Andrej Werth
Much ado about nothing?
Zur Identitätskonstruktion der Europaregion Tirol-Südtirol-Trentino
1. Einleitung
„Tirol gibt es seit gut 800 Jahren, und der europäische Einigungsprozess wird dazu führen, dass die Nationalstaaten zurückgedrängt werden und jene Gebiete zusammenwachsen, die zusammengehören. Tirol existierte bis 1919, dann wurde es zerschlagen und willkürlich aufgeteilt. Aber wir Tiroler sind stur und konsequent, daher schlagen wird den Weg zur Euregio ein.“ Diese Aussage wurde Anfang 2009 vom damaligen SVP-Parteiobmann Elmar Pichler-Rolle im Regionalrat der Autonomen Region Trentino-Südtirol im Rahmen einer kontroversen Debatte getätigt (Pichler-Rolle 2009). Das vorliegende Zitat stellt keine Besonderheit im aktuellen politischen Diskurs der Südtiroler politischen Elite dar, sondern steht symptomatisch für eine Reihe in diese Richtung abzielender Äußerungen hiesiger Landespolitiker, welche die Europaregion Tirol-Südtirol-Trentino (kurz ERT) wieder in den Fokus der Betrachtungen stellen möchten. Dabei stellt sich die Frage, warum dieses ehemals ambitionierte Projekt wieder aus der Versenkung geholt wird und sich nun wieder großer rhetorischer Beliebtheit erfreut.
Welch historische Spannungskraft und welch politisches Potenzial in dieser Thematik verborgen liegen, wird unmittelbar klar, wenn man die politische Rhetorik näher betrachtet und die politische Selbstlegitimation zur Gründung einer dergestalteten grenzübergreifenden Kooperationsform kritisch überprüft. Bereits durch das eingangs angeführte Zitat wird belegt, dass die Europaregion Tirol immer im Zusammenhang mit historischen Reminiszenzen und im Bewusstsein politisch-historischer Partikeln benutzt und in diesem Sinne instrumentalisiert wird. Die vermeintlich gemeinsame Geschichte dieses Raumes wird dabei in den Vordergrund der politischen Argumentation gestellt und dient als Deckmantel für ein politisches Unterfangen, dessen historische Anknüpfungspunkte hinterfragt werden müssen. Ein zentraler Aspekt dieser Debatte ist die immer wieder propagierte Formel der Landeseinheit, derer man sich gerade im „Anno Neun“ gerne bedient und die als Oberbegriff für die anscheinend noch heute vorherrschende und gültige gemeinsame Identität der ehemaligen „gefürsteten Grafschaft Tirol“ genutzt wird.
In diesem Sinne soll nun der Frage nachgegangen werden, ob und inwiefern die Europaregion Tirol-Südtirol-Trentino im aktuellen politischen Diskurs regionaler Zusammenarbeit eine Sonderrolle bezüglich der Überbetonung einer gemeinsamen Geschichte und Identität einnimmt.
Es besteht die Annahme, dass im Rahmen dieses regionalen Zusammenschlusses Historie und Identität einen zentralen Stellenwert zur Konstruktion des politischen Raumes einnehmen, der den eigentlichen Zweck von Europaregionen, im Sinne der Positionierung von gemeinsamen politischen Problemlagen, stark überlagert.
Da in diesem Zusammenhang Begriffe wie Region, Raum und Identität im Vordergrund stehen, wird eingangs zu Aspekten der Raumtheorie mit Verweis auf den europäischen Regionalismus und die regionale Öffentlichkeitskultur ein methodisches Korsett entwickelt, um auf den Konstruktionsgehalt europaregionaler (historischer) Tiroler Identität und den besonderen Stellenwert von Geschichte hinzuweisen und Rückschlüsse hinsichtlich des Fallbeispieles zu ziehen.
2. Raumtheorien
Raumtheorien erfreuen sich seit einigen Jahren in den Geistes- und Sozialwissenschaften großer Beliebtheit, was am inzwischen bereits sehr beachtlich angewachsenen Forschungsstand sehr leicht überprüfbar ist. Die Renaissance des Räumlichen lässt sich chronologisch mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges verorten. Neue Entwicklungen, wie etwa die voranschreitende Globalisierung, die gesellschaftliche Fragmentierung, territoriale Grenzverschiebungen und anwachsende Migrationsprozesse stellten Gesellschaft, Politik und Wissenschaft vor neue Herausforderungen und neue Fragen (vgl. Kittsteiner 2004, 16). Kultur tritt unter veränderten Vorzeichen in den Fokus der wissenschaftlichen Betrachtung, die cultural studies, die sich zunächst in den USA entwickelten, lieferten dabei in Bezug auf eine sich verändernde Theorienlandschaft und bezüglich der Themenwahl einen wichtigen Beitrag zur Veränderung wissenschaftlicher Auseinandersetzung. Dies führte zu Neuorientierungen und Paradigmenwechseln in den diversen wissenschaftlichen Teildisziplinen, welche man unter dem Sammelbegriff der cultural turns zusammenfassen kann und die zur Erkenntnis führten, dass die vermeintliche Realität vom Menschen selber geschaffen, das heißt konstruiert wird und dass damit auch ein potenzieller Kampf um die Durchsetzung einer bestimmten Wirklichkeit vor sich geht. Dabei muss die Frage gestellt werden, wer die Macht zur Etablierung und Durchsetzung bestimmter Bedeutungssysteme hat (vgl. Bachmann-Medick 2006, 34). In diese Reihe von Bezugssystemen fällt auch die Wiederentdeckung der räumlichen Komponente, die derzeit unter anderen Vorzeichen betrachtet und als spatial turn bezeichnet wird. Edward Soja, ein Vertreter der postmodernen Politischen Geografie, prägte diesen Begriff wesentlich mit und erklärte:
„Contemporary critical studies have experienced a significant spatial turn. In what may be seen as one of the most important intellectual and political developments in the late twientieth century, scholars have begun to interpret space and the spatialty of human life with the same critical insight and emphasis that has traditionally been given tot ime and history on the one hand, and to social relations and society on the other.“ (zitiert nach Döring/Thielemann 2008, 9)
Es wäre jedoch falsch zu behaupten, die Kategorie Raum stelle eine völlig neue und innovative Kategorie zur Untersuchung gesellschaftswissenschaftlicher Fragestellungen dar, sondern es kann eindeutig festgestellt werden, dass sich der Raumdiskurs durch die gesamte Wissenschaftsgeschichte zieht.
Die philosophische Beschäftigung mit der Raumthematik hat ihre Wurzeln bereits in der Antike im Kreis der griechischen Denker. Die Beweggründe zur Auseinandersetzung mit der Raumproblematik sind vor allem im Bereich der Naturphilosophie und der Physik zu verorten. Dabei war es Aristoteles, der als erster eine systematische Abgrenzung dieser Thematik vornahm. Der Raum, bei Aristoteles „Ort“ genannt, wird von ihm als die Gesamtsumme aller von Körpern eingenommenen Orten betrachtet. Gleichzeitig wird der Ort als der Teil des Raumes angesehen, dessen Grenzen mit den Grenzen des von ihm eingenommenen Körpers zusammenfallen (vgl. Jammer 1980, 16), was jedoch Fragen aufwirft. Die aristotelische Lösung besteht in einer Art Ausweg, indem er den „Containerraum“ formuliert, wie es Albert Einstein später nannte. Dieses Containermodell hat lange Zeit das Raumverständnis geprägt und wurde in der Forschung immer wieder auf den Nationalstaat projiziert, um dessen räumlichen Charakter aufzuzeigen.
Eine für die raumtheoretische Auseinandersetzung epochale Zäsur stellen das Zeitalter der Aufklärung bzw. die Ausführungen Immanuel Kants dar. Kant klinkte sich in den raumphilosophischen Diskurs der damaligen Zeit ein und gab ihm eine völlig neue Richtung. Quintessenz der kantschen Ausführungen hinsichtlich dieser Thematik ist die Herauslösung der Raumdiskussion aus einem seit Aristoteles und bis Newton und Leibniz währenden naturphilosophisch-physikalischen Kontext und die Überführung der Raumproblematik in den Bereich der Erkenntnistheorie. Der Raum wird zum reinen Anschauungsobjekt, zu etwas durch die Vorstellung der Menschen Geschaffenem, was bereits zukunftsweisend für spätere Erkenntnisse des Raumcharakters als einer sozialen Konstruktion ist (vgl. Glückler 1999, 30).
Der Politisierungs- und Instrumentalisierungsgehalt von Räumlichkeit, der für den vorliegenden Artikel von besonderer Bedeutung ist, lässt sich anhand der ideologischen Nutzbarmachung von Raum im Zuge der deutschen Geopolitik und ihrem pseudowissenschaftlichen Zugang zur nationalsozialistischen „Blut und Boden“-Programmatik feststellen. Durch die Auseinandersetzung mit dieser Thematik wird einem relativ rasch die Doppelbödigkeit dieses „wissenschaftlichen“ Diskurses bewusst, vor allem, wenn man die Rolle und die Ausführungen des „Geowissenschaftlers“ Karl Haushofer näher betrachtet. Haushofers Ansätze prägten den geopolitischen und politischen Diskurs Deutschlands von den 20er-Jahren bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges, er war das Sprachrohr der sogenannten deutschen Schule der Geopolitik. Diese sah ihre Aufgabe darin, auf angebliche Gesetzmäßigkeiten und Erdbedingtheiten hinzuweisen, um zu einem Hoffnungsträger für ein neues Reich zu werden. Bestand von vornherein eine gewisse ideologische Nähe zwischen der Geopolitik und dem NS-Gedankengut, so wurde im Zuge der Machtergreifung Hitlers im Jahre 1933 und vor allem durch die ersten außenpolitischen Erfolge des Dritten Reiches das Verhältnis zwischen der „Wissenschaft“ auf der einen und der Politik auf der anderen Seite immer deutlicher (vgl. Ebeling 1994, 143). Dieses intensiver werdende Verhältnis zwischen Politik und „Wissenschaft“ lässt sich anhand der Entwicklungen der „Zeitschrift für Geopolitik“ ablesen. Dabei stellt sich die Frage, was vom Staat als wissenschaftliche Meinung oktroyiert wurde beziehungsweise was die „Wissenschaft“ dem Staate liefern wollte. Ausgangspunkt der Untersuchungen und Überlegungen dieses Kreises war das gedachte Prinzip der „Raumüberwindungskraft der Staaten“, welche die politischen Grenzen im Laufe der Entwicklungen immerfort infrage stellen würde (vgl. Kletzin 2003, 43). Dies führt zu der Erkenntnis, dass zwar der Raum im geopolitischen Diskurs einen wichtigen Platz einnahm, dass eine konkrete und differenzierte Begriffsbestimmung und wissenschaftliche Auseinandersetzung vonseiten der deutschen Geopolitik jedoch nicht erbracht wird.
Nach 1945 stellt Raum zunächst ein Tabuthema eben aufgrund der geschilderten Instrumentalisierung dieser Debatte dar. Aber gerade die Entwicklungen nach 1945 und die politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen der Gegenwart haben eine erneute und intensiv geführte Diskussion bezüglich der Kategorie Raum unerlässlich gemacht. Die Überlegungen Martin Heideggers, der Raum bzw. die räumliche Ordnung sei aus dem menschlichen Hantieren und Gebrauchen abgeleitet (vgl. Werlen 1999, 215), beeinflusste auf nachhaltige Weise vor allem die Weiterentwicklung der modernen Geografie als der eigentlichen Wissenschaft vom Raum, im Zuge dieses wissenschaftlichen Paradigmenwechsels begann die Etablierung der Human- und Sozialgeographie, wofür vor allem Benno Werlen verantwortlich zeichnete. Werlen drückte lange Zeit seine Verwunderung darüber aus, dass die Verzahnung von Raum- und Gesellschaftskonzeptionen nicht erfolge und deren Bedeutung gerade in Hinblick auf die Gesellschaftsform des Nationalstaates und dessen räumlicher Komponente nicht erkannt würde. Der Raumbegriff bzw. die Raumvorstellung gestalten sich bei Benno Werlen insofern, als dass er den Raum als einen spezifischen und formal-klassifikatorischen und nicht a priorischen Begriff ansieht, da seines Erachtens der Raum auf Erfahrung beruht. Raum stellt in diesem Sinne lediglich ein Kürzel für Probleme und Möglichkeiten der Handlungsverwirklichung und der sozialen Kommunikation dar, die sich auf die physisch-materielle Komponente bezieht, ohne dieses Kürzel verdinglichen zu wollen (vgl. Werlen 2000, 327). Werlen stellt die These auf, dass Subjekte mit ihrem alltäglichen Handeln auf der einen Seite die Welt auf sich beziehen, auf der anderen Seite mit ihren Handlungen die Welt auch gestalten, was er unter dem Schlagwort „alltägliches Geografie-Machen“ subsumiert, wobei die Erdoberfläche in materieller, aber auch in symbolischer Hinsicht gestaltet wird.
Dies stellt insofern einen Paradigmenwechsel im Bereich der Raumkonzepte dar, da diese einen relationalen Raumbegriff in sich bergen und Räume als die Produkte sozialen Handelns von Subjekten und damit als soziale Konstruktionen entlarvt werden können. Neue Technologien im Bereich des Transports und der Kommunikation, so Werlen, ermöglichen ein gesteigertes Maß an Mobilität und kommunikativem Austausch, was unter anderem zu einem Ineinandergreifen unterschiedlicher Kulturen auf engstem Raum führt, sodass spätmoderne Kulturen und Gesellschaften nicht mehr in der Art und Weise räumlich und zeitlich verankert sind, wie dies in der Geschichte der Fall war, sondern man nach Anthony Giddens von einem Disembedding sprechen muss. Dies kann als die Loslösung räumlicher und zeitlicher Dimensionen der Handlungskontexte von feststehenden Sinnattributierungen und Handlungsregulativen angesehen werden, was ein Ausgreifen moderner Institutionen in Zeit und Raum ermöglicht und dazu führt, dass globale Ereignisse lokale Ausgangspunkte haben und lokale Handlungen globale Konsequenzen (vgl. Werlen 2000, 116 – 117).
Diese Erkenntnisse haben auch Auswirkungen auf die Betrachtung politischer Formen des Geografie-Machens wie etwa bei Nationalstaaten. Aus dem Blickwinkel der Handlungstheorie sind Nationalstaaten, nationale Grenzen sowie Regionen ebenfalls als Ergebnisse sozialer Konstitutionsprozesse zu betrachten. Gerade die aktuellen politischen Geografien, so Benno Werlen, werden durch regionalistische und nationalistische Bewegungen herausgefordert. So kann Regionalismus als eine oppositionelle Form des politischen Geografie-Machens verstanden werden.
An dieser Stelle muss der Raumbegriff der Stadtsoziologin Martina Löw eingeführt werden, der am vorläufigen Ende einer langen Auseinandersetzung um die Kategorie Raum aus der Perspektive der Soziologie steht. Um die Dynamik der Räume, ihre Prozesshaftigkeit, ihr Gewordensein, ihre Vielfältigkeit und auch ihre Strukturiertheit nicht außer Acht zu lassen, orientiert sich Martina Löw an der Erkenntnis von der Dualität der Struktur und des Handelns, welche sie auf eine Dualität des Raumes überträgt (vgl. Löw et. al. 2008, 63), wobei sie folgenden Raumbegriff vorschlägt:
„[Der] Raum [ist] eine (An)Ordnung von Lebewesen und sozialen Gütern. Raum wird konstituiert durch zwei analytisch zu unterscheidende Prozesse, das Spacing und die Syntheseleistung.“ (Löw 2001, 159 – 160)
Sie konstatiert, dass in der stetigen wechselseitigen Konstitution von sozialem Handeln und sozialen Strukturen Räume als Resultat und als Bedingung des Handlungsverlaufs entstehen.
3. Raum und Politik
Betrachtet man das Verhältnis von Raum und Politik mit dem impliziten Movens von Geschichte, muss dies als ein vielfältiges und wechselwirksames erkannt werden. Die diversen Raumebenen, wie etwa die Kommune oder die Region, lösen sich dabei immer mehr aus der Klammer des Nationalstaates, organisieren sich selber und gehen untereinander Kooperationen und Zweckbündnisse ein, wie dies unter anderem mit dem Begriff der Regional Governance erfasst wird. Die vermeintliche Auflösung des Nationalstaates, die etwas voreilig ausgerufen wurde, bringt jedoch nicht zwangsläufig das Ende des Raummodelles mit sich, sondern eine aktuelle Gleichzeitigkeit verschiedener Raumebenen, die in der Tat positive und negative Synergien mit sich bringen kann.
Von besonderer Bedeutung sind dabei die Regionen und das historisch-politische Phänomen des Regionalismus. Regionen versuchen sich als dritte Machtebene nach der Europäischen Union und den einzelnen Nationalstaaten zu etablieren und ihre Macht zu festigen, wobei immer wieder historische Argumente ins Feld geführt werden.
Ein zentrales und immer wieder angeführtes Schlagwort dieses Diskurses ist das Phänomen der Globalisierung, wobei Regionalisierung oft als deren Gegenreaktion angesehen wird, was in dieser Form jedoch nicht stimmt, vielmehr bedingen sich beide Entwicklungsprozesse gegenseitig. Während der Begriff des Globalen jedoch den räumlichen Bezug aufzubrechen scheint, indem Raum aufgehoben und weltumspannend gedacht werden muss, scheint das Regionale unter dem Begriff des Lokalen einen dezidiert räumlichen Charakter zu implizieren. Die Gleichzeitigkeit dieser Phänomene nennt Roland Robertson deshalb korrekterweise auch „Glokalisierung“.
Ein dezidiert politisches Moment in diesem Zusammenhang ist die seit Jahren zu beobachtende Tendenz, dass Einzelne oder soziale Gruppen bestimmte historische und kulturelle Eigenheiten neu für sich entdecken bzw. politisch revitalisierten, sodass man wie beim Raumdiskurs auch bezüglich des Regionalen von einer Renaissance sprechen muss. Zusammenhänge, wie etwa lokale Traditionen und ethnische Zugehörigkeit, werden wieder wichtig. Politische Formeln wie zum Beispiel „Recht auf Heimat“ oder „Recht auf Selbstbestimmung“ finden vermehrt Einzug in die politische Diskussion, wie man auch 2009 anhand der erneuten Selbstbestimmungsdebatte in Südtirol unschwer erkennen konnte. Hierbei findet ein politischer Konstruktionsprozess statt, da regionale Akteure eine Politisierung von Identitäten vornehmen, indem etwa Räume mit Eigenschaften versehen werden, was über die Verschmelzung von psychosozialer Kategorie und politischer Größe erfolgt.
Stellt man sich jedoch die Frage, was genau eine Region ist, wird man schnell enttäuscht sein. Trotz eines sehr relevanten Forschungsstandes gibt es keine allgemeingültige Antwort oder Definition auf diese Frage, vielmehr sieht man sich einem babylonischen Sprachenwirrwarr gegenüber. Das Grundproblem ist dabei, dass der Begriff der Region seinen Platz fest in der Alltagssprache verankert hat und auch in der politischen sowie wissenschaftlichen Debatte einen Allgemeinplatz einnimmt. Festhalten lässt sich jedoch, dass eine etwaige Homogenität des Raumes an bestimmte Kriterien geknüpft ist, wie (vgl. Hrbek/Weyand 1994, 16):
a) physisch-geografische Gegebenheiten, die ein Gebiet zu einer geografischen Region machen,
b) ethnische, sprachliche, kulturelle oder religiöse Gemeinsamkeiten der Bevölkerung bzw. Bevölkerungsmehrheit eines bestimmten Territoriums,
c) eine gemeinsame historische Vergangenheit,
d) die ökonomische Struktur, die ein Territorium prägt.
Diese Kriterien müssen allerdings keinesfalls lediglich als singuläre Konstitutionselemente in Erscheinung treten, sondern gerade ihre Verbindung zueinander verleiht der regionalen Identität in der Theorie schärfere Konturen. Dies bedeutet in der logischen Konsequenz, dass Regionen nach Funktionen und/oder nach Interaktionszusammenhängen zu bestimmen sind, was sie in wesentlicher Hinsicht von Verwaltungsbezirken und Gebietskörperschaften unterscheidet. Eine wesentliche Erkenntnis ist, dass eine Region nicht primär durch von oben festgelegte Grenzen produziert wird, sondern vielmehr ein Resultat sozialer und gesellschaftlicher Prozesse darstellt, was die Region im Sinne des relationalen Raumverständnisses greifbarer macht.
Der Regionalismus als Form der politischen Artikulation bezieht sich eindeutig auf den Nationalismus und kann z. B. im baskischen Diskurs oder im Diskurs der ERT als regionaler Nationalismus oder „Mininationalismus“ verstanden werden, der gerne ethnische Komponenten für politische Zwecke instrumentalisiert.
4. Raum und Identität
Nachdem bereits eingangs der Begriff der Identität eingeführt wurde, muss diese in Hinblick auf ihren räumlichen und regionalen Charakter untersucht werden. Dabei müssen individuelle und kollektive Identität voneinander getrennt betrachtet werden, wobei die kollektive Identität starken Einfluss auf die individuelle Identität ausübt.
Identität bedeutet Orientierung, wobei kollektive Ausformungen wie Heimatbewusstsein sinnstiftend wirken können. Die (gemeinsame) Geschichte wird zum entscheidenden Kriterium zur Bildung von Identität, wobei jedoch auch der Raum als physisches Substrat, „natürlich“ entstanden und gesellschaftlich produziert, uns als Zeichen, Bedeutung, als Bild und als Vorstellung gegenübertritt. Regionale Identität wird oft als Wesensgleichheit im Sinne des Charakters einer Region verstanden. Dieser wird so gesehen oft als die Verkörperung typischer Eigenschaften von Menschen verwendet, die in einer bestimmten Region leben, das heißt als eine Identifikation mit dem Charakter der aus der Region erwachsenden Übereinstimmung des Wesens der Menschen mit dem der Region, eine Verbindung zwischen Raum und Gesellschaft, die einem Dualismus entspricht (vgl. Rohrbach 1999, 11 – 14). Regionalbewusstsein, Heimatgefühl und Regionalismus sind in der Tat zu politischen Werten auch im Zuge der Enträumlichung der Welt geworden.
Gerade um zu einem Regionalismus im Sinne einer politischen Bewegung zu werden, braucht es gewisse Formen regionaler Identität, was jedoch durchaus als Wechselwirkung beschrieben werden kann. Beide Momente sind immanente Bestandteile der sozialen Raumzuordnung, die sich wie folgt darstellen lässt: Raum = soziale Entität = Kultur = Polity. Regionalismus ist so gesehen ein politischer Diskurs zugunsten der Räumlichkeit einer regionalen Identität bzw. des politischen Anspruchs auf eine solche, wobei dies auch eine Reduktionsstrategie komplexer Welt-Phänomene beinhaltet. Die Region wird in diesem Sinne von den Faktoren Prozess, Gruppe, Raum, Zeit und Erfahrung getragen, die zu einer kulturellen Identität führen, welche sich wiederum in Differenz zu einer anderen Regionalposition oder nationalen Frage erfährt (vgl. Nitschke 1996, 291).
Bedeutende Aspekte dieses Diskurses sind mit Sicherheit die der Geschichtspolitik im Sinne einer öffentlichen Erinnerungskultur bzw. die symbolische Identitätspolitik. Raumbezogene Identitätsmuster sind Teil der Stabilisierung politischer Macht, die gezielt als spezifische Mobilisierungsstrategie verwendet werden (vgl. Prisching 1994, 377). Die Aufgabe von symbolischer Regionalpolitik besteht vornehmlich darin, systemische Modernisierungserfordernisse mit den lebensweltlichen Orientierungsbedürfnissen von Individuen in Einklang zu bringen. Besonders in Zeiten politischer und sozialer Umbrüche, in denen bis dahin selbstverständliche und routinierte Handlungsorientierungen aufbrechen, greift Identitätspolitik in direkter Weise auf Identifikationen mit der Region zurück und bedient sich dabei spezifischer symbolisch-diskursiver Verfahren. Dies kann am Beispiel der Europaregion Tirol veranschaulicht werden, wo eine postulierte „historisch gewachsene“ ethnische Identität zur Etablierung einer „Programmregion“ herangezogen wird. Dem Geschichtsbewusstsein einer Region kommt hier ein wesentliches Erkenntnisinteresse zu, da es entscheidende Elemente von politischen Identifikationsprozessen bündelt.
Dies ist ein bewusst gefördertes Phänomen der öffentlichen Erinnerungskultur, welches vor allem im 19. Jahrhundert im Kontext der Nationalstaatenbildung einsetzt, derzeit jedoch vor allem auf Ebene der Regionen ihren Niederschlag findet, was vor allem bei regionalen Minderheiten verstärkt zum Ausdruck kommt. Die Politisierung des Ethnischen bzw. die Ethnisierung der Politik überlagert dabei die Gegensätze der Generationen und Geschlechter, der sozialen Schichten und politischen Traditionen, was jedoch einen „völkischen Fundamentalismus“ hervorrufen kann, da es einen Widerspruch zwischen „Ethnos“ und „Demos“ gibt (vgl. Pelinka 2006, 125). Dies lässt sich in eindeutiger Weise am Beispiel Südtirol in der alltäglichen Praxis beobachten, da das ethnische Moment als Basis der politischen Legitimation und Handlungsgrundlage eingesetzt wird. Es lässt sich primär leicht feststellen, dass Ethnizität in diesem Zusammenhang einen wesentlichen Bestandteil zur Entstehung, Etablierung und Politisierung von regionaler Identität darstellt und man von einem politischen Ethnizitätsmanagement sprechen kann, welches zur Begründung regionaler Politiken nach innen und nach außen herangezogen werden kann und oft separierte Räume produziert, was besonders im Bereich des Kulturellen der Fall ist.
5. Europaregion Tirol-Südtirol-Trentino
Der beschriebene Regionalisierungsprozess ist jedoch keineswegs eine politische Entwicklung, welche sich lediglich aus dem substaatlichen Raum heraus schöpft, sondern wird aktuell von der Europäischen Union stark gefördert und gefordert. Die politische Losung des „Europa der Regionen“ ist dabei keineswegs eine neuartige Erfindung, sondern vielmehr eine politische Konzeption und Wunschvorstellung, deren Wurzeln weit zurückliegen.
Gerade der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit der sogenannten Europaregionen käme, so der Grundtenor, eine wichtige Rolle zu, auch durch die gesteigerte Bedeutung der Kategorie Raum und die damit einhergehende Deckung von gewandelten Wert- und Einstellungsmustern sowie die Aufwertung räumlich definierter Akteursbeziehungen (vgl. Bullmann 1994, 15). Diese Europaregionen können als Konstrukte angesehen werden, die aus einem politischen Interesse heraus konstruiert und produziert werden. Ihre Konstrukteure und gleichzeitig Akteure sind in erster Linie die Politik, die Wirtschaft und auch die Wissenschaft, welche sich oft durch ein konkretes Ereignis dazu veranlasst fühlen, ein derartiges Konstrukt zu schaffen und es als Instrument zu benutzen, um Versäumnisse der Vergangenheit gegebenenfalls zu korrigieren.
Europaregion kann man wie folgt definieren: „Ein geografischer und sozialer Rahmen in einem europäischen Grenzgebiet, das zwei oder mehr Staaten angehört, in dem regionale und lokale Gebietskörperschaften verschiedener Länder – auch durch gemeinsame Organe und durch Einbeziehung von Sozialverbänden – miteinander vorgehen […], um gemeinsame Probleme zu behandeln und um die Entwicklung ihrer Gemeinschaften und damit eines vereinten Europa zu fördern“ (zitiert nach Stadelmann 2001, 1).
Es sind in der Regel historische, wirtschaftliche, geografische und kulturelle Gemeinsamkeiten, die als Motivation und Grundidee einer grenzüberschreitenden Zusammenarbeit gesehen werden. Primäres Ziel ist immer, die grenzüberschreitende Zusammenarbeit zu fördern und zu koordinieren, sodass allen Teilräumen der Europaregion eine nachhaltige positive Entwicklung zuteil werden kann. Die Bildung von Europaregionen kann in diesem Sinne als ein wesentlicher Beitrag zur europäischen Integration und zur regionalen Vernetzung angesehen werden. Weiters eröffnet sich dadurch die Möglichkeit, auf der EU-Ebene präsent zu sein und Lobbyismus zu betreiben. Es lässt sich feststellen, dass sich diese Europaregionen in einem Stadium des Lernprozesses befinden, wobei historische Reminiszenzen zwar unter anderem als Motivation, nicht aber als übergeordneter Grund von (euro)regionalen Netzwerken herangezogen werden.
Die Idee und das Konzept einer Europaregion Tirol-Südtirol-Trentino, die sowohl das deutschsprachige als auch das italienischsprachige historische Tirol mit einbezieht, müssten zur Annahme führen, dass der hier vorherrschende „historische Ballast“ abgeworfen worden sei und man trotz einer teils antagonistischen Geschichte gemeinsam an der Entwicklung von politischen Lösungsstrategien hinsichtlich aktueller Problemlagen und Krisen arbeiten, beziehungsweise eine gebündelte Kooperation zur Wahrung und zum Ausbau von ökonomischem und kulturellem Wohlstand eingehen müsste. Dafür kann die vermeintlich gemeinsame Geschichte als Legitimationsgrundlage zwar genutzt und als Identitätsstiftung gebraucht, aber nicht missbraucht werden.
In diesem Zusammenhang steht auch der Grenzgedanke in diesem Raum. Der Grenzgedanke ist ein wesentlicher Aspekt von Identitätsbildung. So wird die Brennergrenze trotz Schengener Abkommens von einigen noch immer als „Unrechtsgrenze“ tituliert, so etwa auf politischer Ebene von der Bewegung Süd-Tiroler Freiheit oder im vorpolitischen Raum durch den Südtiroler Schützenbund. In dieser Debatte versucht man des Öfteren mit einem künstlichen Rückgriff auf die Geschichte auf die Zusammengehörigkeit Tirols hinzuweisen, wobei man vor allem die Argumente einer gemeinsamen Sprache und einer gemeinsamen Kultur ins Spiel bringt, wobei klar wird, dass das Trentino auch hier eine Sonderrolle innerhalb der ERT einnimmt. Es lässt sich der Versuch feststellen, über eine gesteigerte Anbindung an den deutschen Kulturraum auch die symbolische Grenze zum italienischen Kulturraum und die damit verbundene Abgrenzung (auch der Südtiroler) italienischsprachigen Bevölkerung zu betonen. Der Konstruktionscharakter von Grenzen beweist, dass diese aus der jeweiligen Perspektive mit zum Teil künstlich argumentierten Versatzstücken ein Territorium abgrenzen sollen, was jedoch oft nicht der gelebten Realität entspricht, bzw. anhand des modernen Raumverständnisses von Werlen und Löw als konstruiert angesehen werden muss.
Gerade bezüglich der alpinen Brennergrenze zwischen italienischem und deutschem Kulturraum handelt es sich um ein komplexes Geflecht objektiv gegebener Herrschafts- und auch Kulturgrenzen, welche jedoch subjektiv gedeutet und wahrgenommen werden können. Die starke Betonung der Grenzhaftigkeit dieses Raumes muss also auch unter dem Aspekt der Erfindung und Etablierung nationaler Traditionen und ihrer Implementierung im regionalen Rahmen durch die Ausgrenzung von Bikulturalität und die Aufwertung monoethnisch-nationaler Muster regionaler Identität gesehen werden (vgl. Stauber 2001, 117). Einzig und allein die politische Plattform der Europaregion stellt in der Theorie eine Möglichkeit dar, die alle Teile des historischen Tirols zusammenführt1, sodass hier Tirolität auf europäischer Ebene formuliert werden könnte. Viviseziert man jedoch den Istzustand der ERT, trifft man zwangsläufig auf eine Reihe von Ungereimtheiten, auf Widersprüche und Floskeln, die Erkenntnisse über den Inhalt der aktuellen Form der ERT zulassen.
Durch das Aufkommen der regionalistischen Bewegungen in den 1960er-Jahren kam es auch im Tiroler Raum zu intensivierten Bestrebungen, eine neue Form der Zusammenarbeit einzuleiten, immer auch vor dem Hintergrund der speziellen Historie dieses Raumes. Eine erste Möglichkeit des „Tiroler Miteinanders“ war bereits unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg, im Jahre 1949, durch die Unterzeichnung des sogenannten „Accordinos“ – ein Regionalabkommen zwischen den beiden Bundesländern Tirol und Vorarlberg sowie der Region Trentino-Südtirol zur Erleichterung des Warenaustausches – in die Wege geleitet worden. War dies vor allem aus ökonomischer Perspektive zu betrachten, so hatte die Unterzeichnung des besagten Abkommens nichtsdestotrotz Pioniercharakter und stellt die erste regionale Kooperation dieses Raumes dar.
Bereits seit 1970 fanden erste gemeinsame Landtagssitzungen zwischen Tirol und Südtirol statt, welche 1991 zum ersten Viererlandtag in seiner originären Besetzung, sprich Tirol, Südtirol, Trentino und Vorarlberg, ausgebaut wurden, um die grenzüberschreitende Zusammenarbeit dieser Länder zu stärken. Der Zweierlandtag zwischen Tirol und Südtirol forderte in seiner Sitzung vom 27.02.1992 schließlich die Einberufung eines runden Tisches, welcher die Konzeption zur Schaffung und Etablierung einer ERT ausarbeiten sollte, eine Forderung, die wiederum vom Viererlandtag am 2.06.1993 aufgenommen wurde. Die Idee und der Begriff einer Europaregion Tirol waren hiermit zum ersten Mal in konkreter Weise auf die Tagesordnung der Landespolitik gesetzt und der Öffentlichkeit kommuniziert worden. Der Vorarlberger Landeshauptmann Martin Putscher bekräftigte jedoch, dass das Bundesland Vorarlberg aus dem Viererlandtag ausscheiden würde, da man sich an einer Europaregion des Bodenseeraumes orientieren wollte, ohne jedoch einen Beobachterstatus im Tiroler Raum aufgeben zu wollen. Wendelin Weingartner, der damalige Landeshauptmann von Tirol, kommentierte dies folgendermaßen:
„Für mich persönlich ist das teilweise Ausscheren von Vorarlberg nicht negativ. Wenn es uns ernst ist mit der Regionalpolitik […], dann müssen wir uns fragen: Wo sind die Grenzen der Region? Ich habe die Teilnahme Vorarlbergs, das sich an einer anderen geografischen Region orientiert, schon immer für nicht ganz so gescheit gehalten. Jetzt ist es notwendig, dass man die Grenzen der Europaregion Tirol klar zieht. Andererseits halte ich nicht sehr viel davon, wenn man mit Euphorie und Nostalgie Regionalpolitik betreibt, sondern man muss sehen, dass dieser Raum gemeinsam viele Gegenwarts- und Zukunftsprobleme hat“ (zitiert nach Kröll 1994, 61).
Dies ist ein nicht zu unterschätzender Aspekt, gerade in der Anfangs- bzw. Verlaufphase der ERT. Weingartner bezieht sich nicht auf die gemeinsame Geschichte, wie dies in der Propagierung der ERT üblicherweise der Fall ist, sondern argumentiert mit einem geografischen Moment und legitimiert die ERT durch funktionale Zusammenhänge im Sinne eines Netzwerkes, wobei die Teilräume je nach Funktionen abgebildet werden, wie dies Benno Werlen analysierte.
Bei seiner Antrittsrede 1994 sagte der Tiroler Landeshauptmann:
„Wenn Südtirol und das Bundesland Tirol in Europa verstärkt gemeinsam auftreten – zum Beispiel durch die gemeinsame Präsenz in Brüssel – so wird in den Köpfen Europas ein Bild von Tirol entstehen, das die schmerzliche Grenzziehung der Geschichte zur Vergangenheit werden lässt“ (zitiert nach Gehler 2008, 410).
Vom Trentino ist hierbei keine Rede mehr, eine Aussage, die man als symptomatisch für den ERT-Diskurs ansehen muss. SVP und ÖVP sind wiederholt im Prozess der Verwirklichung einer Europaregion Tirol eine Zwei-Ebenen-Politik gefahren, wie man es anhand der Besetzung des runden Tisches, zu welchem das Trentino nicht geladen war, bzw. anhand des Zweierlandtages sehr gut beobachten kann. Dieses Spannungsfeld bzw. Paradoxon (war doch auch das Trentino bzw. Welschtirol Teil der Grafschaft Tirol gewesen) hatte seine Beweggründe in der gemeinsamen Geschichte dieser Region. Viele Südtiroler sahen in der Autonomie unter dem Dach der Region eine strategische und substanzielle Ungleichbehandlung, da durch die parallele Zuerkennung der Autonomie an die Provinz Trient ein Übergewicht an italienischem Einfluss entstanden und in der kollektiven Erinnerung der Bevölkerung noch immer eine Angst vor einer Italianisierung latent vorhanden war (vgl. Höllrigl 1995, 118 – 119). Dass es jedoch auch auf Tiroler Seite Bestrebungen gab, die Europaregion als Zusammenführung der Tiroler Landesteile anzusehen, beweisen Aussagen des hochrangigen ÖVP-Politikers Andreas Khol, der den Hauptzweck einer Europaregion hinsichtlich der Wiederherstellung der Tiroler Landeseinheit (Nord-, Ost- und Südtirol) auf kulturellem, sozialem und wirtschaftlichem Gebiet verortete (Kröll 1994, 63). Im Oktober 1994 wurde schließlich in einer gemeinsamen Erklärung der Tiroler und Südtiroler Landesregierungen festgehalten:
„Die Europaregion Tirol ist der grenzüberschreitende operative Rahmen, in dem sich die Zusammenarbeit der beiden Länder Südtirol und Tirol vollzieht. Beide Landesregierungen befürworten eine Ausweitung auf das Trentino. Die Zusammenarbeit im Rahmen einer Europaregion Tirol beruht auf der Überzeugung, dass wichtige Ziele von regionalem Interesse gemeinsam besser erreicht werden können“ (zitiert nach Watschinger 1997, 65).
Bereits im Oktober 1993 hatte der damalige italienische Ministerpräsident Carlo Azeglio Ciampi in Wien davor gewarnt, die Einheit des italienischen Staates zu gefährden, da man bezüglich dieses Projekts große Bedenken hatte, zumal es im Lichte revisionistischer Absichten stehen könnte. Staatspräsident Oscar Luigi Scalfaro warnte in einer Rede in Trient 1995 das Trentino vor einer Beteiligung an dieser Europaregion, da dadurch die Eigenständigkeit der Provinz in Gefahr sei.
Prinzipiell kann man für Österreich festhalten, dass es sich in diesem Diskurs etwas zurückhielt und die Thematik und Problematik als regionale Debatte deklarierte, aber den Alleingang Tirols kritisch beobachtete. So wurde später von der Abteilung I.2 des österreichischen Außenamtes diesbezüglich eine Verlautbarung veröffentlicht. Darin heißt es unter anderem:
„Abschließend ist daher festzuhalten, dass der vorliegende Entwurf eines Abkommens zur Gründung der Europaregion Tirol sowohl aus völkerrechtlicher, aber insbesondere aus innerstaatlicher, kompetenzrechtlicher Hinsicht problematisch erscheint“ (zitiert nach Watschinger 1997, 83).
Dies muss sicherlich auch im Spannungsfeld der Debatte bezüglich der vermeintlichen Erosion von Nationalstaatlichkeit betrachtet werden. Die Entwicklungen rund um das Außenbüro in Brüssel und die missglückte Ausrufung der Europaregion in Riva del Garda 1996 führte schließlich zu einem „innertirolerischen“ Umdenken, da vor allem der italienische Staat sich hinsichtlich einer verstärkten regionalen Zusammenarbeit äußerst skeptisch zeigte.
Man entschied sich daraufhin vonseiten der zentralen Akteure Tirol, Südtirol und Trentino für eine Form der funktionellen Zusammenarbeit auf bestimmten Sachgebieten. 1998 wurde dahingehend ein „Übereinkommen über grenzüberschreitende Zusammenarbeit im Rahmen einer Europaregion zwischen der Autonomen Provinz Bozen, der Autonomen Provinz Trient und dem Land Tirol“ von den Landesregierungen und den Landtagen beschlossen und unterzeichnet. Die Grenzzone wurde, auch im Rahmen des nun eingetretenen Schengener Abkommens, zu einer Kontaktzone. Die Rede ist nun von einer „sanften“ Europaregion in Form einer soft law-Kooperation, welche statt gemeinsamer Institutionen und Symbole auf politische und funktionelle Zusammenarbeit setzt (vgl. Palermo/Woelk 2002, 274).
In einer Studie des Innsbrucker Politologen Günther Pallaver aus dem Jahre 1989 wurde festgestellt, dass es im Bereich der Wertorientierung große Ähnlichkeiten in den Landesteilen gibt, es bei der Einführung der Freizügigkeit und Niederlassungsfreiheit wahrscheinlich zu einer verstärkten Mobilität zwischen beiden Landesteilen käme (vor allem nach dem Beitritt Österreichs zur EU), für Südtirol aufgrund der Zweisprachigkeit ein klarer Vorteil im Bereich der ökonomischen Transaktionen zu verorten sei, dass jedoch die vielfach beschworene „geistig-kulturelle Einheit“, die man hierbei als regionale Identität verstehen kann, vor allem bei den jüngeren Generationen im Abnehmen begriffen sei. Aber gerade diese zählt zu den bedeutendsten Charakteristiken der sozialen Raumzuordnung (vgl. Pallaver 1989, 109). Auf der Ebene von Sachkoalitionen versucht man sehr wohl aktiv zu sein und gemeinsam zu agieren, etwa im Bereich der Wirtschaft, des Transits oder des Tourismus, wobei es auch zu dieser Form der Zusammenarbeit kritische Stimmen gibt, die monieren, dass die nach außen vermittelte Zusammenarbeit nach innen hin weitaus dürftiger ist (vgl. Interview Heiss 2009, 1).2
Auch in den Bereichen Kultur, Bildung und Wissenschaft gibt es offizielle Bestrebungen, als Europaregion zusammenzuwachsen und zusammenzuarbeiten. Bereits am 2. Juni 1993 wurde ein Beschluss über die grenzüberschreitende Zusammenarbeit der Länder im Bereich von Wissenschaft, Forschung, Schule, Kultur, Sport und Information vom Viererlandtag gefasst und zur Umsetzung dieses Vorhabens die Errichtung einer gemeinsamen Wissenschaftskommission gefordert, deren Hauptaufgabe darin bestehen sollte, die Zusammenarbeit zwischen universitären und Fachhochschuleinrichtungen in den Ländern zu stärken. In der weiteren Folge kann auch anhand der steigenden Anzahl von Beschlüssen des Vierer- bzw. Dreierlandtages festgestellt werden, für wie bedeutsam die Klammer „Kultur – Bildung – Wissenschaft“ für die ERT angesehen wird. Dies reicht von der Konzeption und Realisierung gemeinsamer Landesausstellungen über die Intensivierung wissenschaftlicher Kontakte diverser Forschungseinrichtungen bis zur Potenzierung des Bereiches Jugendarbeit. Ziel ist zum einen die Vernetzung bestehender Einrichtungen und größerer Personenkreise, wie etwa von SchülerInnen, Lehrlingen und StudentenInnen, sowie die Förderung der gegenseitigen Sprachkompetenz, die gemeinsame Nutzung der universitären Einrichtungen, die Erstellung eines europaregionalen Geschichtsbildes und die Förderung der „Landeskultur“ und „Landeskunst“. Im Rahmen dieses Clusters lassen sich um die 30 Beschlüsse feststellen (vgl. Dreierlandtagbeschlüsse 1993, 1996, 1998, 2000, 2005, 2007). Herausgegriffen werden soll im Rahmen dieser Arbeit lediglich der Beschluss Nr. 17 aus dem Jahre 1998, der sich auf die Förderung einer besseren Kenntnis der Geschichte bezieht (Beschluss 1998, Nr. 17):
„Der europäische Einigungsprozess führt zu einer raschen Öffnung der Grenzen zwischen den Staaten. Aber die Zusammenarbeit zwischen den Völkern wird nach wie vor auch durch Vorurteile behindert, die teilweise auf einen mangelhaften Geschichtsunterricht in den Schulen zurückzuführen ist. Vielen Schulbüchern liegen noch nationalistische Anschauungen zugrunde, die ein verzerrtes Bild der Geschehnisse geben und Feindseligkeiten und Aversionen konsolidieren. Andererseits hat die Geschichtsforschung große Schritte hin zu einer ausgewogeneren, von ideologischen und politischen Einflüssen freien Darstellung der Geschichte gemacht. Die Ergebnisse der besten Forschung bleiben jedoch allzu oft im Kreis kleiner Gruppen von Fachleuten und werden nicht zum Allgemeingut aller Bürger, denen die Geschichte in vielen Fällen weiterhin anhand einer völlig überholten Darstellung derselben vermittelt wird.“
Weiters verpflichten sich die Landtage, ihre jeweiligen Landesregierungen aufzufordern, „eine aus Vertretern der Universitäten, der Geschichtsinstitute sowie der Schulen zusammengesetzte ständige Arbeitsgruppe ins Leben zu rufen, der folgende Aufgaben obliegen:
die in den Schulen am meisten verwendeten Geschichtsbücher zu analysieren und dabei besonderes Augenmerk auf die Ereignisse zu richten, von denen die Regionen und Staaten dieser Grenzregion betroffen waren, mit dem Zweck zu prüfen, ob besagte Lehrbücher der modernsten und glaubwürdigsten wissenschaftlichen Forschung gerecht werden; diese Arbeit muss innerhalb der nächsten Sitzung des Dreierlandtages abgeschlossen und der Öffentlichkeit vorgelegt werden;
andere Initiativen in Bezug auf Geschichtsforschung oder Verlegung von Geschichtsbüchern ausfindig zu machen und vorzuschlagen, die der Verwirklichung der Zielsetzungen dieses Beschlusses dienlich sein können;
im Rahmen der jeweiligen Zuständigkeiten obige Initiativen finanziell zu unterstützen.“
Dieser Beschluss wurde in der Dreierlandtagssitzung vom 24. Mai 2000 als Nr. 22 wieder aufgegriffen und damit der „Aufbau eines regionalen landeskundlichen Kompetenzzentrums“ beschlossen. Auch in der Sitzung vom 18. April 2007 wurde als Nr. 8 „Die Zusammenarbeit zwischen den wissenschaftlichen und kulturellen Institutionen der Autonomen Provinzen Trient und Bozen sowie des Landes Tirol, um die Forschung und die Kenntnisse über die historischen und kulturellen Eigenschaften dieser Gebiete voranzutreiben“ durch die drei Landesparlamente beschlossen. Konkrete Ergebnisse fehlen aber bis heute.
Der politische Bezug des Dreierlandtages auf die Geschichte dauert weiter an, so wurde im Rahmen der letzten Sitzung des Dreierlandtages in Mezzocorona vom 29.10.2009 folgender Beschluss gefasst: „Der Südtiroler, der Tiroler und der Trentiner Landtag sprechen sich für eine Aufarbeitung und Erforschung der gemeinsamen Geschichte einerseits und der Erarbeitung von gemeinsamen und selbstbestimmten Zukunftsperspektiven andererseits aus.“
Allerdings fehlen auch an dieser Stelle wiederum konkrete Ziele und Initiativen.
6. Regionale Geschichte
Von Interesse ist dieser Beschluss deshalb, da in den Ausführungen immer wieder betont wird, dass die (regionale) Geschichte eine wichtige Funktion zur Sinnstiftung von Identität erfüllt, denn gerade von offizieller Seite wird die gemeinsame Vergangenheit immer wieder als Ausgangspunkt für die europaregionale Selbstlegitimation herangezogen. Als Beispiel seien die diversen Gedenkfeiern und Landesausstellungen erwähnt, die die geschichtliche und kulturelle Einheit der Europaregion darstellen sollen, wie etwa die Gedenkfeier zum 500sten Jahr der Kaiserkrönung Maximilians I oder das Andreas-Hofer-Gedenkjahr.
Besonders das „Anno Neun“ zum Bicentainnaire des Tiroler Freiheitskampfes 2009 zeigt das Phänomen „Hofer-Euphorie“ bestens auf. Hofer wird als Vaterfigur Tirols hochstilisiert, der Rückgriff auf ihn und den dazugehörigen historischen Kontext soll ein Wir-Gefühl entstehen lassen, das in Zeiten der Globalisierung eine Gesamttiroler Identität stärken und konstruieren soll. Demzufolge fanden in Südtirol und Tirol zahlreiche Veranstaltungen unter dem Stichwort „Geschichte trifft Zukunft“ statt. Interessant ist dabei, dass zwar auch das Trentino mit einbezogen wird, dessen Einbindung jedoch eher an einen formellen Akt der Höflichkeit erinnert (vgl. Peterlini 2008, 104), wobei angemerkt werden muss, dass die Trentiner Regierungsmehrheit auf den Hofer-Kurs der deutschsprachigen Südtiroler und Tiroler Landespolitik eingeschwenkt ist und ebenfalls am Mythos „mitbastelt“.
Wie ein roter Faden zieht sich durch die Beschlüsse der ERT das Spannungsverhältnis von instrumentalisierter Geschichte und realpolitischem Pragmatismus. Immer wieder finden sich in der „Resolution über eine verstärkte grenzüberschreitende Zusammenarbeit“ Verweise auf eine verbindende Tiroler Identität, basierend auf einer gemeinsamen Geschichte und Kultur. Diese Rückgriffe auf historische Gemeinsamkeiten und Besonderheiten werden als identitätsstiftend verstanden und als Grundlage für zukünftige politische Konzeptionen instrumentalisiert. Der historische Diskurs ist jedoch laut Günther Pallaver für die Bevölkerung bedeutungslos, die historischen Anknüpfungspunkte wurden von der Politik erst in jener Situation bemüht, als man erkannte, dass die römische Zentralregierung einem Projekt zwischen Südtirol und Tirol äußerst skeptisch gegenüberstand und man deswegen das Trentino unter Propagierung der historischen Klammer der „gefürsteten Grafschaft Tirol“ mit einbezog, um ein etwaiges Veto aus Rom abzufedern. Eine besondere Problematik bezüglich der Identifikation der Bevölkerung mit der Europaregion Tirol stellt weiters der Umstand dar, dass sich weder die Politik noch die Bevölkerung oder die Öffentlichkeit im Klaren darüber ist, was diese Form der Zusammenarbeit eigentlich darstellt und welchen Zweck die ERT konkret erfüllen bzw. was ihr Ziel sein soll.
Die Europaregionen der 1960er-Jahre waren der Zusammenschluss kleinräumiger Strukturen und deren Institutionen zum Zwecke einer konkreten Zusammenarbeit auf bestimmten Sachgebieten, während im Falle der Europaregion Tirol eine ethnisch-nationalistische Komponente zum Tragen kommt, in der der Raum der Region politisch aufgeladen und instrumentalisiert wird. Noch heute wird die Region Trentino-Südtirol als negativ behaftet abgestempelt, was wiederum die Arbeit innerhalb der Europaregion Tirol zwischen der Südtiroler und Trentiner Politik erschwert, während sich Tirol und das Trentino in einigen Sachgebieten, etwa im wirtschaftlichen Bereich, angenähert haben (vgl. Interview Zendron 2009, 3 – 4). Ein Großteil der gefällten Entscheidungen ist allerdings auf die Initiativen des ehemaligen Zweierlandtages zurückzuführen und konzentriert sich vor allem auf die Bereiche Verkehr, Tourismus, Bildung und Kultur (vgl. Pallaver 2004, 121 – 123).
Ein weiteres Dilemma des gemeinsamen Vorhabens ERT ist der überhöhte Selbstbezug der Bevölkerung auf die jeweilige Subregion. Die Kooperation zwischen den drei Subregionen wird lediglich als vage wahrgenommen, aber nicht als auszubauende zukunftsfähige Komponente. Die Bevölkerung der drei Landesteile bzw. die drei Regionen als solche haben sehr viel Energie und Mühe darauf verwendet, ihre jeweiligen Landesidentitäten auszubilden. Das Bundesland Tirol begreift sich sehr stark als Raum, der unabhängig von Wien regiert, als Wirtschaftsraum zwischen starken Ländern, als Land, welches mit Südtirol zwar Bindungen aufrecht erhält, aber keinerlei systematische Abgleichung betreibt und somit eine sehr in sich selber ruhende Komponente darstellt. Das Trentino hat ebenfalls in den letzten Jahrzehnten eine starke Sub-Identität und Formen der Selbstentwicklung ausgeprägt, etwa im Bereich der Universität, der Autonomie auf wirtschaftlicher Ebene, der Autonomie auf Länderebene mit einer starken Komponente der Trentinità. Südtirol hat sich schließlich durch seine markante Autonomierolle, durch seine sehr massiven Kompetenz- und Zuständigkeitsübernahmen der letzten Jahrzehnte beinahe zu einem kleinen Nationalstaat entwickelt mit einer durchaus nation-building-artigen Form des Selbstverständnisses in Verbindung mit einer starken Symbolbildung und einem sehr starken identitären Selbstbezug (vgl. Interview Heiss 2009, 2 – 3). Hierbei spielten Geschichtsfiguren eine große Rolle, die an die Gegenwart angepasst wurden, die bestimmte Tendenzen wachhalten sollen, aber gleichzeitig nicht zu einem tieferen Verständnis für die Geschichte dieser Region führen, besonders nicht für die Zeit nach 1918, sodass man das Geschichtsbewusstsein der ERT als fragmentarisch beschreiben muss, während für die italienischsprachige Bevölkerungsgruppe in Südtirol die Tiroler Geschichte eine noch weitgehend unbekannte Komponente darstellt, so der Südtiroler Historiker Hans Heiss (vgl. Interview Heiss 2009, 8). Die symbolische Vermarktung der Geschichte für die deutsch- und ladinischsprachige Bevölkerung Südtirols ist dagegen sehr stark ausgeprägt, wobei es problematisch anmutet, Werte und Heldenmythen des 19. Jahrhunderts unreflektiert auf die Gegenwart zu übertragen. Die Politik greift hierbei ganz gezielt zu Geschichtspartikeln, die sie zur Selbstlegitimation politischer Projekte benutzt. Es stellt sich hierbei die Frage, ob es durch die Europaregion tatsächlich gelungen ist, ein Zusammenwachsen der einzelnen Landesteile und ihrer Bevölkerungen zu fördern beziehungsweise bestehende Gemeinsamkeiten auszubauen. Dabei muss festgestellt werden, dass die ERT ein von den politischen Eliten geführter Diskurs ist, der von ihnen je nach parteipolitischer Position genutzt wird, während die Bevölkerung an diesem Diskurs nicht beteiligt ist, aber auch kein Interesse dahingehend entwickelt (vgl. Pallaver 2009, 3).
Gerade auf der identitären Ebene wird eindeutig klar, dass der ERT die „Seele“ fehlt, von einer gemeinsamen europaregionalen Identität kann keine Rede sein, die jeweiligen Identitäten sind ganz klar auf die Subregionen ausgerichtet. Diese Identitätsbildungen führen dazu, dass die Verklammerungen, Überlagerungen und Kooperationen oftmals schwerfallen, da die Wahrnehmungsräume für die Bevölkerung stark abgegrenzt sind. So nehmen unter anderem die Medienlandschaften sehr wenig Kenntnis voneinander, es kommt zu keinem gesteuerten und gesteigerten Lerneffekt über die jeweils andere Gesellschaft und Politik, was beweist, welch starker Drift unterhalb der Klammer einer deklaratorischen Europaregion festzustellen ist, wobei die Bevölkerung daran auch kaum interessiert scheint (vgl. Pallaver 2009, 2). Dies lässt eindeutig darauf schließen, dass die Europaregion Tirol ein von der Politik geschaffenes Konstrukt ist, welches in der Bevölkerung kaum verhaftet ist und von den politischen Eliten nach Gutdünken bedient wird, wobei der historische Bogen als Legitimationsinstrument benutzt wird, der jedoch bei Bedarf realpolitisch sehr schnell ausgehöhlt wird und nicht ins Gewicht fällt, während der Arbeit auf der Ebene von Sachkoalitionen in manchen für alle drei Landesteile wichtigen Bereichen in Einzelfällen Erfolg beschieden ist, dies jedoch vor allen aus der Perspektive der Nutzenmaximierung für die jeweilige Subregion zu betrachten ist. Die ERT als solche befindet sich durchaus im Spannungsfeld von aktuellen europäischen Entwicklungen, realpolitischen Notwendigkeiten, aber auch historischen Reminiszenzen, was die Besonderheit dieses Beispiels unterstreicht. Durch eine Reihe von Initiativen und Projekten versucht man dabei, Landeseinheit zu schaffen und Identitätsbildung zu betreiben, indem man sich auf Tiroler Mythen beruft und diese für seine politischen Zwecke instrumentalisiert. Die mögliche Zusammenarbeit auf der Ebene von Sachkoalitionen und die Bündelung sowie Positionierung von spezifischen regionalen Interessen wird allerdings im Rahmen der bestehenden Möglichkeiten nicht ausgenutzt. Gerade dies ist jedoch ein Vorhaben, welches vonseiten der jeweiligen Landesbevölkerungen als wünschenswert erachtet wird, während der produzierte historische Nimbus für die Bevölkerungsmehrheit irrelevant ist (vgl. Pallaver 2009, 2). Nichtsdestotrotz liegt die ERT damit im Trend gegenwärtiger politischer und sozialer Entwicklungen, wobei sie einen europaregionalen Sonderweg eingeschlagen hat, wenn man sie in Relation zu vergleichbaren Untersuchungsobjekten setzt, wie etwa den deutsch-niederländischen Kommunalverband EUREGIO, die bayerisch-sächsisch-böhmische Kooperation Euregio EGRENSIS oder die skandinavische Öresundregion. Diese Regionen haben mitunter auch eine gemeinsame Geschichte vorzuweisen, welche jedoch nicht in den Mittelpunkt politischer Rhetorik gestellt wird, sondern die funktionale Zusammenarbeit steht eindeutig im Vordergrund.
7. Resümee
Könnte man nun annehmen, die ERT stelle ein neues „Ein Tirol“-Verständnis jenseits parteipolitischer Ideologien in einem geeinten Europa dar, so muss man feststellen, dass es nicht ein, sondern mindestens drei Tirols gibt, da die jeweiligen subregionalen Räume der Europaregion Tirol-Südtirol-Trentino derart auf sich selbst bezogen agieren, dass von einer „Landeseinheit“ nicht die Rede sein kann und „Tirolität“ im europaregionalen Diskurs realiter identitär nicht und politisch nur schwach vorhanden ist. Nichtsdestotrotz sind die vermeintlich gemeinsame Geschichte und die „Tiroler Identität“ die wichtigsten Argumente zur Bildung einer Europaregion Tirol, sodass man in Hinblick auf Vergleichsobjekte von einem europaregionalen Sonderweg sprechen muss.
Im Rahmen des Gedenkjahres scheint die ERT jedoch wieder in aller politischen Munde, das Jubiläum wurde wieder als stimulus historicus herangezogen, um das Projekt zu revitalisieren. Die Ankündigungen der Politik sind dabei sehr breit angelegt, wobei anzumerken ist, dass diese Chancen in der Vergangenheit immer wieder verpasst wurden und die ERT bis dato ein inhaltsleeres Gebäude darstellt. Die nächsten Monate und Jahre werden zeigen, ob die ERT nach den Beschlüssen des Dreierlandtages am 28. Oktober 2009 in Mezzocorona in der Tat mit Leben gefüllt werden wird und ob dies einen spill over-Effekt auf die Ausformung eines Gesamttiroler Bewusstseins haben wird. Erster konkreter Schritte war die Gründung eines Europäischen Verbundes für territoriale Zusammenarbeit (EVTZ), welcher Bezug nehmend auf die aktuellen politischen Entwicklungen innerhalb der Europäischen Union dazu führen soll, die regionale Kooperation mit einer eigenen Rechtspersönlichkeit auszustatten, wobei dies nicht den Interessen der Zentralregierungen zuwiderlaufen darf.
Weiters entschloss man sich dazu, ein „Innenbüro“ für die Europaregion Tirol in Bozen zu schaffen, welches darauf achten soll, dass gemeinsam getroffene Beschlüsse auch in die Tat umgesetzt beziehungsweise die durch die Zusammenarbeit entstehenden Synergien optimal genutzt werden.
Die Antwort darauf, ob die ERT nun tatsächlich mit politischen Inhalten ausgestattet wird und ob dieses europaregionale politische Konstrukt wirklich zum Leben erweckt wird, kann jetzt noch nicht gegeben werden, aber die historische Erfahrung zeigt uns, dass politische ERT-Konjunkturen noch keine nennenswerten Rückwirkungen auf die Gesellschaft mit sich brachten und nach einer kurzen Phase der Blüte in eine lange Phase des politischen Desinteresses bzw. der Stagnation mündeten und bis dato lediglich Ankündigungspolitik blieben.
Anmerkungen
1 Das Bundesland Vorarlberg nimmt hierbei eine Sonderrolle ein.
2 Alle Interviews können beim Autor eingesehen werden.
3 Bei manchen Beschlüssen zwischen 1993 und 2007 ist nicht eindeutig feststellbar, ob man sie diesem oder einem anderen Cluster zuordnen soll.
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Interviews
Interview Heiss, Hans vom 18.05.2009
Interview Pallaver, Günther vom 21.05.2009
Interview Zendron, Alessandra vom 20.05.2009
Abstracts
La costruzione dell’identità europea della regione Tirolo-Südtirol/Alto Adige-Trentino.
Dagli anni Sessanta si può osservare in tutta l’Europa la nascita di movimenti regionalistici. Soprattutto come risposta alla globalizzazione e all’europeizzazione le regioni dell’Unione Europea cercano di rafforzare tra loro i contatti e di stipulare accordi di cooperazione al fine di meglio collocarsi politicamente. Le regioni europee rappresentano una forma particolare della cooperazione che oltrepassa i confini nazionali. La regione europea Tirolo-Südtirol/Alto Adige-Trentino (ERT) rappresenta un’eccezione nel panorama delle regioni europee. La (comune) storia non è solo il motore per la cooperazione ma diventa anche la base di legittimazione delle élite politiche per la costruzione di una “completa identità tirolese”. Il progetto ERT però apre pesanti differenze tra le aspirazioni e la realtà. Il Trentino di lingua italiana continua a giocare un ruolo particolare all’interno di questa unione, la ERT non è radicata nella società in nessuna delle sue tre aree e la regione europea finisce, a prescindere da importanti anniversari storici, per essere facilmente dimenticata. L’anno del ricordo tirolese 2009 ha rappresentato un punto di forza per le élite politiche delle tre aree storiche. Resta la domanda però se questa iniziativa sia stata promossa sulla base di uno “stimulus historicus” oppure sia nata da una voglia concreta di cooperazione in senso europeo.
La costruziun dla idendité europeica
tla regiun Tirol – Südtirol – Trentin
Dai agn Sessanta incà pon osservè te döta l’Europa sciöche al vëgn sö movimënć regionalistics. Dantadöt sciöche resposta ala globalisaziun y al’europeisaziun prô les regiuns dla Uniun Europeica de renforzè i contać danter ëres y de stipolé contrać de cooperaziun por ciafè na miù posiziun politica. Les regiuns europeiches rapresentëia na forma particolara de cooperaziun che va sura i confins nazionai fora. La regiun europeica dl Tirol – Südtirol – Trentin (ERT) rapresentëia na ezeziun tla contrada dles regiuns europeiches. La storia (de düć) n’é nia ma le motor por la cooperaziun mo ara devënta inće la fondamënta de legitimaziun dles élites politiches por fà sö na “identité tiroleja coletiva”. Le proiet ERT indere deura sö de gran desfarënzies danter les aspiraziuns y les realtês. Le Trentin de lingaz talian à inant n rode particolar te chësta uniun, la ERT n’é nia inraijada tla sozieté te degun de sü trëi raiuns y la regiun europeica se röia a pié ia dai aniversars storics importanć, por gnì spo saurì desmentiada. L’ann de comemoraziun tiroleja dl 2009 à rapresentè n punt de forza por les élites politiches di trëi raiuns storics. Mo al resta la domanda sce chësta scomenciadia sides gnüda portada inant sön la basa de n “stimulus historicus” o sce al sides nasciü la vëia concreta de cooperaziun tl significat europeich.
The Construction of Identity Within the
European Region of Tyrol-South Tyrol-Trentino
Since the 1960s, an appearance of regionalist movements can be traced all over Europe. As a reaction to globalization and Europanization, individual regions start cooperation agreements and join networks to gain a better political position. Within this, the Euregio marks a very special form of cross-border cooperation. The Euregio Tyrol-South Tyrol-Trentino (ERT) takes a particular course within all the European regions. The impulse as well as the legitimation for the political elite is their collective history, which is also used for creating a “Collective Tyrolean Identity”. But within this ERT project there are significant differences between requirement and reality. The Italian-speaking Trentino has its special position within the federation; the ERT shows no significant position within the society of the three concerned country parts and the Euregio sinks into oblivion, except at celebrations of some historical jubilee. The Tyrolean commemorative year 2009 gave a new impulse for all political elites concerned. Thus it is questioned whether the emerged activities happened due to the “stimulus historicus” or if there was an actual will to cooperate within the region in a sense of European spirit.