextremisten und den Nordtirolern, wurde im vielfältigen Rezeptions-Recycling bald eine Trennlinie zwischen Südtirolern und Auswärtigen überhaupt gezogen, wobei die einen den redlichen und vernünftigen, die anderen den abenteuerlichen und schädlichen Kampf führten. Wie stark diese Matrix ist, lässt sich an einzelnen Beispielen zeigen, die nicht als Fehler (wie sie in jeder Aufarbeitung unvermeidlich sind) dargelegt werden sollen, sondern als exemplarische Beispiele einer allzu bequemen Denkfigur.

In der Absicht, Menschenleben zu schonen, waren sich im Befreiungsausschuss Südtirol (BAS) nicht alle so einig, wie der Mythos es möchte, und zwar weder auf Südtiroler Seite noch in Nordtirol und in Österreich, weder im demokratischen noch im rechtsextremen Lager: Der erste Nordtiroler BAS-Chef Wolfgang Pfaundler, verdienter Innsbrucker Volkskundler, Fotograf, Publizist und im Krieg Widerstandskämpfer gegen den Nationalsozialismus, förderte Jörg Klotz massiv in seinem Ansinnen, die Strategie eines Partisanenkampfes mit offenen Schlachten durchzusetzen. Als der deutschsprachige „Alto Adige“-Journalist Benno Steiner, von den BAS-Leuten für einen Verräter gehalten, nach der Feuernacht giftige Kommen­tare über die Fuierlemacher schrieb, wurden gerade im Südtiroler BAS Mordpläne gegen ihn geschmiedet (Peterlini 2005, 143ff), ebenso wie gegen „Dolomiten“-Chefredakteur Toni Ebner, der die Feuernacht als „geschändetes Herz-Jesu-Fest“ brandmarkte (Peterlini 2005, 166–169). Während die Attentatspläne gegen Ebner von Kerschbaumer mit einem Machtwort verhindert wurden, aber trotzdem in heftige Nachstellungen übergingen, kam es gegen Steiner zum Mordanschlag durch einen Sprengsatz in seinem Auto, der nur durch Glück entdeckt wurde. Die Schuld wurde in den ersten Aufarbeitungen der Feuernacht (Baumgartner/Mayr 1995, 59f) zunächst den Nordtirolern gegeben, vorwiegend dem verstorbenen Kurt Welser und indirekt auch Helmut Heuberger, der anhand seines minutiös und redlich geführten, verschlüsselten Tagebuches nachweisen konnte, dass er gar nicht da war (Peterlini 2005, 144f). Von Heuberger angesprochen, räumte der Meraner BAS-Mann Sepp Innerhofer ein, dass es „jemand von uns war“, man habe halt dazu geneigt, die unguten Sachen auf die Österreicher abzuschieben (Peterlini 2005, 146). Siegfried Carli, nach Innsbruck geflüchteter Attentäter der Meraner Gruppe, bestätigte, dass es „jemand von den Meranern“ war (Peterlini 2005, 146). Der Innsbrucker Politikwissenschaftler Manuel Fasser, dem diese Zurechtrückung im Buch „Bombenjahre“ (Peterlini 2005, 146) bekannt gewesen sein muss, weil er es kritisch rezipiert, hält auch 2009 unbeirrt daran fest, dass Innerhofer und Mitterhofer von einer „Innsbrucker Aktion“ reden und sie „in den Einflussbereich von Kurt Welser“ rücken würden (Fasser 2009, 62f), was zu diesem Zeitpunkt bereits widerlegt war – Innerhofer war von dieser Position öffentlich abgerückt. Mit Berufung auf den Bozner Attentäter Alfons Obermair, der im Unterschied zu Innerhofer und Carli in die Meraner Geschehnisse nicht aus erster Hand eingeweiht war, gibt Fasser als neueste Version jene aus, dass von den zwei Tätern einer im Burggrafenamt, der andere in Nordtirol lebe (Fasser 2009, 63), was noch gar nichts besagt, weil viele Südtiroler, auch Meraner Attentäter, nach Nordtirol geflohen waren und dort leben. Fasser kennt die von Obermair genannten (und möglicherweise gar nicht zutreffenden) Namen, nennt sie aber nicht (Fasser 2009, 63, Fußnote 139). Dadurch und indem er die Herkunft der Täter ins Vage verwischt, ihm bekannte Quellen außer Acht lässt oder – im Falle Innerhofers – auf revidierten Standpunkten festnagelt, trägt er mit seiner Arbeit, die Günther Pallaver im Vorwort als Nebellichtung lobt (Pallaver 2009, 9-12), zu neuer Mythenbildung bei: In der bösen Tat sind Südtirol und Nordtirol, die Fasser mit seinem Buchtitel teilt („Ein Tirol – zwei Welten“), plötzlich doch vereint.

Eine ähnliche Umdeutung von Fakten war auch dem aus Innsbruck stammenden Historiker Michael Gehler trotz seines wissenschaftlich redlichen und sorgsamen, auch einfühlsamen Umgangs mit der Materie widerfahren. Auch bei diesem Beispiel geht es – in einem strukturalistischen Ansatz (Brügger/Vigsø 2008, 50ff; Barthes 1994, 88ff; Deleuze 1992, 9ff) – nicht um letztlich nebensächliche Irrtümer in den Fakten, sondern um die – nicht mehr nebensächliche – Bedeutung, mit der die Fakten aufgeladen werden: Gehler glaubte die Verhärtung der italienischen Verhandlungsposition, die Eskalation in den Fahndungen und damit auch die Folterungen darauf zurückzuführen, dass österreichische AttentäterInnen nach der Feuernacht den Radius der Anschläge auf Oberitalien ausgedehnt hätten (Gehler 2002, 22f). Nicht die Feuernacht hätte damit Leid über das Land und die Täter gebracht, sondern – implizit – das verantwortungslose Agieren der Österreicher. Ein Indiz für Gehler ist die nach den Anschlägen im Parlament erhobene Forderung nach einer Regelung für die Rückoptanten, die diesen das Heimatrecht in Südtirol entzogen hätte (Gehler 2002, 22f). Diese Forderung war allerdings auch schon in den Jahrzehnten davor und auch noch im Frühling 1961 als Druckmittel erhoben worden, ohne je angewandt zu werden (Peterlini 2005, 138). In der noch schwerwiegenderen Annahme, erst die oberitalienischen Anschläge hätten die Massenverhaftungen und Folterungen ausgelöst, irrt sich Gehler im Datum. Die Anschläge auf die Bahnlinien in Oberitalien waren in der Nacht vom 10. auf den 11. Juli verübt worden, die Massenverhaftungen aber kamen durch die Verhaftung und Folterung des Vinschgauer Kerschbaumer-Vertrauten Franz Muther schon am Nachmittag des 10. Juli in Gang. Ausgelöst wurde die Verhaftung Muthers genau von jenem Anschlag auf Benno Steiner, der – bis dahin zu Unrecht als Verräter verschrien – nun gegenüber der Polizei auspackte, er wisse, dass Muther mit Jörg Klotz vor Jahren über Anschläge geredet hätte. Nicht die bösen Auswärtigen, wie es dem für Täter und Rezipienten angenehmeren Denkschema entspricht, haben die Eskalation verursacht, sondern jener Kreis von autochthonen Attentätern, die sich um Sepp Kerschbaumer scharten, dessen Mahnungen aber in den Wind geschlagen wurden. Als Nicht-Südtiroler ist Gehler natürlich nicht der Sympathie fürs Eigene erlegen, wohl aber – in Gatterers Denkschema – dem größeren Verständnis für autochthone Wehrhaftigkeit gegenüber der Einmischung von außen, als Nordtiroler möglicherweise auch jener Solidarität gegenüber Südtirol, die über Jahrzehnte hinweg eine Mischung aus selbstloser Hilfsbereitschaft und schier blinder Selbstverleugnung war (Peterlini 2008, 145ff).

Damit nicht der Eindruck kollegialen Fingerzeigens entsteht: Die Neigung, Schuld auszulagern, ist mir selbst vertraut, hat auch mir Fehler eingebracht, weil die angenehmere Version doch jene wäre, dass das Eigene im Guten liegt und das Böse anderswo versammelt ist. So hat mir Gehler umgekehrt nachweisen können, dass ich in der Vermutung, der Anschlag auf das Andreas-Hofer-Denkmal 1946 in Meran gehe auf italienische Geheimdienstkreise zurück (Peterlini 2005, 24), völlig falsch liege. Der spätere Botschafter und damalige Innsbrucker Widerstandskämpfer Ludwig Steiner hatte Gehler selbst bestätigt, dass er damals den Auftrag zum Anschlag gegeben habe (Gehler 1996, 227; Steurer 2000, 75f), um im Vorfeld der internationalen Entscheidung über Südtirols Schicksal den Eindruck zu erwecken, den Südtirolern würden auch im demokratisch werdenden Italien ihre Helden in die Luft gesprengt. Ich habe den Fehler in der zweiten Auflage korrigiert, die vermutlich italienische Täterschaft bei späteren Anschlägen auf die Andreas-Hofer-Denkmäler in Mantua, Meran und Innsbruck jedoch aufrechterhalten.

Nun war es der Südtiroler Historiker Leopold Steurer, der mir deshalb ideologische Geschichtsschreibung vorwarf: Ich wolle nicht wahrhaben, dass Tiroler ihren Helden selbst in die Luft sprengen (Debatte in der Teßmann-Bibliothek, Bozen, 25.3.2010). Worauf aber gründet Steurer seine Sicherheit, dass der Anschlag auf das Andreas-Hofer-Denkmal in Innsbruck am 1. Oktober 1961 auf das Konto der rechtsextremen Terroristen ging, die – in der Denkschiene Gatterers – nach der ersten Phase den autochthonen Südtirol-Terror verdorben haben? Es ist eine simple Parallelität zum Anschlag von 1946: „Nicht anders verhielt es sich bei den politischen Rahmenbedingungen und Intentionen der Attentäter bei der Sprengung des Andreas-Hofer-Denkmals auf dem Bergisel 1961.“ Steurer argumentiert, dass der nur noch in Nordtirol tätige und dort verseuchte BAS vor allem durch die am Tag davor in den „Dolomiten“ veröffentlichte Forderung der Aufbau-Bewegung nach einer politischen Kursmilderung zu diesem symbolischen Anschlag geschritten sei. Die AttentäterInnen seien nämlich unter Druck von der eigenen Seite geraten und hätten mit der Sprengung des Andreas-Hofer-Denkmals die politischen Verräter in den eigenen Reihen warnen wollen, unter anderem durch Hinterlegung einer Rasierklinge als „Selbstmörderwaffe“ (Steurer 2009, 183f). Schon die einzelnen Hinweise, die Steurer für die Notsituation des BAS kennzeichnet (Steurer 2009, 184f), sind kaum haltbar:

Selbstbestimmungsbefürworter Franz Gschnitzer sei durch den mäßigenden Botschafter Ludwig Steiner ersetzt worden. Es stimmt, Steiner war zu diesem Zeitpunkt gegen jede Gewalt und hatte offenbar aus dem Anschlag von 1946 die Lehre gezogen, dass Gewalt nichts bringt; es stimmt aber auch, dass auch der abgelöste Gschnitzer – nach ursprünglicher Sympathie – vor allem unter dem Einfluss von Viktoria Stadlmayer strikt gegen die Attentate war. Steurers Vermutung schlägt zudem völlig in den Wind, dass der BAS auf höchstem Niveau weiterhin Kontakte zur österreichischen Diplomatie hatte, so vor allem über Felix Ermacora.

Seit dem 11. Juli sei der Großteil der in Südtirol lebenden BAS-Mitglieder in Haft oder nach Österreich geflüchtet, die SVP sei auf das Angebot der italienischen Regierung einer parlamentarischen Kommission zur Lösung der Südtirol-Frage eingegangen.

Wichtige Protegés der AttentäterInnen in Nordtirol seien ins Abseits geraten, so Bergisel-Bundobmann Eduard Widmoser und Aloys Oberhammer: Während Widmoser zwar beim Aufbau des BAS eine Rolle spielte, aber in der operativen Phase zum Außenseiter wurde, stellte der erzwungene Rücktritt von Oberhammer als ÖVP-Obmann und Landesrat zwar einen Verlust dar, brachte den BAS in Nordtirol aber keinesfalls um die Unterstützung durch höchste politische Kreise, nämlich über andere Landesräte bis hin zum angehenden Landeshauptmann Eduard Wallnöfer, der BAS-Leute auch in der späten Phase noch durch die Hintertür empfing. In Südtirol blieb der Kontakt zu Hans Dietl und Franz Widmann aufrecht, beide gerade in der Auseinandersetzung mit der Aufbau-Bewegung eine wichtige Stütze für Silvius Magnago.

Welches Motiv führt da die Feder? Dass der BAS nach den Verhaftungen schwer angeschlagen war, liegt auf der Hand; dass sich viele zurückzogen und nur ein kleiner Kreis weitermachen wollte, ist ebenso offensichtlich. Und dass diese wenigen zu schärferen Mitteln griffen, entspricht einer zwingenden Dynamik der Gewalt, zu dem auch das Wissen um die Folterungen beitrug. Warum aber sollte deshalb, wie 1946, ein Andreas-Hofer-Denkmal gesprengt werden? Dem BAS war vorher und nachher die Verübung solcher um die Ecke gedachten Anschläge völlig fremd, es wurden stets genau jene Ziele getroffen, die der politischen Zielrichtung eins zu eins entsprachen – die Rohbauten als Symbole der Zuwanderung, die Strommasten als Symbole der staatlichen Macht, wirtschaftlichen Ausbeutung und Zuwanderungspolitik, Denkmäler als Symbole der faschistischen und postfaschistischen Unterdrückung. Die einzelnen Gruppen des BAS, lose miteinander verknüpft, hatten die Eskalation zudem lange vor dem Aufbau-Programm eröffnet – und zwar mit weit schärferen Methoden als mit der Sprengung eines Hel­den-Denkmals: am 22. August 1961 Maschinengewehrsalven auf Fahndungstruppen, die zu einem gesprengten Masten ins Passeier eilten, der Kinderkreuzzug am 8. und 9. September mit Brandbombenanschlägen in Rom, Trient, Verona, Rovereto und Monza, am 21. September 1961 Feuerüberfall auf das Stauwerk Rabenstein im Sarntal.

Für Steurer ergibt sich das klare Täterprofil aus der zeitlichen Nähe zwischen der Veröffentlichung des Aufbau-Programms und dem Anschlag, der aber bereits in der darauffolgenden Nacht vom 30. September auf den 1. Oktober um 4.15 Uhr in der Früh erfolgte. Die knappe Zeitspanne widerlegt Steurer zwar nicht, zeigt aber die Unwahrscheinlichkeit seiner – als Sicherheit ausgegebenen – Vermutung auf, wenn allein berücksichtigt wird, dass die „Dolomiten“ nicht in aller Früh in Innsbruck publik gewesen sein dürften: Ein Anschlag lässt sich zwar improvisieren, aber die Festlegung eines so umstrittenen und zugleich subtilen Zieles – das Hofer-Denkmal als Warnung an die Aufbau-Bewegung, nebenbei mit italienischem Bekennerschreiben – setzt doch voraus, dass sich einige maßgebliche Leute erst einigen und aufeinander abstimmen müssen. Der BAS – und zwar durchaus auch sein autochthones Restgut – hatte vorher und nachher gegen vermeintliche Verräter in der Südtiroler Politik viel direktere Wege gewählt: „Dolomiten“-Chefredakteur, SVP-Parlamentarier und Aufbau-Mentor Toni Ebner wurde nachts bedrängt und bedroht, ein Anschlag auf ihn wurde geplant, wenn auch nicht ausgeführt; dem SVP-Parlamentarier und Jungstar der Aufbau-Bewegung Roland Riz brannte eine Garage ab.

Auch da geht es nicht nur um die Fakten, sie könnten auch offen bleiben. Es geht um die Methode der Bedeutungsstiftung: Woher nimmt Steurer seine Sicherheit, wenn nicht aus einer ideologischen Konstruktion? Die Fakten müssen so sein, wie er sie haben will, damit seine These von der Panikaktion des BAS gegen eine vernünftige Politik, ja sogar gegen die Autonomieverhandlungen stimmt. Auf der Bedeutungsebene würde es genügen, das eigene Konstrukt im Gespräch mit einigen Beteiligten zu prüfen. Gewiss war Selbstbestimmung das Ziel und gewiss fiel es schwer, an Autonomie zu glauben, trotzdem ging es den meisten nicht um abstrakte Programmpunkte, sondern darum, die Lage Südtirols verbessern, der eigenen Ohnmacht zu entkommen. Auf der Ebene der Fakten fällt Steurers Annahme ganz in sich zusammen: Als 1964 die neofaschistische Gruppe „Giovane Italia“ wegen einiger Attentate auf linke Parteizentralen in Mailand ausgehoben wurde, fand man genau jene Sprengmaterialien und Bekennerbotschaften, die bei den Anschlägen in Österreich (Bergisel, Ebensee, Wien) verwendet worden waren.

Gut und Böse, Eigenes und Importiertes lassen sich in der Aufarbeitung der Südtirol-Anschläge nicht voneinander trennen, es sei denn durch ideologische Filter, gegen die niemand gefeit ist. Dass ein Attentat nicht klar oder falsch zugewiesen wird, ist in der Wirrnis der Ereignisse und der Widersprüchlichkeit der Erinnerungen mehr als normal. Verwunderlich sind die Sicherheiten, die sich 50 Jahre nach der Feuernacht da und dort fixieren, zu Grundannahmen werden, die nicht mehr hintergehbar sind. Um die eigene Wahrnehmung einigermaßen (denn völlig geht es nicht) von Vorannahmen zu befreien, wäre es – nach Devereux (1988, 67) – nötig, dass diese reflektiert und auch offengelegt werden, so wie ich es in meinem psychoanalytischen Zugang zu den Attentaten als Reaktivierung der Tiroler Verteidigungskultur zumindest versucht habe (Peterlini 2010, 7ff). Als Steurer mir in der Auseinandersetzung über diese Arbeit bei der Deutung einer Karikatur triumphierend den Fehler nachwies, dass ich einen Bersaglieri-Hut mit einem Schützenhut verwechselt hatte (Peterlini 2010, 134, wobei die Ähnlichkeit der Hüte auch schon aussagekräftig ist), hielt er mir nur etwas vor, was ich selbst offengelegt hatte: nämlich, dass ich gegenüber einer Kultur, in der ich auch aufgewachsen und sogar aktiv tätig war, nicht ohne Befangenheiten bin; ich habe – bei aller Distanzierung und Selbstreflexion – offenbar noch einen unsichtbaren Schützenhut auf: da, wo ich versuche nicht zu verurteilen, sondern zu verstehen, wie kulturelle Schutzhaltungen entstehen, sich verhärten und freigesprengt werden.

Aber legt Leopold Steurer seine Vorannahmen offen? Was sucht er, wenn er die Sicherheit sucht, das Böse vom Guten klar zu scheiden? Ich mag nicht antworten, aber es wundert mich, dass diese Offenlegung nicht geschieht, dass keine Reflexion über die eigene ideologische Brille geschieht, die helfen würde, die eindeutigen Sicherheiten, die Steurer vieldeutigen Fakten abringt, zu hinterfragen und ein Stück weit zu relativieren.

Manuel Fasser spricht eingangs in seinem Buch wohl Befangenheiten an, aber nicht seine eigenen, sondern jene, die man ihm als Nordtiroler gegenüber haben könnte (Fasser 2009, 13). Eine solche fehlende Reflexion der eigenen Befangenheit schlägt sich in Ton und Sprache überall dort nieder, wo Sicherheiten nicht durch Fakten aufgebaut, sondern durch Behauptung postuliert werden. Ein zentrales Anliegen von Fassers Arbeit ist die Definition der Südtirol-Attentate, also wie man die Täter von damals benennen soll, ob sie nun Freiheitskämpfer oder Terroristen sind. Das Ergebnis ist, laut dem Vorwort von Günther Pallaver, eindeutig: „Fasser durchschneidet die Nebelwand und weist anhand sozialwissenschaftlicher Kategorien und konkreter Vergleiche nach, dass die Bombenleger der Feuernacht und die Mitglieder des Befreiungsausschusses Südtirol klare Merkmale einer terroristischen Bewegung aufweisen“ (Pallaver 2009, 10). Man darf, ja man muss, will man politisch korrekt bleiben, sie folglich Terroristen nennen, auch wenn sie sich lieber als Freiheitskämpfer sähen – beides hat etwas für sich, denn politische Gewalt erlaubt keine Beschönigung, während andererseits die subjektive Selbsteinschätzung ein Recht der Täter bleibt. Unglaublich an der Begriffsklärung aber ist, dass Fasser selbst die AttentäterInnen ungeachtet seiner akribischen Wissenschaftlichkeit das ganze Buch hindurch Bumser nennt. Wozu dann so viel Aufwand?

Eine Vermutung möchte ich äußern, weil sie über die Einzelfälle hinausgeht: Es ist offenbar quälend, mit dem Umstand umzugehen, dass Gut und Böse meist vermischt auftreten, dass Aggressives den Menschen von außen und von innen heraus verunsichert, ja dass selbst politische Gewalt in ihren Auswirkungen sich nicht so klar einordnen lässt, wie es Wissenschaft gerne hätte. Ambivalenzen sind schwer zu ertragen – eines der Hauptmotive für frühere und gegenwärtige Mythenbildung. Die Teilung der Attentate und AttentäterInnen in Gut und Böse ist ebenso ein solcher Mythos wie die klare Einteilung in Phasen, in Begriffe oder auch in Gruppen, wie es Fasser vielfach an den sich überschneidenden Realitäten vorbei in einer Grafik versucht (Fasser 2009, 48). Durch Einteilung wird das Unheimliche gebannt.

Gerade aber die Gut-Böse-Einteilung der Südtirol-AttentäterInnen nach Herkunft und Ideologie lässt sich nicht aufrechterhalten: Der rechtsextreme Universitätsassistent und spätere Präsidentschaftskandidat der Nationaldeutschen Partei (NDP) Norbert Burger war von Anfang an im BAS dabei, ohne seine StudentInnen wäre die Feuernacht nicht halb so spektakulär ausgefallen, manche waren deutschnational, manche demokratisch, manche auch nur romantische Desperados, die es toll fanden, bei einem Aufstand mitzutun. Helmuth Heuberger war als Widerstandskämpfer gegen das NS-Regime auch für die Rechtsextremen eine wichtige Bezugsperson und er hat wiederholt gegen die einseitigen Zuweisungen Stellung bezogen: „Dass wir Menschenleben geschont und sie Menschen gemordet haben, das stimmt so nicht“ (Peterlini 2005, 192). Kurt Welser war als Nordtiroler ohne nationaldeutschen politischen Hintergrund die Seele des Aufstandes für die Südtiroler, aber auch für die Abenteurer aus Österreich und Deutschland; Wolfgang Pfaundler setzte als Widerstandskämpfer weniger auf die Kerschbaumer-Truppe als auf Jörg Klotz und dessen Vorstellungen eines zwangsläufig blutigen Guerilla-kampfes. Der aus der rechtsnationalen Jugendszene zum BAS gekommene Oberösterreicher Peter Kienesberger rückte oft mit Klotz, aber oft auch mit Amplatz aus, der zu den engsten Leuten um Sepp Kerschbaumer gehörte.

5. Die Attentate haben geschadet. Wirklich?

Die Frage ist müßig, aber sie hat hohen akademischen Wert, als müsste – oder besser noch: als könnte – wissenschaftlich ein für alle Mal festgelegt werden, dass die Gewalt mit der Südtiroler Autonomie nichts zu tun hat: „Der Position: Ohne Attentate keine Autonomie, stehen die konsolidierten Erkenntnisse der Geschichtswissenschaft entgegen. Diese weisen nach, dass die Attentate kontraproduktiv waren und dass die Autonomie nicht wegen, sondern trotz der Attentate verwirklicht werden konnte. […]“, schreibt Günther Pallaver im Vorwort zum Buch von Manuel Fasser. Konsolidierte Erkenntnisse, Geschichtswissenschaft, weisen nach – eine Diskussion erübrigt sich, der Tatbestand ist restlos geklärt, das letzte Wort, das Urteil gesprochen: Die Attentate haben geschadet.

Als „Mann des Paradigmenwechsels“ rühmt Fasser (2009, 19) einleitend den seinerzeitigen Professor für Zeitgeschichte an der Universität Rolf Steininger, dem er in den Schlussbemerkungen „für die historische Beratung“ dankt. Fasser nimmt Steininger gegen den Vorwurf, seine These ebenfalls ideologisch herbeigezogen zu haben (Peterlini 2005, 344), in Schutz: „Steiningers Kritiker vergessen oder unterschlagen zwei entscheidende Umstände; der erste: Steininger geht es nicht zentral um die Verurteilung von Gewalt als solcher. Peterlini kritisiert, was Steininger so nicht geschrieben hat. Steininger sagt zwar, er sei Gegner von Gewalt, das sei in dieser Beurteilung jedoch nicht zentral. Das zweite Missverständnis: Steiningers These, wonach die Attentate dem politischen Prozess nicht geholfen, vermutlich geschadet hätten, ist nicht neu – und im Grunde auch nicht seine Kreation. Viktoria Stadlmayer etwa […] äußerte sich bereits kurz nach den Attentaten in einem vertraulichen Dokument ablehnend.“ Wer Steininger wohl im Grundanliegen zustimmt (dass der Gewalt prinzipiell nicht als Mittel der Politik gehuldigt werden soll), aber in der ideologischen Beugung von Fakten widerspricht, vergisst oder unterschlägt – womit Fasser im selben Atemzug entweder vergisst oder unterschlägt, dass die Kritik an Steininger im Buch „Bombenjahre“ sachlich und ohne persönliche Angriffe durchargumentiert wurde, ebenso wie er auf Seite 131 vergisst oder unterschlägt, dass nicht Peterlini (der Stadlmayers Position längst rezipiert hatte), sondern er selbst auf Seite 19 Steininger als „Mann des Paradigmenwechsels“ feiert.

So wird die durchaus in gewogener Haltung vorgebrachte Kritik an Steininger zu Hass und Abneigung (von wem? Wer streut da Nebel gegen Unbekannt und Ungenannt?). So werden Repräsentanten von Gegenmeinungen zu allerlei Politiker abqualifiziert, die sich bemüßigt fühlten, Steiningers These zu dementieren. Ideologie verrät sich immer auch durch die Sprache, wenn Gegenmeinung semantisch abgewertet, moralisch diskreditiert oder lächerlich gemacht wird, die eigene Position aber in die kristalline Unangreifbarkeit von Wissenschaftlichkeit und These und Nachweis gehoben wird. Um die verdiente, intellektuell kluge und feinsinnige Viktoria Stadlmayer als Kronzeugin für Gewaltablehnung zu zitieren, hätte Fasser gar nicht erst vertrauliche Schriften von anno 1962 zitieren müssen. Stadlmayer hat ihren Standpunkt bis zum Tod öffentlich vertreten und solide argumentiert. Ebenso könnte man Ludwig Steiner zitieren, der sich überzeugt darüber aufregt, dass im Rücken jener, die am Verhandlungstisch saßen, Bomben hochgingen, von denen sie nichts wussten. Das sind subjektive, durchaus nachvollziehbare Einschätzungen von Protagonisten – aber sind es Beweise? Ebenso gibt es subjektive, nachvollziehbare Einschätzungen eines Protagonisten wie Silvius Magnago, der die Gewalt 1961 ebenfalls schärfstens verurteilte, ihr aber einen Anteil an seinem Autonomieerfolg nicht abstreiten wollte – als heftiger, von ihm verurteilter Anstoß zu den Verhandlungen (Peterlini 2007b,58-75). Es saßen damals auch Leute am Verhandlungstisch, die von den Bomben sehr wohl wussten, aus den Sitzungspausen heraus in Kontakt mit BAS-Leuten traten, um die nötigen Informationen für die nächsten Aktionen auszutauschen. So lassen alle Wertungen der Anschläge außer Acht, dass die AttentäterInnen von Anfang an nicht im luftleeren Raum agierten und schon gar nicht ohne politische Absprache handelten. Leopold Steurer bringt es fertig, ein ganzes Kapitel der „Realpolitik Bruno Kreiskys“ zu widmen, die „in bester sozialdemokratischer bzw. austromarxistischer Tradition“ gestanden habe, aber wie diese damit zu vereinbaren ist, dass Kreisky aktive und ermutigende Kontakte zu den Attentätern unterhielt, erwähnt er schlichtweg nicht. Nicht, dass dies durchgehend vergessen oder unterschlagen würde, die Fülle von Informationen über die Fäden zwischen Bomben, Politik und Diplomatie ist unübersehbar geworden, gerade bei und dank Steininger. Aber sobald es ans Urteil geht, stehen die AttentäterInnen allein im Gerichtssaal der Geschichts- und Politikwissenschaft.

So unbeholfen die Südtirol-AttentäterInnen wirken mögen und teilweise auch waren, so sehr bemühten sie sich von Anfang an, nicht einfach loszuschlagen, sondern sich politisch und diplomatisch abzustimmen. Schon der Bozner Buchdrucker Hans Stieler, der 1956 unabhängig vom BAS eine erste Attentäterbewegung anführte, knüpfte vorher Kontakte zum damaligen Tiroler ÖVP-Obmann Aloys Oberhammer und zu dem aus Tirol stammenden Außenamts-Staatssekretär Franz Gschnitzer. Stieler kam, wie er glaubhaft versicherte, mit „Verständnis … und Einverständnis“ nach Hause. Bei Oberhammer verwundert es nicht, bei Gschnitzer schon. Auch lässt es sich nicht mehr beweisen, aber Stieler war ein grundehrlicher Mensch. Dass Gschnitzer später von der Gewalt abrückte, muss kein Widerspruch sein – auch Meinungen ändern sich. Die österreichische Politik und Diplomatie hatte in den Jahren vor der Feuernacht eine zwiespältige Haltung in der Frage zur Gewalt, verständlicherweise, denn auch die Zeiten waren nicht eindeutig. Einerseits wurden Spannungen als Druckmittel erkannt, andererseits war man sich auch im Klaren darüber, wie leicht Gewalt außer Kontrolle geraten kann.

Der BAS um Sepp Kerschbaumer und getrennt von diesem Jörg Klotz suchten ab 1960 Kontakte zu Bruno Kreisky, der im Jahr davor österreichischer Außenminister geworden war und – obwohl Sozialist – als neuer Hoffnungsträger auch der Südtiroler Patrioten galt. Den Kreisky-Termin für Klotz vermittelte Pfaundler, der auch schon den Medienkönig Fritz Molden und den späteren ORF-Generalintendanten Gerd Bacher mit Kerschbaumer und Klotz in Verbindung gebracht hatte. Der Kerschbaumer-Gruppe verhalf der Nordtiroler SPÖ-Politiker Rupert Zechtl zum Kontakt mit Kreisky. Zweimal verpasste Kerschbaumer einen Termin beim Außenminister, einmal, weil er sich – ganz allein nach Wien gefahren – im letzten Moment nicht mehr traute, ein zweites Mal, weil er und seine diesmal stattliche Delegation vom Portier abgefangen wurde. Es wäre für Kreisky ein Leichtes gewesen, es dabei zu belassen. Aber er lud Kerschbaumer und seine Leute in der Folge zu sich in die Wohnung in der Wiener Armbrustgasse 15 ein (Peterlini 2005, 71ff).

Die Versionen von dem, was mit Kreisky gesprochen wurde, sind unterschiedlich. Kreisky selbst gibt sich in seinen Aufzeichnungen keine Blöße, das Gespräch mit Klotz etwa handelt offiziell von der Förderung des Südtiroler Schützenwesens – man denke sich: auf Außenministerebene! Für das Gespräch mit Kerschbaumer werden zwei Darstellungen kolportiert. Gegenüber Sepp Innerhofer zitierte Kerschbaumer den Außenminister sinngemäß so: „Wenn ihr was macht’s, dann gefälligst was Ordentliches.“ Gegenüber Josef Fontana zitierte Kerschbaumer den österreichischen Politfuchs mit einer eher sibyllinischen Aussage: „Ich sage euch nicht, tut’s etwas, ich sage aber auch nicht, tut’s nix.“ Es kann auch beides zusammen stimmen: Ich sag euch nichts, aber wenn, dann macht was Ordentliches (Peterlini 2005, 72f).

Ein sicheres Indiz für Kreiskys Wissen um die Attentate ist Zechtls Vermittlungsrolle. Zechtl war in den Aufbau des Nordtiroler BAS voll eingeweiht. So zitiert Steininger Zechtl folgendermaßen: „Natürlich hat Kreisky von den Attentaten gewusst“ (Steininger 1999, Bd. 3, 252). In Interviews bestätigte auch Fritz Molden mehrfach, dass Kreisky nicht nur eingeweiht war, sondern auch seine Zustimmung gab, „dass es ein bisschen tuschen muss, aber nicht zu viel“. In der Wiener „Presse“ zitierte Molden den Kreisky-Satz: „Auf a paar Masten mehr oder weniger soll’s mir net ankommen“. Zitat Molden: „Ein berühmter Satz. Den hat er vor einem Dutzend Zeugen wiederholt. […] Da wetteiferten der Wallnöfer und der Kreisky, wer mehr für die Südtiroler getan hat. Beide, der ‚Walli‘ und der Kreisky, waren überzeugt: Das war damals richtig. Beide waren natürlich traurig über jeden Toten. Aber noch höre ich Kreisky sagen: ‚Die Zyprioten haben auch Tote gehabt, und die Algerier‘“ (Peterlini 2005, 73).

Weitgehend unbestritten ist: Kreisky hatte die Bomben bis zum Sommer 1960 nicht nur nicht verurteilt, auch nicht nur gewünscht, sondern regelrecht „bestellt“ (Ludwig Steiner auf einer Tagung der Silvius-Magnago-Stiftung, Bozen, 2.10.2009). Kreisky war offenbar der Annahme, es bedürfe des Druckaufbaus, um Italiens rigide Haltung zu schwächen und auf der internationalen Bühne die österreichische Position zu stärken. Dafür kam der BAS, wie Günther Pallaver zu Recht bemerkt, zu spät (zit. n. Fasser 2009, 130). In dieser Phase war der BAS noch nicht so weit, rüstete auf, verstritt sich, es menschelte. Der Sprengstoff funktionierte nicht, die Leute waren nicht ausgebildet, es kam zu Führungsstreitigkeiten zwischen Nord- und Südtirol. Im Oktober 1960 aber vollbrachte Kreisky ohne jeden Bombenanschlag das politische Bravourstück, Südtirol vor die UNO zu bringen und eine Resolution herauszuholen, die beide Staaten – aber der Zaunpfahl galt natürlich Italien – zum Verhandeln aufforderte.

Nach Steurer war die UNO-Resolution für den BAS ein Anlass zu „tiefster Enttäuschung“ (Steurer 2009, 176), ohne dass man verstünde, woher er das weiß. Er begründet es mit einem logischen Beweis, nämlich damit, dass es dem BAS darum gegangen sei, die Verhandlungen zwischen Italien und Österreich endgültig zum Scheitern zu bringen, während die UNO-Resolution einen diplomatischen Weg vorzeichnete. Eine solche Hypothese lässt außer Acht, dass es Italien bis dahin nie akzeptiert hatte, mit Österreich zu verhandeln, sondern sich höchstens zu Gesprächen herabgelassen hatte, die letztlich auf Pflanzerei hinausliefen. Der BAS hatte sich nicht formiert, weil Österreich und Italien erfolgreich verhandelten und dies gestoppt werden musste, sondern weil eine politische Lösung des Südtirol-Konfliktes nicht absehbar war.

Allein die Dynamik der Ereignisse ist eine andere. Noch im Sommer 1960, unmittelbar vor der UNO-Mission, unternahm der frühere österreichische Generalkonsul in Mailand, Hans Steinacher, unter einem Decknamen den Versuch, den dilettantisch wirkenden BAS zu professionalisieren, er musste sich aber – bald Opfer von Gerede und Observation – zurückziehen (Peterlini 2005, 75f). Während der UNO-Verhandlungen stand der BAS abseits vom Geschehen und war vorwiegend mit sich selbst beschäftigt. Die Kerschbaumer-Gruppe brach mit dem Nordtiroler BAS-Chef Wolfgang Pfaundler, der zudem erkrankt war und sich schließlich zurückzog, er blieb aber ein politischer Förderer und Fürsprecher der AttentäterInnen auf höchster Ebene in Tirol. Molden und Bacher, für die Pfaundler der Gewährsmann gewesen war, dagegen sprangen ab, zweifellos ein Rückschlag für die Kontakte in Wien. In die Lücke sprangen in Nordtirol Leute, die ein hohes Maß an Einsatzbereitschaft hatten und klar zu Kerschbaumer standen – Heinrich Klier und Helmuth Heuberger vor allem. Bemerkenswert ist, dass es erst jetzt – nach dem Absprung von Molden und Bacher und nach der UNO-Resolution – zum Treffen Kreiskys mit Kerschbaumer und der BAS-Spitze kam, auf Beharren Kreiskys, auf Vermittlung Zechtls.

Und erst im Anschluss daran begann die eigentliche Anschlagsserie, die über einen Frühling der Nadelstiche in der Feuernacht ihren Höhepunkt fand. Der Auftakt erfolgte Ende Jänner 1961 mit dem Anschlag auf das Reiterstandbild Mussolinis in Waidbruck, ein mit Kerschbaumer nicht abgesprochener Vorstoß der neuen Nordtiroler BAS-Führung um Klier und Heuberger, aber mithilfe Kerschbaumer-naher Kreise, etwa Kurt Welser und Sepp Innerhofer. Kreisky wurde ein Splitter des Aluminium-Duce zugespielt – wäre dies möglich gewesen, wenn es keine Verbindungen mehr gegeben hätte zwischen dem internationalen Strategen und den Nadelstichlern vor Ort? Der Anschlag erfolgte eindeutig nicht gegen Fortschritte der Verhandlungen, sondern unmittelbar nach der Konferenz von Mailand, als deren Scheitern klar war. Gerade die sonst so gern zitierte Attentatsgegnerin Viktoria Stadlmayer hat anerkannt, dass die Anschläge eskalierten, weil die erste UNO-Resolution nicht jene Ergebnisse zeitigte, die man sich – gewiss unrealistisch – von ihr erhofft hatte. Ungeduld wäre somit eine mögliche Kritik an den Attentätern, aber sie würde eines übersehen: die jahrelange Zeit des Zuwartens auf politische Besserung, in der es nur Rückschläge und Verhärtungen gab.

1957 und auch noch 1958 wären noch gute Jahre für eine rechtzeitige politische Lösung gewesen. Der BAS hatte sich schon formiert, Kerschbaumer aber war sich über die Strategie noch unschlüssig, setzte selbst – mit hohem Eigeneinsatz – auf demonstrative Aktionen: sein Hungerstreik gegen die Härte der Justiz im Falle der Pfunderer Buam5, seine Briefe, alle noch mit vollem Namen gezeichnet, seine regelmäßigen Auftritte auf der SVP-Landesversammlung, seine Vor- und Fürsprachen. Vor diesem Hintergrund mutet die Analyse, der BAS habe zu spät zugeschlagen, wieder etwas seltsam an, denn Kerschbaumer und viele junge Wagemutige taten in dieser Zeit genau das, was ihnen als Unterlassung angekreidet wird: Sie setzten friedliche Zeichen des Protestes, vom unerlaubten Fahnenhissen bis zur gewitzten Aktion des Luis Amplatz, am Tag von Sigmundskron6 vor dem Siegesdenkmal einen Kranz niederzulegen mit der Aufschrift „Dem Verfechter der Grenze bei Salurn Cesare Battisti – die Südtiroler“ (Peterlini 2005, 60). Der Bozner Quästor Renato Mazzoni, der mit Hängen und Würgen auch die Kundgebung auf Sigmundskron schlussendlich genehmigte, hatte schon im März 1957 in einem Bericht an das Innenministerium zu politischem Einlenken geraten, wenn nicht aus Gerechtigkeit, so zumindest aus Schlauheit, da man sonst irgendwann den SüdtirolerInnen mehr als das Gebührende werde gewähren müssen. Nach Sigmundskron und der Aufregung in der italienischen Presse wurde er versetzt. Die Regierung blieb auf ihrem Kurs, im April 1959 stellte sie selbst die bis dahin wenigstens pro forma aufrechterhaltenen Kontakte mit den österreichischen Delegierten ein. Es ist die Zeit, in der Kreisky Südtirol auf die Tagesordnung der Vereinten Nationen setzt und dafür politischen Druck wünscht, Kerschbaumer beginnt sich mit dem Griff zum Dynamit zu befassen.

Wie ein Witz klingt es, wenn Rolf Steininger glaubt, dass die Feuernacht die Chance auf Selbstbestimmung verbrannt hätte, dass also ohne Attentate die Selbstbestimmung möglich gewesen wäre. Diese Chance hatte Kreisky nie gesehen, höchstens als Druckmittel erwogen, aber davon nie Gebrauch gemacht. Er war sich mit Magnago im politischen Ziel einig: eine Autonomie. Es mag sein, dass in dieser Optik die AttentäterInnen ihr deklariertes und gefühltes Ziel, die Selbstbestimmung, verfehlt hatten. Aber politische Entwicklungen sind kein Multiple-Choice-Bogen mit drei falschen und einer richtigen Antwort: Was damals von jenen, die im Gefängnis saßen, als Misserfolg gesehen wurde, kann sich aus der Distanz der Jahre durchaus als Erfolg ausnehmen – als Erreichung eines Ziels auf andere Weise, als sie geplant oder erhofft war. Der Subtext aller deklarierten Ziele war doch, dass Südtirol jener Ohnmacht entwächst, die in den 1950er-Jahren die Stimmung prägte. Auch Kerschbaumer, so sehr sein Herz für die Selbstbestimmung schlug, war Realist genug, um – nicht nur aus Not vor Gericht, sondern in ehrlichen Gesprächen etwa mit Mithäftling Fontana – neben dem erträumten Höchstziel auch über Zwischen- und Unterziele nachzudenken (Peterlini 2005, 208f).

Die Schadensliste Steiningers, die er den AttentäterInnen vorlegt, ist lang und teilweise kurios: So nennt er „die Schaffung der ‚Aufbau-Bewegung‘ in Südtirol“ als „Folge der ‚Bomben-Politik‘“ (Steininger 1999, Bd. 2, 657), als wären Toni Ebner, Roland Riz, die SVP-Senatoren erst in der Feuernacht zu jener Gemeinschaft zusammengewachsen, die sie im Oktober als Aufbau auftreten ließ. Der Aufbau wurzelt, wie Franz Widmann anhand von parteiinternen Protokollen nachweist, bereits in der Gegenbewegung der alten Führung zur Palastrevolte von 1956, mit der – neben der Wahl Magnagos zum SVP-Obmann – der radikale Flügel um Hans Dietl, Peter Brugger, Alfons Benedikter, Friedl Volgger, Franz Widmann die Parteiführung übernahm und die alte Garde samt den meisten Parlamentariern ins Abseits drängte (Widmann 1998, 316ff, 341ff, 355ff, 407ff); schon unmittelbar danach gab es schwere Krisen, die Gefahr und die Pläne der Parteispaltung sowie den Versuch, Magnago wieder zum Rücktritt zu zwingen. Der 1961 organisiert auftretende Aufbau war dann gewissermaßen ein Aufstand der alten abgesetzten Führung mit verjüngtem Personal, durchaus auch von Sorge um die politische und wirtschaftliche Entwicklung im Lande und der Ablehnung der Gewalt getragen, von Magnago – der Gewalt ablehnte – aber ebenso berechtigt auch als machtpolitischer Angriff auf seine Position verstanden und entsprechend zurückgewiesen. Letztlich führte der Aufbau umgekehrt für einige Jahre wieder den bereits ins Abseits gedrängten Hans Dietl, einen politischen Verbindungsmann des BAS, mit Silvius Magnago zusammen (Peterlini 2007a, 218ff).

Ein anderer Vorwurf lautet: Österreich war mit der Feuernacht und der daraufhin von Innenminister Scelba installierten 19er-Kommission vom Verhandlungstisch weggebombt worden. Tatsächlich eröffnete die 19er-Kommission erstmals einen inneritalienischen Verhandlungsweg zwischen Bozen und Rom – aber wo liegt der Schaden? Erstmals wurde die politische Vertretung der Südtiroler ernst genommen, wenngleich es langen Mühens bedurfte, um aus einer wahrscheinlich als Abwiegelung gedachten Kommission eine ernsthafte Verhandlungsplattform zu machen – aber es gelang. Ein Schaden wäre es vielleicht gewesen, wenn Italien im selben Zug die Verhandlungen mit Österreich abgebrochen hätte, aber das tat es weder nach der Feuernacht noch nach den schwerwiegendsten Blutbädern der späten Phase. Kreisky gelang es sogar, nach der Feuernacht – und trotz des Baus der Berliner Mauer als weltpolitisch alles andere an den Rand drängendes Ereignis im Sommer 1961 – das weltpolitische Randproblem Südtirol im Herbst 1961 ein zweites Mal hintereinander auf die Tagesordnung der Vereinten Nationen zu setzen und eine zweite Resolution zu erwirken, mit Müh und Not, aber immerhin. Wo ist der Schaden? Die Art, wie die Attentate in New York gewirkt haben mögen, war freilich nicht geplant und sicher nicht gewollt: Kreiskys Hinweise auf die Folterungen unmittelbar nach dem Tod von Franz Höfler, dem jener von Anton Gostner folgen sollte, machte vor den Vereinten Nationen großen Eindruck, wie der damalige SVP-Beobachter Alfons Benedikter an Hans Dietl schrieb (Widmann 1998, 640f).

Auch Steininger und Fasser räumen ein, dass die Folterungen und – alles übertreffend – vor allem der Mailänder Prozess Wirkungen zeigten. Er beeinflusste vielleicht weniger, wie oft mythologisierend übertrieben wird, die Weltöffentlichkeit, wohl aber die Stimmung in Italien. Aber lassen sich die Taten von den Bedeutungen trennen, die sie stiften? Können wir die Anschläge isolieren und von den Folterungen und den Gerichtsprozessen absondern wie Bakterienkulturen in einem Reagenzglas? Solche gedankliche Operationen sind möglich, aber sie verwechseln Geschichtsschreibung mit einer exakten Wissenschaft (die so exakt dann auch wieder nicht ist) und erliegen dem Charme monokausaler Erklärungsstränge: Die Formel, die Anschläge hätten politisch klar geschadet, ist nur die Negation der Formel, dass die Anschläge genutzt haben – sie bewegt sich auf derselben kausalistischen, vereinfachenden, die Komplexität der Wirklichkeit aussparenden Denkschiene. Der Mythos wird nicht dekonstruiert, wird nicht leichter und durchschaubarer gemacht, sondern mit dem Hammer von Gegenmythen zertrümmert – und dadurch erst recht gestärkt.

Beides ist wahr und beides ist unwahr: Die Anschläge haben geschadet, den AttentäterInnen selbst, sie haben die Politik großen Belastungen ausgesetzt, sie haben das Verhandeln erschwert, sie waren zum Teil – vor allem in der Schlussphase – auch gegen die Verhandlungen gerichtet, weil faule Kompromisse befürchtet wurden und auch weil der Blick von Gejagten und Jägern zu eng wird für weite politische Lösungen. Die Anschläge haben großes Leid über alle Betroffenen gebracht, manches davon ist noch nicht verjährt. Die Anschläge haben, mit welcher blauäugigen guten Absicht sie auch begonnen wurden, unweigerlich jene Eskalation erfahren, die der Gewalt innewohnt – staatliche Gegengewalt, Verschärfung der Mittel bei den AttentäterInnen, Verschärfung der Mittel bei den Fahndern bis hin zu Mord und Terror auf beiden Seiten. Dies nicht zu sehen hieße, Gewalt als zulässiges und bewährtes Mittel von Politik zu etablieren. Die Anschläge hatten aber auch ihre Wirkungen – auf die italienische Regierung, auf die Verhandlungen, die nun nicht mehr nur zum Schein geführt wurden, sie haben den Ernst der Lage und die Notwendigkeit einer politischen Lösung klar gemacht, sie haben gewirkt durch das Bekanntwerden der Folter, weil es Unrecht in krassester Weise sichtbar machte, sie haben gewirkt in den Auftritten der AttentäterInnen selbst im Mailänder Prozess (vgl. beispielsweise Gandini 1995, 154ff; Canestrini 1995, 147ff). Dort waren es nicht Diplomaten, nicht Politiker, nicht ideologische Hetzer, sondern die einfachen Leute um Kerschbaumer und dieser allen voran, die Eindruck machten – lässt sich das loslösen von dem, was sie getan haben? Ja wären sie überhaupt dort gewesen, wenn sie nicht etwas getan hätten?

Die Autonomie ist kein Kind der Anschläge, aber die Anschläge gehören zu ihrer Geschichte, sind ein Kind des Ringens um Autonomie, das auch beigetragen hat zum Autonomieprozess. Die AttentäterInnen mögen alles andere gewollt haben, aber sie haben sich in diese Geschichte eingetragen. Wer heute die Autonomie genießt, kann nicht so tun, als hätte es da eine großartige politische Leistung gegeben und daneben irgendwo ein paar Knallfrösche am Spielfeldrand der Geschichte. Er muss damit leben, dass zu dieser Autonomie auch ein gewaltsamer Übergang gehört, der in einer Endloskette der Gewalt hätte enden können, zum Glück aber politisch beendet wurde. Die Autonomie ist Kind einer – im Rückblick – begnadet besonnenen und vernünftigen Strategie, die den Druck der Anschläge zu nutzen wusste, ohne sich davon korrumpieren und unter Druck setzen zu lassen – zu nennen ist an erster Stelle Silvius Magnago, mit ihm aber auch die österreichische Politik und Diplomatie und der Verantwortungssinn der maßgeblichen italienischen Politiker der Mitte-links-Regierungen ab Ende 1963, allen voran Giuseppe Saragat und Aldo Moro.

6. Die Kultur des zivilen Widerstandes gegen die Kultur der ­Freiheitskämpfe

Ein Denkspiel: Würden wir trotz allem die Sicherheit haben, dass die Anschläge ein Fehler waren und nur Schaden anrichteten – wer sollte dafür verantwortlich gemacht werden? Die AttentäterInnen? Sepp Kerschbaumer, der jahrelang zögerte, bevor er schweren Herzens den Befehl zum Zuschlagen gab, weil es ihm sonst wohl auch entglitten wäre? Oder die Diplomaten und Politiker und Förderer, von denen einige zu den klügsten Köpfen ihrer Zeit gehörten und auch keinen besseren Rat wussten, als dass es Unruhe geben müsse in Südtirol, um Italiens Politik aus ihrer Unbekümmertheit zu wecken? Wer sollte da vor das moralisch-wissenschaftliche Gericht? Die Frage ist nicht lächerlich, denn wo Fehler sind, muss Verantwortung aufgezeigt werden, sonst war die Frage nach Schaden oder Nutzen das, als was sie sich häufig verrät: müßig. Die Anschläge sind nicht aus Launen heraus passiert, sondern aus einer damals subjektiv gefühlten – und daher objektiv nachträglich nicht widerlegbaren – Ohnmachtssituation.

Wenn die Frage, ob die Anschläge gut waren oder nicht, nicht müßig sein soll, dann muss sie im Kontext der politischen Kultur des Landes beantwortet werden, in der die TäterInnen ebenso agierten wie jene, die nicht TäterInnen waren, weil sie nichts taten. Es gibt viele Hinweise, dass die AttentäterInnen – warum nennt man sie eigentlich nicht einfach nach dem, was sie getan haben? – dass also jene, die Attentate verübten, dies in einer Tradition taten, die bis auf Andreas Hofer zurückgeht: das Land durch Aufstand der kleinen Leute zu befreien, den Feind aus dem Land zu werfen durch Überfälle und Überraschungsschläge, vermeintlich zumindest im Dienst des turnusmäßigen Kaisers oder Kreiskys. Die Attentatsbewegung zog Kraft aus dem Gedenkjahr 1959 an die Freiheitskämpfe von 1809, aus den Hofer-Schauspielen, aus dem Landesfestumzug in Innsbruck, aus der Revitalisierung einer bis dahin resignierten Stimmung. Kerschbaumer, Amplatz, auch Klotz wurden, als man sie ins Grab legte, als jeweils neuer Andreas Hofer apostrophiert. Mythen sind Handlungs- und Rollenangebote an immer neue Generationen, sie verarbeiten die Geschichte eines Landes zu einem Drehbuch auch für die Zukunft, dem schwer zu entrinnen ist: In den Kampf gezogen seien 1809 und 1961 die Bauern und Handwerker, die Städter seien jeweils daheim geblieben, sagt Sepp Innerhofer, der in Meran in einem Hofer-Schauspiel mitspielte (Peterlini 2005, 122).

In der Aussage liegt, unbewusst, auch eine Blickverschiebung, weg von den Aufständischen, hin zu einem kulturellen gesellschaftspolitischen Muster. Unruhen hatte sich auch Viktoria Stadlmayer gewünscht, es lag auf der Hand, dass Südtirol sonst nie etwas bekommen würde, sie wählte dafür die eigenwillige Formulierung: „Ein tätiges, aber nicht kriminelles Sich-nichts-mehr-gefallen-Lassen“ (Peterlini 2005, 57). Kerschbaumer war ein einsamer Kämpfer in dieser Übung: sein Hungerstreik, seine Bittbriefe, die landesweiten Aktionen, die verbotene Tiroler Fahne zu hissen oder Felswände rot-weiß zu bestreichen, schließlich das verbotene Fahnenhissen bei helllichtem Tag, um verhaftet und verurteilt zu werden und den Staat dadurch ins Unrecht zu versetzen. Sein Scheitern mag darin liegen, dass er schließlich der Versuchung des Befreiungsschlages erlegen ist, er war ein gottesfürchtiger, frommer Mann, aber kein Gandhi – er ließ sich, wie übrigens auch Andreas Hofer, treiben vom Ruf nach Gewalt.

Wer nachträglich vom besseren Weg des zivilen Widerstandes schwärmt, muss doch die Frage stellen: Warum ist Kerschbaumer allein geblieben? Sigmundskron war eine Massendemonstration, ein starkes Signal, aber in der SVP wurde es von den Kräften der späteren Aufbau-Bewegung zum Anlass, Silvius Magnago zu einer Kursmilderung zu zwingen; auf Sigmundskron folgte wenig, was Italien wirklich zum Einlenken bewegt hätte, noch 1960 wurden in Bozen an einem Sonntagmorgen Kirchgänger niedergeknüppelt, weil sie trotz untersagter Andreas-Hofer-Feier das Andreas-Hofer-Lied anstimmten. Die Empörung wurde geschluckt, die Proteste versiegten. Die AttentäterInnen dafür verantwortlich zu machen, dass sie „keinen anderen Weg“ mehr sahen (Mitterhofer/Obwegs 2000, Seite?), blendet den Anteil aller anderen aus, die Zivilcourage vermissen ließen. Als die Schreie der Gefolterten in Eppan, in Neumarkt, in Meran auf die Straße drangen, blieben die SüdtirolerInnen in ihren Betten. Die Verantwortung dafür, was 1961 explodiert ist, liegt auch bei einer Kultur, die den zivilen Widerstand nicht nur nie gewürdigt, sondern meist schwer geächtet hat. Tirol/Südtirol hatte (und hat weitgehend noch) keine Kultur der Zivilcourage, sondern eine Kultur des langwährenden Schluckens und eruptiven Ausbruchs, das Land der Freiheitskämpfe hat eine äußerst eingeschränkte Kultur zivilgesellschaftlichen Handelns. Die Grundhaltung ist Hinnehmen und Zurechtkommen, Sich-Arrangieren, die Veränderung wird an einige wenige delegiert, im Normalfall an die politische Klasse, im Ausnahmezustand an den Helden vom Dienst. Tausende Kerschbaumers, die Einzahlungen verweigern, wenn der Postschein nur italienisch ausgestellt ist, die der Polizei auf Deutsch antworten, die deutsche Lieder singen und sich schlagen lassen, die zivilen Widerstand leisten, die sich vor Gefängnisse stellen – das wäre zweifellos die schönere Variante der Südtiroler Geschichte gewesen. Aber das war es nicht: So bleibt das Unbehagen in der Geschichte und auch in der Kultur.

Anmerkungen

1 Schon am 27.3.1961 war, neben anderen BAS-Attentaten in derselben Nacht, an einem Baum in Salurn (wo die Grenze zwischen Südtirol und Trentino verläuft) an der Staatsstraße eine Sprengladung angebracht worden. Der Straßenwärter Giovanni Postal entdeckte sie und rief die Carabinieri. Als er am Morgen nach der Feuernacht wieder eine Ladung sah, versuchte er sie selbst vom Baum zu holen.

2 Der Mord wurde von dem in den BAS eingeschleusten Christian Kerbler mit einer Polizeiwaffe und in staatlichem Auftrag in der Nacht vom 6. auf den 7. September 1964 unter dem Eindruck (3.9.1964) der Ermordung des Carabiniere Vittorio Tiralongo verübt; Amplatz-Begleiter Jörg Klotz wurde von Kerbler schwer verletzt, konnte sich aber mit einem Gewaltmarsch über die Grenze retten.

3 Ehefrau des vom österreichischen Exil aus agierenden Attentäters Jörg Klotz. Um Druck auf ihren Mann auszuüben, wurde Rosa Klotz, trotz sechs zum Teil noch kleiner Kinder, vom Oktober 1966 bis Weihnachten 1967 in Untersuchungshaft gehalten.

4 Magnagos Wahl zum SVP-Obmann 1957 wurde von radikalen Kräften in der SVP im Sinne einer Ablösung der als zu schwach empfundenen Gründergeneration mitgetragen; Magnago wurde in der Folge auch Landeshauptmann und blieb es, als dominierende Persönlichkeit der Autonomiepolitik, bis 1989. Die Attentate lehnte er strikt ab. Gargitter wurde 1952 zum Bischof geweiht, seine Versöhnungsbotschaft trug ihm in den patriotischen Kreisen den Schimpfnamen walscher Seppl ein.

5 Infolge eines Streites zwischen Bauernbuben und Finanzer, die lange friedlich miteinander gezecht hatten, kam in der Nacht vom 15. auf den 16. August 1956 der italienische Finanzbeamte Raimondo Falqui ums Leben. Fünf der Bauernburschen, die nie politisch aufgetreten waren, wurden zu unglücklichen Protagonisten einer politisch aufgeheizten Justizgeschichte. Die Härte der Vorgangsweise und Urteile gegen die Pfunderer Buam war einer der Auslöser für die Bildung des BAS in Nordtirol.

6 Die Kundgebung von Sigmundskron am 17. November 1957 war mit der Forderung des

Los von Trient und der eindrucksvollen Beteiligung von 35.000 Menschen der Auftakt zum politischen Autonomiekampf.

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Abstracts

Il disagio nella storia.
50 anni di fuochi – un dibattito
ancora aperto

Nella notte tra l’undici al dodici giugno 1961, esplosero in Alto Adige circa quaranta ordigni collocati con l’intento di distruggere altrettanti simboli e sovrastrutture dello Stato italiano. I tralicci distrutti furono trentasette. Fu il culmine di un’azione violenta del “Movimento per la liberazione del Sudtirolo” che si firmava con la sigla BAS (Befreiungsausschuss Südtirol). Già negli anni e soprattutto nei mesi precedenti la protesta contro la politica del governo ritenuta repressiva e ingiusta si era manifestata in attentati dinamitardi. Nel messaggio di rivendicazione, il BAS accusò il governo di “metodi fascisti” e reclamò il diritto all’autodecisione per l’Alto Adige. Gli organi di sicurezza, dopo una fase di disorientamento riuscirono ad arrestare nel giro di poche settimane quasi la metà dei “bombaroli”, ricorrendo anche alla tortura. La maggior parte di coloro che si salvarono dagli arresti abbandonò il BAS, ma un gruppo ristretto, sostenuto da militanti austriaci e tedeschi, continuò la lotta armata, sempre più esasperata dall’esilio in Austria.

La “notte dei fuochi” è entrata nei miti politici della storia sudtirolese. Anche a distanza di cinquant’anni il dibattito sugli attentati degli anni Sessanta è segnato da valutazioni che oscillano tra la piena riabilitazione politica e pesanti riserve per un terrorismo che, nonostante il suo intento “soft” causò gravissime sofferenze alle vittime, alle loro famiglie e agli attentatori stessi.

Le malester tla storia. 50 agn dala „Feuernacht“ –
na confrontaziun

Tla nöt danter i 11 y i 12 de jügn dl 1961, olach’al gnô do tradiziun impié sö i füć por la festa dl Cör de Gejù, él gnü fat jì ciarà 40 ćiaries de esplosif te Südtirol. 37 stanges dla löm é gnüdes desdrütes. Chësc é stè le punt culminant di atentać y dles aziuns de violënza dl „Befreiungssausschuss Südtirol“ (BAS), metüdes man bele ti agn denant y portades inant ćiamò ti agn dedô. Cun chëstes aziuns orô i mëmbri dl BAS protestè cuntra les „metodes de dominanza fascista“ dl stat democratich talian y ghiré le dërt de autodeterminaziun por Südtirol. Do la malsegurëza dles unitês antiteroristiches dl stat che ne savô te n pröm momënt nia co s’astilé, él gnü sarè ia arbitrariamënter cotan de porsones, olache n valgönes porsones inozëntes à messü lascè la vita por i maltratamënć comanà dal alt. Insciö é le BAS impröma gnü sarè ia y spo desdrüt te püćes edemes.

La „Feuernacht“ alda pro i avenimënć dla storia jona de Südtirol incër chi ch’al s’à cherié n valgügn mîć. Le confrunt cun chisc avenimënć porta val’ iade a orëi plü ion s’ai desmentié y ai lascè sön na pert; da val’ pert vëgni condanà y da val’ atra pert vëgni tignìs dër alalt. Ai 11/12 de jügn dl 2011 saràl avisa passè 50 agn dala „Feuernacht“.

The Discomfort of History.
Fifty Years After the Night of Fire: a Debate

On the night of June 11th, 1961, more than 40 explosive devices blew up in South Tyrol during the Feast of the Sacred Heart, in which symbolic fires are traditionally set on the mountainsides. There were 37 power poles destroyed in the attacks. The series of attacks, which had been preceded by terrorist actions over the years and by more strikes in South Tyrol and northern Italy in the days and weeks that followed, was the culmination of the violent actions of the Befreiungsausschusses Südtirol (BAS), or South Tyrolean Liberation Committee, which had been protesting against the “methods of the fascist dictatorship” in democratic Italy at the time, calling for self-determination for South Tyrol. After initial uncertainty on the part of the Italian state’s anti-terror units, arbitrary arrests, and innocent victims of nightly shooting orders, the BAS was crushed, for the most part—only weeks after the first arrest.

The Night of Fire is one of the mythical and myth-building events in the recent history of South Tyrol: its reappraisal ranges from repression to condemnation to homage. The night of June 11th, 2011 marks the 50th anniversary of the Night of Fire.