7. Politische Persönlichkeit des Jahres
Personaggio politico dell’anno
Stephan Lausch - © ff – Südtiroler Wochenmagazin/Alexander Alber
Karl Hinterwaldner
Stephan Lausch:
Der für mehr Demokratie kämpft
Er gilt als der Vater der direkten Demokratie in Südtirol, die am 25. Oktober 2009 mit der ersten landesweiten Volksabstimmung eine Premiere feierte: Genau 148.815 Südtirolerinnen und Südtiroler stimmten ab, eine überwältigende Mehrheit davon für mehr direkte Demokratie. Trotzdem reichte es nicht. Es hätten rund 7.500 Menschen mehr zur Wahl schreiten müssen, damit das erforderliche Quorum von 40 Prozent erreicht worden wäre. Am Ende waren es 38,1 Prozent, damit war die Volksabstimmung gescheitert. Knapp gescheitert.
Stephan Lausch wurde tags darauf in Zeitungen, Radio und Fernsehen trotzdem wie ein Sieger gefeiert. Er habe es geschafft, wesentlich mehr Wähler an die Urnen zu bringen, als die meisten geglaubt hatten. Viele, allen voran die SVP-Spitze, redeten die Volksabstimmung klein. Sie riefen indirekt dazu auf, sie zu boykottieren, indem sie sagten, sie würden nicht hingehen. Man habe schon ein Gesetz zur direkten Demokratie, mehr brauche es nicht. Sogar als verfassungswidrig wurden die fünf Gesetzentwürfe gebrandmarkt. Doch durch solche Querschüsse ließ sich Lausch nicht beirren. Tapfer kämpften er und seine Initiative für mehr Demokratie weiter. Man diskutierte, hielt dagegen, warb für das „bessere Gesetz zur direkten Demokratie“, das von immerhin 26.000 Menschen und 40 Organisationen mit ihrer Unterschrift unterstützt worden war. Am Ende setzte sich noch einmal die SVP durch, die, da waren sich die Kommentatoren einig, jedoch einen Pyrrhussieg eingefahren hat. Denn nur auf die deutschsprachige Bevölkerung bezogen, die die SVP vorgibt zu vertreten, wäre das Quorum von 40 Prozent locker erreicht worden. Was fehlte, waren die Stimmen von Italienern und Ladinern.
„Wir haben es versäumt, sie miteinzubeziehen“, gibt Lausch zu. Damit habe man einen „gewaltigen Schritt“ für mehr Demokratie im Land verpasst. Aber vielleicht sei es auch gut so, denn ein politisches System zu ändern, erfordere kleine Schritte, viel Zeit und noch mehr Überzeugungsarbeit. Stephan Lausch, 54, kann allem etwas Gutes abgewinnen. Das ist eine Konstante, die ihn zeit seines Lebens prägt.
Stephan Lausch ist in Bozen geboren und aufgewachsen. Seine Wurzeln reichen weit in den Osten, ins alte Österreich-Ungarn, nach Slowenien, nach Rumänien. Die Großmutter war Wolgadeutsche. Er ist evangelisch getauft worden, die katholische Kirche liegt ihm fern. So wuchs der kleine Stephan auf mit einer gewissen Distanz zur traditionellen Tiroler Kultur. Er war nicht eingebettet in ein Beziehungsnetz, das ihm „die Freiheit genommen“ hätte. Er sei stets unabhängig und autonom gewesen. Diese Werte versuchte er auch an seine beiden Töchter weiterzugeben, indem er ihnen vorlebte, was er als gut ansieht.
Lausch studierte Philosophie, Psychologie und Germanistik in Salzburg und Heidelberg. Nach dem Studium stellte sich für ihn die Frage, ob er im elfenbeinernen Turm der Wissenschaft bleiben möchte, an der Universität, in der Lehre oder ob er etwas an der Realität verändern wollte. „Das Streben nach dem Guten“, sagt er, „ist ja ein philosophisches Bestreben. Was ist das Gute? Und wie kann man das Gute für die Gesellschaft, für den Menschen und für sich selbst realisieren?“ Lausch hat sich für den zweiten Weg entschieden. Damit war er in den Achtzigerjahren schnell mit der Umweltproblematik konfrontiert. Nach seiner Erfahrung agieren viele Umweltorganisationen so, dass sie punktuell zu verhindern oder zu verbessern versuchen. Das Bild, das Lausch damals ständig vor Augen hatte, war jenes eines Erosionshanges. Mittendrinnen stand er selbst. „Man läuft von einem Rutschgebiet ins nächste, ohne die Bedingungen selbst zu verbessern“, sagt er. Solange man auf dieser Ebene handelt, bewegt man nicht, sondern wird bewegt. Lausch entschied sich für den Eintritt in die politische Dimension. Er versuchte Antworten zu finden auf Fragen wie: Wie muss Demokratie anders funktionieren, damit die Menschen die Möglichkeit haben, nicht nur punktuell zu agieren, zu bewahren, zu verbessern? Er gelangte zur Erkenntnis, dass sie die Rahmenbedingungen in die Hand bekommen müssten, um die Voraussetzungen für eine andere Entwicklung setzen zu können. Aus dieser Überzeugung heraus arbeitet Lausch.
Er wird immer wieder gelobt für die Beharrlichkeit, mit der er sein Ziel über Jahre hinweg verfolgt. Und er ist froh, dass er eine Arbeit tun kann, die vollkommen dem entspricht, was seiner Ansicht nach für die heutige Gesellschaft am notwendigsten ist. Für das lebt er.
Es ist kein leichter Weg, den Lausch für sich ausgesucht hat. Denn für mehr Demokratie zu kämpfen, ist ein hartes Brot. Und Stephan Lausch ist kein Volkstribun, der die Massen mit seinen Reden mobilisiert, sondern eher ein sanfter Verschwörer, der leise und überlegt spricht. Wer ihm zuhört, gewinnt den Eindruck, dass die Beschäftigung mit Begriffen wie „Demokratie“, „Schweiz“, „Volksentscheid“ oder „Dialogkultur“ etwas Gedankenschweres sein muss, das tiefen Ernst über sein Gesicht legt. Er sagt dann Sätze wie: „In erster Linie geht es für mich um die Überwindung der Herrschaftsverhältnisse in jeder Hinsicht, um eine Aussicht zu haben, das Verhältnis zur Natur in ein Gleichgewicht zu bringen.“
Die Schweiz findet Stephan Lausch „wunderbar“. Denn sie sei ein Land, das zeige, „wie ein politisches System demokratischer funktionieren“ kann. Freilich, auch in der Schweiz gäbe es allerhand zu verbessern, doch im Verhältnis zu Südtirol könnten dort „freie Menschen“ selbst über ihre Wünsche und Hoffnungen bestimmen und vor allem abstimmen. In Südtirol hingegen gibt es das System der repräsentativen Demokratie, in dem der Souverän, das Volk, seine Macht an Politiker und damit an die Parteien abtritt. Sie können Ziele nur dann realisieren, wenn sie Macht haben. „Daher“, sagt Stephan Lausch, „steht für sie die Machterlangung und ihr Erhalt an erster Stelle.“ Die Realisierung der besten Ideen, der Ideale, werde dadurch hintangestellt. Das sei der Fehler im System.
Dazu komme, sagt Lausch, dass so ein System, je länger es existiert, mehr und mehr korrumpiert werde. Durchsetzen würden sich letztlich Machtmenschen, denen es nicht um das Allgemeinwohl, sondern vorwiegend um Eigeninteresse und Privilegien gehe.
Als Stephan Lausch in den Neunzigerjahren im Bozner Ökoinstitut gearbeitet hat, bekam er das System, wie er es nennt, hautnah zu spüren. Damals habe man „von der Notwendigkeit der ökologischen Wende“ gesprochen. Das ökologische und soziale Ungleichgewicht hätte endlich beseitigt werden müssen, um zu einer neuen, gerechteren Gesellschaft gelangen zu können. Aber es habe sich bald gezeigt, erzählt Lausch, dass das politische System für derlei Dinge „nicht sensibel ist“. Die Vorschläge von ihm und von seinen Mitstreitern seien damals gegen einen Zementbau, schlimmer noch, gegen eine Gummiwand geprallt.
Seitdem ist er überzeugt davon, dass die Gründe für das Scheitern im politischen System liegen, das „im Wesentlichen von Eliten bestimmt“ werde. Sie seien interessiert an einem ökologischen und sozialen Ungleichgewicht in der Gesellschaft, damit eine gewisse Spannung bestehen bleibt. Dadurch könnten sie sich an der Macht halten. Anstrebenswert sei aber gerade das Gegenteil, die soziale Gerechtigkeit und der Ausgleich, um für ökologische Bedingungen sorgen zu können, die einen Fortbestand der Gesellschaft bedeuten würden.
Stephan Lausch hat daraus eine für ihn fundamentale Erkenntnis gewonnen: „Menschen sind nur dann imstande zu wissen, was für sie innerhalb der Gesellschaft gut ist, wenn es freie Menschen sind. Fremdbestimmte Menschen stehen in der Gefahr, nicht die richtigen Entscheidungen für sich zu treffen.“ Daher seien Parteien im klassischen Sinne Auslaufmodelle. Sie würden keine Lösungen für Probleme bieten, denn sie funktionieren nach Mechanismen, die dazu nicht geeignet seien.
Stephan Lausch und die Seinen werden deswegen einen erneuten Vorstoß wagen. Das Volk soll selbst über sein Wohl und Wehe entscheiden dürfen. Daher dürfe es seinen Willen nicht ausschließlich an Politiker delegieren, wie es derzeit der Fall ist. Lausch möchte die „mindestnotwendigen Verbesserungen für direkte Demokratie“ durchsetzen. Dazu gehören unter anderem die Absenkung des Quorums auf 15 Prozent, die Einführung von Schutzklauseln für Sprachminderheiten und die Möglichkeit, über Beschlüsse der Landesregierung abstimmen zu können. Der letztgenannte Punkt bezieht sich vor allem auf sogenannte Großprojekte, die die Regierenden meist über die Köpfe der Betroffenen hinweg beschließen würden.
Stephan Lausch ist bereit zu kämpfen, mehr noch als bisher. Das sei seine Bestimmung. Denn er hat seine Berufung vor Jahren zu seinem Beruf gemacht, Lausch ist der einzige hauptamtliche Mitarbeiter des Vereins Initiative für mehr Demokratie. Mehr kann sie sich nicht leisten, obwohl „noch weitere zwei, drei Arbeitskräfte“ notwendig wären. So arbeitet sie mit einem Koordinator, der Stephan Lausch heißt, und ehrenamtlichen Mitarbeitern.
Es war eine Mammutaufgabe, die Volksabstimmung vom 25. Oktober finanziell zu schultern – von einem Verein, der weniger als 500 Mitglieder hat. Doch die 60.000 Euro Schulden, die aus dem letztlich vergeblichen Anlauf entstanden sind, konnte der Verein nach Angaben von Lausch innerhalb von vier Monaten abtragen. „Mithilfe von Bürgern, Privatpersonen und im geringeren Ausmaß durch Zuwendungen von Organisationen“, wie er sagt.
Vom Land erhalte die Initiative zwar auch Förderungen – für Projekte zur politischen Weiterbildung –, aber nur in einem Ausmaß von maximal 20.000 Euro. Damit die Unabhängigkeit gewahrt werde, sagt Stephan Lausch.
Schließlich können nur wirklich freie Menschen die richtigen Entscheidungen für sich und die Gesellschaft treffen.
Quellen
www.dirdemdi.org
http://wahlen.provinz.bz.it
ff – Südtiroler Wochenmagazin, 20/2000, 48/2000, 40/2009, 43/2009, 44/2009
Corriere dell’Alto Adige, 27.10.2009
Alto Adige, 26.10.2009, 27.10.2009
Neue Südtiroler Tageszeitung, 27.10.2009
Dolomiten, 8.9.2010, 24.9.2010, 24.10.2009, 26.10.2009, 27.10.2009
Gespräch mit Stephan Lausch am 22.3.2010
Begründung der Jury
Stephan Lausch
Persönlichkeit des Jahres
Die Südtiroler Gesellschaft für Politikwissenschaft/Società di Scienza Politica dell’Alto Adige/Südtiroler sozietà per scienza pulitica zeichnet jedes Jahr eine Persönlichkeit aus, die in einem gewissen Zusammenhang mit Südtirol steht und die sich durch besondere Leistungen im Bereich der Politik hervorgetan hat.
Der Vorstand der Gesellschaft hat sich bei der Nominierung der Persönlichkeit des Jahres 2009 einstimmig für Stephan Lausch ausgesprochen.
Stephan Lausch setzt sich seit vielen Jahren für die Ergänzung der repräsentativen Demokratie in Südtirol durch Formen der plebiszitären Demokratie ein. Damit haben er und die von ihm gegründete „Initiative für mehr Demokratie“ einen wichtigen Beitrag für die partizipative politische Kultur des Landes geleistet, die zukunftsverantwortlich und nachhaltig ist. Die jahrelangen, nie abgebrochenen Diskussionen zu diesem Thema haben in Südtirol das Wissen und das kritische Bewusstsein über die Demokratie im Allgemeinen und über die direkte Demokratie im Besonderen gefördert und ausgeweitet.
Der Einsatz von Stephan Lausch ist stets ehrenamtlich, überparteilich, transparent, fair und sprachgruppenübergreifend gewesen, getragen von der Bereitschaft, alle in diesen öffentlichen Diskurs miteinzubeziehen. Das hat seine Glaubwürdigkeit auch bei jenen ansteigen lassen, die seinen Vorstellungen skeptisch bis ablehnend gegenüberstehen.
Trotz vieler Rückschläge ist der Einsatz von Stephan Lausch zur Verwirklichung von mehr Demokratie über Formen der direkten Partizipation nie weniger geworden. Sein Ziel bleibt, die Distanz zwischen MachtträgerInnen und Machtunterworfenen zu reduzieren. Dieser Prozess der zunehmenden Identität zwischen Herrschenden und Beherrschten bedeutet letztlich nichts anderes als die Annäherung an den utopischen Kern der Demokratie, in der die Macht aufgehoben ist.
Motivazioni della giuria
Stephan Lausch
Personalità dell’anno
Ogni anno la Società di Scienza Politica dell’Alto Adige/Südtiroler Gesellschaft für Politikwissenschaft/Südtiroler Sozietà per Scienza Pulitica premia una personalità che è in una qualche relazione con l’Alto Adige e che si è distinta per particolari iniziative in ambito politico.
Come personalità dell’anno 2009 il direttivo della Società ha scelto all’unanimità Stephan Lausch.
Da molti anni Stephan Lausch si impegna a integrare la democrazia rappresentativa in Alto Adige mediante forme di democrazia plebiscitaria. Il lavoro suo e della “Initiative für mehr Demokratie/Iniziativa per più democrazia” da lui fondata sono un contributo importante alla cultura politica della partecipazione in questa terra, una cultura politica responsabile verso il futuro e sostenibile. Le discussioni durate anni e mai interrotte su questo tema hanno incentivato e ampliato in Alto Adige il sapere e la coscienza critica della democrazia in generale e della democrazia diretta in particolare.
L’impegno di Stephan Lausch, non retribuito, è sempre stato sovra-partitico, trasparente, leale e trasversale ai gruppi linguistici, sostenuto dalla disponibilità a coinvolgere tutti nel discorso pubblico. Ciò ha fatto crescere la sua credibilità anche tra coloro che lo considerano con scetticismo ovvero che rifiutano le sue idee.
Nonostante molti colpi incassati, non è mai diminuito l’impegno di Stephan Lausch per realizzare più democrazia attraverso forme di partecipazione diretta. Il suo obiettivo resta quello di ridurre la distanza tra coloro che detengono il potere e coloro che vi sono sottomessi. Questo processo verso una progressiva coincidenza tra chi esercita e chi subisce il dominio non è altro che un avvicinamento al nucleo utopico della democrazia, dove il potere cessa di esistere.
Motivaziun dla iuria
Stephan Lausch
Personaje politich dl ann
La Sozieté de Sciënza Politica de Südtirol/Südtiroler Gesellschaft für Politikwissenschaft/Società di Scienza Politica dell’Alto Adige onorëia vigni ann na personalité, che é de val’ vers en relaziun cun Südtirol y che s’à alzè fora porvia de resultać particolars tl ćiamp dla politica.
Le consëi dla sozieté à chirì fora al’unanimité sciöche personaje dl ann 2009 Stephan Lausch.
Stephan Lausch se dà jö da n gröm de agn incà por la integraziun dla democrazia rapresentativa te Südtirol cun formes dla democrazia plebiscitara. Insciö ti àl dè a süa “scomenciadia por de plü democrazia” n gran contribut ala cultura politica de chi che tol pert ala vita politica a livel provinzial, politica persistënta y responsabla por le dagnì. Les discusciuns lunges, che ne s’à mai rové sön chësc argomënt à stimolé te Südtirol le savëi y la cosciënza critica sön la democrazia en general y sön la democrazia direta en particolar.
L’ingajamënt de Stephan Lausch é dagnora stè onorar, sura i partis fora, trasparënt, coret y sura i grups linguistics fora, portè da na desponibilité de trà ite te chësc discurs publich düć canć. Chësc à lascè crësce süa credibilité inće pro chi che ê scetics o ćinamai cuntra sües vijiuns.
Inće sce al s’à ciafè tröc cuntracolps ne n’à Stephan Lausch mai zedü de realisé de plü democrazia cun formes de partezipaziun direta. So travert resta chël de smendrì la destanza danter chi che à le podëi y chi che é sotmetüs al podëi. Chësc prozès de na maiù identité danter i dominadus y i dominà n’ô dì tla finada nia d’ater co l’arvijinamënt al nojel utopistich dla democrazia, olache al vëgn eliminé le podëi.