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Gabriel N. Toggenburg

Wie EU-fit ist Südtirol, wie minderheitenfit ist die EU?1

How EU-fit is South Tyrol, how minority-fit is the EU?

Abstract This chapter addresses two questions: Firstly, is the autonomous system of South Tyrol ‘EU-fit’ in the sense that it is ready and able to adopt to the conditions imposed by EU law and to use the possibilities offered by the overall EU system? And, secondly: Is (and if yes, to which degree) the EU minority-fit in the sense that it is ready and able to protect and ­promote national minorities within its own territory? After a brief analysis of these questions, the author concludes that South Tyrol and its Autonomy Statute proved to be EU-fit whereas the reply to the second question concludes on a more ambiguous note. Whereas the EU can hardly be overrated for its extremely important role in providing a new political and legal framework to the relationship between Austria and Italy, its engagement as a proactive agent for the protection of national minorities is characterised by legal and political limitations.

1. Einleitung

Dieser Beitrag beschäftigt sich mit „Minderheitenfitness“ der EU bzw. Südtirols „EU-Fitness.“ Der Begriff der Fitness kommt aus dem Englischem und bezeichnet einen Zustand der Gesundheit, aber auch der Tauglichkeit.

Eine „minderheitenfitte“ EU ist dann wohl eine Union, die tauglich, sprich einerseits fähig und andererseits gewillt ist, sich für die Anliegen der Minderheiten auf ihrem Territorium einzusetzen und diese zu schützen. Das ist ein recht hoher Anspruch und wir werden sehen, ob die heutige EU dieser Messlatte wirklich gerecht werden kann oder überhaupt will.

Ein „EU-fittes“ Südtirol ist wohl ein Südtirol, das einerseits den Anforderungen des Europarechts genügt und andererseits die Möglichkeiten des Integrationsprozess maximal und aus Überzeugung ausnützt.

Wie steht es also um diese Fitness der EU und Südtirols? Sind die EU und das autonome Südtirol gleichermaßen „EU-fit“ bzw. „Minderheiten-fit“? Das ist eine schwierige Frage und wohl auch ein unfairer Vergleich, da der normative und faktische Druck für Südtirol, EU-fit zu sein, ungemein grösser ist als jener für die EU „minderheiten- oder autonomiefit“ zu sein. Überspitzt mag man sagen, dass die Frage der EU-fitness für Südtirol eine Frage der Pflicht, jene der „Minderheitenfitness“ der EU aber Großteils eine Frage der Kür ist. Beginnen wir mit Südtirol.

2. Ist Südtirol, ist das Autonomiestatut „EU-fit“?

Blickt man in den Text des Autonomiestatuts, so findet man 8 Verweise auf die Euro­päische Union im weiteren Sinne. Diese sind recht trocken und mehrheitlich im Ton eines caveats gehalten. Das Autonomiestatut hat somit wenig europäisches Verfassungspathos zu bieten, was einen Kontrast bildet zur politischen Praxis, in der Südtirol gerne als „kleines Europa innerhalb Europas“ oder gar als Europäisches role model bezeichnet wird.2

Was sagt also das Autonomiestatut? Die meisten Verweise auf Europa sind Hinweise auf die juristische Tatsache, dass das Land bei der Ausübung seiner Kompetenzen – ob nun bei Konzessionsvergaben (Artikel 13), der Erteilung von Förderungen und Beiträgen (Artikel 73) oder der Einführung örtlicher Abgaben (Artikel 80(1)) – die entsprechenden Vorgaben der EU-Rechtsordnung zu beachten hat. Ein formalistischer Blick auf den Text des Autonomiestatuts verengt somit die Wahrnehmung des Verhältnisses Bozen/Brüssel (oder: Autonomiestatut/EU-Recht) auf ein trockenes Verwaltungsverhältnis, bei dem es dem Statut in erster Linie darum geht, dass die kleine Provinz im Norden Italiens nicht auf die großen Zehen der omnipräsenten Kompetenzen der EU tritt.

Zweifellos stellt die EU eine Kompetenzausübungsschranke für das Land Süd­tirol dar.3 Doch dies ist nur einer unter vielen, durchaus dramatischeren Aspekten des Verhältnisses Europarecht und Autonomierecht.

Vergegenwärtigen wir uns dazu die Diskussion zum Thema Bozen/Brüssel der vergangenen Jahrzehnte. Wir erinnern uns, dass die lokale Wahrnehmung EU-ropas zwischen Bedrohung und Hoffnung oszillierte. Brüssel wurde einerseits als hoffnungsvoller Freund und andererseits als unkalkulierbares Risiko wahrgenommen. Besonders stark sah man diese latente Spannung wohl Ende der 1980er und Anfang der 1990er Jahre.4 Warum dies?

Vor 30 Jahren, 1992, stand man quasi wie in einem Western-Film vor einem high noon. Der damalige EU-Kommissionspräsident Jaques Delors hatte Mitte der 1980er Jahre mit 300 zu setzenden Maßnahmen die Erreichung des Binnenmarktes bis zum 1.1.1993 eingefordert. Und in Südtirol war es gelungen den Autonomieprozess in ein einstweiliges Endstadium zu bringen, indem das Zweite Autonomiestatut endlich vollständig umgesetzt und der Weg zur Streitbeilegung im Juni 1992 frei­gemacht wurde. Beide Systeme – Autonomie hier, Binnenmarkt dort – waren damit in ihrer Abschlussphase. Das rief die Frage auf den Plan, ob die beiden Systeme überhaupt miteinander kompatibel seien.

Tatsächlich sind die Regelungsanliegen der beiden Systeme recht unterschiedlich. Der Binnenmarkt möchte tendenziell alle Schranken niederreißen und erreichen, dass jeder und jede Unionsbürger/-in überall in EU-ropa alles anbieten, liefern und konsumieren darf, ohne von lokalen Normen behelligt zu werden, die nur vorgeben, einem rationalen Regelungszweck zu dienen, klammheimlich aber im Dienst einer lokalen Marktabschottung stehen. So die Perspektive der Binnenmarktlogik.

Anders die Perspektive des lokalen Minderheitenschutzes, wie er im Autonomiestatut verankert ist: hier geht es darum mittels eines komplexen Regelwerks die Minderheit vor Ort vor Benachteiligung und Identitätsverlust zu schützen. Aus dieser lokalen Perspektive mag man den Binnenmarkt schnell als imperiales Vorhaben sehen, welches das letzte gallische Dorf Südtirol mit plattmachender Gleichmacherei bedroht.

Diese – hier natürlich überzeichnete – Bedrohungslage hatte durchaus einen rea­len Hintergrund. In den 1980er Jahren war der Binnenmarkt noch Alleinherrscher im Wortwald des EU-Vertragsrechts. Weder sprachen die EU-Verträge von Grundrechten noch vom Schutz von Minderheiten, noch von einer Verpflichtung der Europäi­schen Integration, die Vielfalt in Europa (geschweige denn die Identitäten und Strukturen der Mitgliedstaaten) zu respektieren.5 Auch politisch sprechen wir hier von einer Zeit, in der Minderheitenschutz noch nicht die Prominenz hatte, die er durch die „Adelung“ im Rahmen der Kopenhagener Beitrittskriterien im Juni 1993 erfuhr.

Auch war in den 1980er Jahren bereits klar, dass die „negative Integration“ des Binnenmarktes den Staaten mehr abverlangte als nur zu vermeiden, dass die Staatsbürger/-innen anderer Mitgliedstaaten diskriminiert werden. Die Rechtssprechung des EuGH hatte gezeigt, dass auch bloße Beschränkungen des freien Warenverkehrs, der Freizügigkeit sowie des freien Dienstleistungs- und Kapitalverkehrs verboten sind und nur bedingt gerechtfertigt werden können. Ebenso war klar geworden, dass die Möglichkeit, Stellen der öffentlichen Verwaltung eigenen Staatsbürgern vorzubehalten (Art. 45 Abs. 4 VAEU) nach Rechtssprechung des EuGH sehr eng zu lesen ist.

Vor diesem Hintergrund wurde bald offensichtlich, dass verschiedenste Aspekte des Autonomiesystems „repariert“, sprich angepasst werden mussten. Das betraf zum Beispiel die Sprachgruppenzugehörigkeitserklärung, die durchaus das Poten­zial hatte ein Filter zu werden, der Unionsbürger/-innen benachteiligt. Auch ihnen musste nämlich die Möglichkeit eingeräumt werden, eine solche Erklärung abgeben zu können bzw. sich zumindest einer der drei Sprachgruppen, für den Zweck der Beschäftigung unter dem Proporzsystem, anzugliedern. Korrigiert werden musste auch die Vorrangregel im öffentlichen Dienst. Das Europarecht erlaubt nicht, eine Regel aufrecht zu erhalten, nach welcher Bewerber mindestens zwei Jahren in Südtirol ansässig sein mussten. Eine derartige Beschränkung ist unionsrechtskonform nur möglich für Stellen, die eine Ausübung hoheitlicher Befugnisse mit sich bringen.

Während es juristisch betrachtet um Systemanpassungen ging, war das Thema in der politischen Debatte schnell überheizt und wurde als Systemkonflikt betrachtet. Gerechtfertigte Feinanpassung oder erzwungener Systembruch – verschiedene Wahrnehmungen des gleichen „Problems“. Wer europarechtlich gebotene Reformen anmahnte musste damit rechnen als unpatriotischer Landesverräter beäugt zu werden.

Letztlich zeigte sich, dass einerseits das System des Autonomiestatuts durchaus anpassungsfähig war und ist und, andererseits, dass der Binnenmarkt weit weniger eindimensional militant ist als man befürchten konnte.6 Drei Urteile des EuGH können dies beispielhaft belegen.

Im Urteil Bickel/Franz des Jahres 1998 (EuGH, Rs C-274/96, 24.11.1998) ging es um das Recht auf Zweisprachigkeit vor Gericht und ob dieses auf andere EU-Bürger/-innen ausgedehnt werden müsse. Eine Reservierung des Rechts, Deutsch als Gerichtssprache zu verwenden nur für jene deutschsprachigen Menschen, welche die italienische Staatsangehörigkeit haben, wäre eine direkte Diskriminierung. Doch auch das Abstellen auf den Wohnsitz in Südtirol wäre eine nicht zu rechtfertigende Diskriminierung. Denn die Ausdehnung des Rechts auf Zweisprachigkeit vor Süd­tiroler Gerichten auf jene Menschen, die des Deutschen mächtig sind, aber etwa in Deutschland, Belgien oder den Niederlanden wohnen, gefährdet keineswegs das Ziel des Minderheitenschutzes im Land Südtirol. Die Bedeutung des Urteils in der Rechtssache Bickel/Franz liegt darin, dass der Minderheitenschutz europarechtlich als legitimes Regelungsziel anerkannt wird, welches dem Allgemeininteresse dient und im Prinzip durchaus auch Beschränkungen des Binnenmarktes rechtfertigen kann (vgl. Toggenburg 2006, 43 – 69).

Im Urteil Angonese des Jahres 2000 (EuGH, Rs C-281/98, 6.6.2000) ging es nicht mehr um das Recht auf Zweisprachigkeit, sondern dessen Spiegelbild: die Pflicht zur Zweisprachigkeit im öffentlichen Dienst. Der EuGH befand es als durchaus legitim, dass Arbeitnehmer/-innen vorgeschrieben wird, einer bestimmten Sprache mächtig zu sein, selbst wenn das den Binnenmarkt beschränkt. Auch hier kam zum Ausdruck, dass ein Schutzsystem wie jenes in Südtirol durchaus als zwingender Grund des Allgemeininteresses anerkannt werden kann. Der Schutz ethnisch-kultureller Minderheiten ist kein natürlicher Feind des Binnenmarktes. Er muss nur möglichst binnenmarktkonform eingerichtet werden. So war dem Urteil zu entnehmen, dass die Pflicht zur Zweisprachigkeit nicht – etwa über eine Monopolisierung lokaler Zweisprachigkeitsnachweise (Stichwort patentino) – de facto Zweisprachige aus Südtirol bevorzugen darf.

Im Urteil Simma Federspiel des Jahres 2017 (EuGH, Rs C-419/16, 20.12.2017) ging es um die Frage, welchen Spielraum die Landesregierung bei der Förderung von Ausbildungen hat. Konkret ging es um eine Regelung, welche die Gewährung eines Stipendiums zur Finanzierung des Erwerbs eines Facharzttitels in einem anderen Mitgliedstaat davon abhängig macht, dass der/die begünstigte Arzt oder Ärztin seine bzw. ihre berufliche Tätigkeit innerhalb der ersten zehn Jahre nach Abschluss der Facharztausbildung mindestens fünf Jahre in Südtirol ausübt oder anderenfalls bis zu 70 % des erhaltenen Stipendiums zuzüglich Zinsen zurückzahlt. Es ging also nicht um Minderheitenschutz, wohl aber doch um die Frage, welche Spielräume einem regionalen System im Binnenmarkt verbleiben, um Anreize zu setzen, die – wie in diesem Beispiel – erlauben, der lokalen Bevölkerung genügend Fachärzte zur Verfügung zu stellen. Während die Regel klar die Arbeitnehmerfreizügigkeit und die Niederlassungsfreiheit und damit den Binnenmarkt beschränkt, stellte der Gerichtshof dennoch fest, dass eine derartige Regelung gerechtfertigt werden kann. Eine ausgewogene und allen zugängliche ärztliche und klinische Versorgung aufrechtzuerhalten kann durchaus als Ausnahme vom Binnenmarkt zu gerechtfertigt werden.

Allein dieses Dreigestirn an Beispielen von auf Südtirol bezogenen Urteilen des EuGH zeigt doch recht deutlich, dass die Erfahrungen mit dem Binnenmarkt letztlich deutlich mehr von Dialog als von Konfrontation geprägt waren. Nicht nur ist das Autonomiestatut im Grunde EU-fit, sondern auch das Unionsrecht „minderheitenfitter“ als manche befürchtet hatten. Dazu jetzt gleich.

3. Ist die EU-minderheitenfit?

Starten wir wie bei der „EU-Fitheit“ des Autonomiestatuts auch hier mit einem Blick in das „Verfassungsdokument“ – also das EU Primärrecht. Im Vergleich wirkt die EU wesentlich euphorischer, was Minderheiten betrifft, als das Autonomiestatut, was Europa betrifft. So heißt es in dem hochprominenten Artikel 2 des Unionsvertrages, dass „die Werte, auf die sich die Union gründet“ nicht nur „die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit“ umfassen, sondern auch „die Wahrung der Menschenrechte einschließlich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören“. Die EU-Grundrechtecharter geht noch einen Schritt weiter und macht den Begriff nationaler Minderheiten zu einem unionsrechtlichen Terminus. In ihrem Artikel 21 heißt es, dass „Diskriminierungen insbeson­dere wegen … der ethnischen oder sozialen Herkunft, … der Sprache, … der Zugehörigkeit zu einer nationalen Minderheit … verboten“ sind.

Doch hier handelt es sich weniger um operative Handlungsgrundlagen als um wertorientierte Verfassungsästhetik.

Generell ist wohl vorab zu unterscheiden zwischen der negativen (passiven) Integration und der positiven (aktiven) Integration, also zwischen der passiven Zurverfügungstellung eines normativen Rahmens (wie etwa der Binnenmarkt einer ist) und der aktiven Politikgestaltung auf EU-Ebene (wie etwas das EU-Antidiskriminierungsrecht). Im ersteren Zusammenhang stellt sich die Frage: wie wirkt sich die Europäische Integration als Rahmenbedingung auf nationale Minderheiten aus? Im zweiten Zusammenhang stellt sich hingegen eine andere Frage, nämlich: was tut die EU proaktiv für nationale Minderheiten, beziehungsweise, was könnte sie tun?

Beginnen wir mit dem passiven Aspekt, der Zurverfügungstellung eines normativen Rahmens. Diese Dimension war und ist für Südtirol enorm wichtig. Wie auch immer man das Minderheitenengagement der EU – juristisch oder politisch – einschätzt, kommt man wohl nicht umhin anzuerkennen, dass selbst eine minderheitenagnostische EU für Südtirol und sein Sonderstatut ein Glücksfall ist, ohne dem das Südtirol Modell nicht ein derartiger Erfolg geworden wäre.

Dies hat zumindest drei Gründe:

Die Mitgliedschaft eines Staates in einer supranationalen Organisation beraubt diesen Staat seines absoluten Gestaltungs- und Souveränitätsanspruchs, was aus der Sicht einer territorialen Minderheit nur von Vorteil sein kann, da man als Diener zweier Herren zwei Ansprechpartner hat und ein Mehr an Spielraum gewinnt.

Darüber hinaus eröffnet die Mitgliedschaft eines Staates in einer supranationalen Organisation den Minderheiten dieses Staates eine zusätzliche Identitätsebene, welche der binären (und im Grunde militanten) Identitätsfrage „bin ich Südtiroler/-in oder Italiener/-in, Minderheit oder Mehrheitsangehöriger“ eine Europäische Auf­lösung an die Hand gibt. Römer/-innen und Bozner/-innen sind allesamt Europäer/-innen und innerhalb der EU sind wir alle Minderheit.

Drittens, und das ist für Südtirol natürlich ganz zentral: sind beide Staaten – Mutterstaat (kin state) und Wohnstaat Mitglied in ein und dergleichen supranatio­nalen Organisation, so ist das von besonderem Mehrwert. Eine solche Zwillings­mitgliedschaft zersetzt de facto die Grenzen zwischen den Staaten osmotisch und gibt der Minderheit in der Grenzregion ungeahnte Freiheiten zurück. Durch die Streitbeilegung 1992 wurde 1995 der EU Beitritt Österreichs möglich. Und damit die „Verweichung“ der vormals ehernen Unrechtsgrenze des Brenners zu einer bloßen EU-Binnengrenze.

Letztlich war der Binnenmarkt keine Bedrohung für die Autonomie, sondern entpuppte sich als ungeschriebene Säule des Minderheitenschutzes. Das hat sich insofern bereits in der Tatsache angekündigt, dass ja bereits das Gruber-Degasperi Abkommen und das spätere Accordino es sich zum Ziel gesetzt hatten, die Trennkraft der (damals neuen) Staatsgrenze ihrerseits zu begrenzen (Toggenburg 2008). Tatsächlich ziehen in diesem Sinne Binnenmarkt und Minderheitenschutz am gleichen Strang: beiden sind Staatsgrenzen leicht suspekt. So heißt es in Artikel 17 des Rahmenübereinkommens des Europarates zum Schutz nationaler Minderheiten, dass sich die Vertragsparteien verpflichten, „nicht in das Recht von Angehörigen nationaler Minderheiten einzugreifen, ungehindert und friedlich Kontakte über Grenzen hinweg zu Personen herzustellen und zu pflegen, die sich rechtmäßig in anderen Staaten aufhalten“. Artikel 19 empfiehlt den Vertragsparteien „Maßnahmen zur Förderung der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit“.

Kommen wir also zu dem zweiten Aspekt, nämlich der aktiven Politikgestaltung auf EU-Ebene zugunsten von nationalen Minderheiten. Hier muss die Bilanz ambivalent bleiben. Während sich der EU Gesetzgeber mittels der relativ neuen, durch den Vertrag von Amsterdam eingefügten Kompetenzgrundlage in Artikel 19 VAEU auf einen recht beeindruckenden Antidiskriminierungsschutz einigen konnte, blieb das Engagement im Bereich nationaler, regionaler Minderheiten dünn. Und umstritten. Hier ist vielleicht sinnvoll zwischen drei Phasen zu unterscheiden (vgl. Toggenburg 2004c).

Die Periode zwischen 1980 und 1993 könnte man als „romantische Phase“ bezeichnen, als damals die Idee kursierte, dass sich die EU (damals noch: die Euro­päische Wirtschaftsgemeinschaft) auf einen supranationalen Minderheitenschutz einigen könnte. Schwerpunkt der Vorschläge bildete die Kulturpolitik und der relevante Akteur war das Europäische Parlament, während sich die beiden anderen Akteure – Rat und EU Kommission – noch nicht für das Thema interessierten. Erfolge dieser Phase waren nicht nur der Erlass von (rechtlich unverbindlichen) Resolutionen, sondern auch die Finanzierung des European Bureau of Lesser Used Languages (EBLUL), die Etablierung einer (noch heute bestehenden und aktiven) Intergruppe im Europäischen Parlament und die Schaffung einer fast 15 Jahre bestehenden eigenen EU-Budgetlinie für Minderheitenanliegen.

Die Phase zwischen 1993 und 2007 ist die Beitrittsphase, an deren Anfang die Verkündung der Kopenhagener Beitrittskriterien steht: alle Länder, die der EU beitreten wollen, müssen zeigen, dass sie Respekt für und Schutz von Minderheiten garantieren. Hier geht es nicht mehr in erster Linie um kulturelle Anliegen, sondern es schwingt ein sicherheitspolitisches Anliegen mit: man wollte Minderheitenkonflikte gelöst wissen, bevor die betroffenen Drittstaaten beitreten. Damit rückten auch Fragen der politischen Beteiligung von Minderheiten in diesen Ländern in den Fokus. Und auf Seiten der EU ist es nicht mehr in erster Linie das Parlament, das die primäre Rolle spielt, sondern ganz zentral die EU-Kommission. Mit dem Vertrag von Amsterdam wird der Minderheitenschutz auch ganz ausdrücklich ein zentrales Beitrittskriterium. Freilich ohne der EU eine legislative Kompetenz in diesem Bereich einzuräumen. Es ist dies die Zeit, in der das Diktum von Professor Bruno de Witte die Runde macht: die EU sehe den Minderheitenschutz als Exportprodukt, das nicht für den heimischen Gebrauch gedacht sei (de Witte, 2002, 137).

Die letzte Phase mag man ab 2009 ansetzen, also dem Inkrafttreten des Vertrages von Lissabon. Der Schutz nationaler Minderheiten wird in der nun auch rechtsverbindlichen EU-Grundrechtcharter erwähnt. Und der EU-Vertrag hebt den Minderheitenschutz in den Rang der EU-Verfassungswerte, die der EU und all ihren Mitgliedstaaten gemeinsam ist – so zumindest der Anspruch des EU-Verfassungspathos. Doch auch auf der operativen Ebene kommt es zu einer gewissen „Internalisierung“ des Minderheitenschutzes. Nach Parlament (siehe romantische Phase), Kommission (siehe Beitrittsphase) nimmt sich nun auch der Rat der EU dem Anliegen von Minderheiten an, was insbesondere auf die Minderheit der Roma zutrifft.7 Auf verschiedenste Weise versucht die EU, wenn auch lückenhaft, den minderheitsrelevanten Querschnittsverpflichtungen in den Artikeln 9 oder 10 VAEU und den Artikeln 20 – 22 der EU-Grundrechtecharter im Minderheitenschutz nachzukommen.

Das soeben Gesagte klingt nach einem positiven Trend. Und das ist es auch. Doch seine Reichweite und Tiefe haben deutliche Grenzen.

Das Minority Safepack kann man gut als Lythmustest für das Minderheitenengagement der EU betrachten (vgl. Toggenburg 2018). Bereits bei der Registrierung dieser Initiative, die ja auch Südtiroler Wurzeln hat, wurde klar, dass die EU-Kommission alles andere als proaktiv, konstruktiv und wohlwollend der Initiative gegenüber handelte. Ganz im Gegenteil musste die Registrierung der Initiative mühsam vor dem Gerichtshof der EU erfochten werden. Und selbst nachdem sich die EU-Kommission hier belehren lassen musste, dass die Registrierung dieser angestrebten Minderheitenmaßnahmen sehr wohl rechtens war, scheint der politische Appetit auf ein stärker sichtbares Engagement der EU zugunsten nationaler Minderheiten beschränkt zu bleiben: Im Jänner 2021 entschied die EU-Kommission, auf keine der neun vorgeschlagenen Maßnahmen eine Aktion zu setzen.

Dies ist insofern erstaunlich, als es bei 5 der 9 Maßnahmen nicht um die Schaffung gänzlich neuer EU-Politiken geht, sondern darum, bereits existierende Politiken ausdrücklich vielfaltskonform bzw. vielfaltsfördernd zu gestalten (Anpassung der Förderprogramme, Anpassung des EU-Strukturfonds, Anpassung des Programmes Horizont 2020, Anpassung der Richtlinie 2010/13/EU über audiovisuelle Medien, Gruppenfreistellung im Kulturbereich). Eine weitere Maßnahme zielt auf eine reine politische Ratserklärung im Sinne eines Bekenntnisses zur Vielfalt ab. Doch auch dies wollte die EU-Kommission dem Rat nicht vorschlagen. Das Minority Safepack zeigt somit, dass trotz aller Fortschritte in der Politküche Brüssels über die letzten Jahrzehnte, die Wahrnehmung des Schutzes nationaler Minderheiten geblieben ist was sie von Anbeginn war: eine heiße Kartoffel.

Bei aller Kritik an dieser mangelnden politischen Bereitschaft, den Schutz von nationalen Minderheiten zu entdramatisieren und in der Sache voran zu bringen, muss man „Brüssel“ freilich zugutehalten, dass tatsächlich, aus rechtlicher Sicht, einem prononcierten Engagement der EU in diesem Bereich enge Grenzen entgegenstehen. Es fehlt der EU schlichtweg an einer Kompetenz, den Schutz nationaler Minderheiten zu regulieren. So richtig diese Feststellung ist, so falsch ist freilich auch die Behauptung, die EU habe keinerlei Kompetenz sich mit Anliegen der Personen, die nationalen Minderheiten angehören, zu beschäftigen.

Vereinfachend kann man hier – im Sinne meines Modells der „verkehrten Vielfaltspyramiden“ – drei Kontexte unterscheiden (Toggenburg 2005b):

Große potentielle Rolle der EU: Bei der Frage des Zugangs zum Territorium (entry) hat die EU weitgestreckte Kompetenzen, um der primäre Ansprechpartner für die Regulierung der Vielfalt innerhalb der EU und ihrer Mitgliedstaaten zu sein. Für die Mobilität der Unionsbürger/-innen ist diese Kompetenz bereits ausgeübt und dementsprechend die Rolle der Mitgliedstaaten bereits stark beschränkt. Doch andere Möglichkeiten europäischer Politikgestaltung werden mangels politischen Willens nicht genützt: was die Einreise und der Aufenthalt und insbesondere die EU-weite Verteilung von Drittstaatsbürger/-innen angeht, könnte vieles durch europäische Regelungen harmonisiert werden, doch die Bereitschaft der Staaten, diese EU- Kompetenzen in EU-Gesetzgebung zu gießen, bleibt nach wie vor beschränkt.

Mittlere Rolle der EU: Bei der Frage, wie Angehörige von Minderheiten auf nationalem Territorium behandelt und insbesondere integriert werden (integration) ist ebenso ein Bereich, in der die EU beachtliche Gesetzgebungskompetenzen zukommen. Diese wurden auch in einigen Bereichen breit ausgeübt. So ist das nationale Antidiskriminierungsrecht bereits über weite Teile direkt von Brüssel abhängig. Auch im nicht-juristisch bindenden Bereich ist „Brüssel“ sehr präsent, etwa durch Förderprogramme, die darauf abzielen, dass Integrationsprojekte stattfinden. Hier wirken also EU und Mitgliedstaaten zusammen.

Keine Rolle der EU: Bei der Frage, ob und wie und welchen nationalen Minderheiten ein kollektives Recht auf die Bewahrung ihrer Gruppenidentität eingeräumt werden soll, spielt die EU keine Rolle. Es liegt allein im Ermessen der Mitgliedstaaten, ob sie z. B. Türkisch als Unterrichtssprache in den Schulen einführt, ob Sorbisch auf Verkehrsschildern verwendet werden soll und ob Südtirol weitere Autonomierechte zugestanden werden soll. Freilich ist dies ein Bereich, wo dennoch ein Minimum an EU-Einfluss bestehen bleibt: wo derartige Schutzsysteme eingeräumt werden, dürfen sie Unionsbürger/-innen nicht diskriminieren und den Binnenmarkt nicht beschränken – jedenfalls (siehe oben) nicht in einer Art und Weise, die nicht unter den Kriterien des EU-Rechts gerechtfertigt werden kann.

4. Schlussfolgerung

Ich komme somit zum Schluss und darf mich für die Geduld der geschätzten Leser und Leserinnen bedanken. Vielleicht reicht deren Restgeduld ja noch für ein letztes Dreierlei an abschließenden Punkten:

Auf die Frage, ob die EU-minderheitenfit ist, muss aus Südtiroler Sicht erstens geantwortet werden, dass die EU als Rahmenbedingung für die Südtiroler Autonomie kaum zu überschätzen ist. Ja, selbst der Binnenmarkt, der lange Zeit als Schreckgespenst für regionale Schutzsysteme wahrgenommen wurde, ist eher Säule als Säulenzersäger für Südtirol und seine Autonomie. Letztlich war es die EU und ihr Binnenmarkt, welche die Arbeit des Gruber Degasperi Abkommens in die Tat umgesetzt hat, nämlich „gutnachbarschaftliche Beziehungen herzustellen“ und letztlich die Brennergrenze osmotisch zu durchsetzen. In diesem Sinne ist die EU, insbesondere für „Grenzminderheiten“ sehr minderheitenfit.

Zweitens, ist freilich einzuräumen, dass die Rolle der EU als proaktiver Akteur im Bereich des Schutzes von nationalen Minderheiten bescheidener ausfällt. Hier verbleiben nicht nur juristische Limitationen, sondern auch politische Berührungsängste. Es kommen insofern die Schwächen eines Systems zum Tragen, das auf Subsidiarität und interinstitutionelle Interdependenz baut (vgl. Toggenburg 2022). In diesem Sinne muss man schließen, dass die EU nur bedingt minderheitenfit ist.

Drittens aber, was Südtirol betrifft, hat sich gezeigt, dass das regionale System sehr wohl willens und fähig war, auf den Anpassungsdruck des Binnenmarktes zu reagieren und damit in einen konstruktiven Dialog zu treten. Die EU wird als zusätzliche Ebene nicht nur positiv wahrgenommen, sondern auch proaktiv genützt. Das zeigt sich nicht nur in Reden des gegenwärtigen Landeshauptmannes, sondern auch in der Nutzung von EU-Förderprogrammen oder der Arbeit des Südtiroler Vertretungsbüros in Brüssel.

Man gewinnt den Eindruck, als sei die Europäische Integration für Südtirol nicht nur Vernunftsentscheidung, sondern auch Herzensangelegenheit. Südtirol ist somit EU-fit.

Anmerkungen

1 Die Vortragsform wurde beibehalten. Alle geäußerten Ansichten sind rein privater Natur und können nicht der gegenwärtigen Arbeitgeberin zugerechnet werden.

2 Insbesondere der gegenwärtige Landeshauptmann Arno Kompatscher bringt oft derartige Ansichten und Überzeugungen zum Ausdruck. Siehe etwa seine Rede bei der SVP Landesversammlung im Mai 2019.

3 Wobei natürlich zu unterscheiden ist zwischen Bereichen, in denen die EU ausschließliche Zuständigkeiten hält (Wettbewerbsrechts – kein Spielraum für Südtirol), in denen sie geteilte Zuständigkeit hat (Vergaberecht, die Landwirtschaft, die Umwelt etc – das Land Südtirol behält seinen Spielraum, solange und soweit die EU nicht handelt) und parallele Zuständigkeit (Kultur und Bildung).

4 Das gilt auch für die akademische Auseinandersetzung. Siehe samt Nachweisen Toggenburg 2005a.

5 Vergleiche hingegen einige Bestimmungen des jetzigen EU-Primärrechts: Art. 2 und 4 EUV oder Art 21 und 22 der EU-Grundrechtecharter. Siehe auch Toggenburg 2004a.

6 Für den Aspekt der Sprache siehe Gabriel Toggenburg 2004b.

7 Siehe die Empfehlung des Rates vom 9. Dezember 2013 für wirksame Maßnahmen zur Integration der Roma in den Mitgliedstaaten oder die Empfehlung vom 12. März 2021 zur Gleichstellung, Inklusion und Teilhabe der Roma.

Literaturverzeichnis

de Witte, Bruno (2002), Politics Versus Law in the EU’s Approach to Ethnic Minorities, in: Zielonka, Jan (Hg.), Europe Unbound, New York: Routledge, 137 – 160

Toggenburg, Gabriel N. (2004a), “Unity in diversity”: searching for the regional dimension in the context of a somewhat foggy constitutional credo, in: Toniatti, Roberto et al. (Hg.), An ever more complex Union. The regional variable as missing link in the European Constitution, Baden-Baden: Nomos, 27 – 56

Toggenburg, Gabriel N. (2004b), The EU’s “Linguistic diversity”: Fuel or brake to the mobility of workers, in: Morriss, Andrew P./Estreicher, Samuel (Hg.), Cross-Border Human Ressources, labor and Employ­ment Issues: Proceedings of the New York University 54th Annual Conference on labor, ­Kluwer International 2004, 675 – 721

Toggenburg, Gabriel N. (2004c), Minority Protection in a Supranational Context: Limits and Opportunities, in: Toggenburg, Gabriel N. (Hg.), Minority Protection and the enlarged European Union: The way forward, Budapest: LGI Books, 1-36

Toggenburg, Gabriel N. (2005a), Europas Integration und Südtirols Autonomie: Konfrontation – Kohabitation – Kooperation?, in Marko et al. (Hg.), Die Verfassung der Südtiroler Autonomie, Baden-Baden: Nomos, 451 – 494

Toggenburg, Gabriel N. (2005b), Who is managing ethnic and cultural diversity within the European Condominium? The moments of entry, integration and preservation, in: Journal for Common Market Studies, Volume 43, 4, 717 – 737

Toggenburg, Gabriel N. (2006), Die Sprache und der Binnenmarkt im Europa der EU: eine kleine Beziehungsaufstellung in 10 Punkten, in: Reichelt, Gerte (Hg.), Sprache und Recht unter besonderer Berücksichtigung des Europäischen Gemeinschaftsrechts, Wien: Manz, 43 – 69

Toggenburg, Gabriel N. (2008), Die Europäische Dimension des Gruber-Degasperi-Abkommens: Versuch einer Annäherung, in: Die Europäische Dimension des Gruber-Degasperi-Abkommens, Trient: Landesregierung der Autonomen Provinz Trient, 26 – 51

Toggenburg, Gabriel N. (2018), The European Union and the protection of minorities: new dynamism via the European Citizen Initiative?, in: Europäisches Journal für Minderheitenfragen, EJM 11, 3 – 4, 362 – 391

Toggenburg, Gabriel N. (2022), The EU Human Rights regime: development, actors, policy framework and effectiveness, in: Andreassen, Bård A. (Hg.), Politics of international human rights law: Governance, distributive justice and international relations, Ed Elgar Series on Research Handbooks in International Human Rights Law, Cheltenham: Edward Elgar Publishing (forthcoming).