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Günther Pallaver/Guido Denicolò

Südtirol als Kondominium sui generis

Italien und Österreich auf dem Weg zu einer
gemeinsamen Verantwortung

South Tyrol as a condominium sui generis

Italy and Austria on the way to a shared responsibility

Abstract This article is based on the thesis that South Tyrol is an Italian-Austrian condominium sui generis. Due to political developments, Italy and Austria are linked through the common policy fields of minority protection within the framework of territorial autonomy and peaceful coexistence among language groups. It is essentially the entire legal acquis of the autonomy of South Tyrol in the broadest sense.

In the past, condominiums were established mainly because there was no definitive territorial (border) solution between the conflicting parties. In South Tyrol, such a process has been rever­sed: Italy and Austria have never exercised full parity of administration over a common sovereign territory, but they jointly administer an intersection of key policy fields of South ­Tyrol autonomy.

The relationship between Austria and Italy with regard to South Tyrol is thus characterised as a bilateral practice by the mutual renunciation of unilateral procedures.

1. Einleitung

In diesem Beitrag gehen wir von der These aus, dass Südtirol heute völkerrechtlich als Kondominium sui generis angesehen werden kann. Nach internationalem Recht besteht ein Kondominium, wenn zwei oder mehrere Staaten gemeinsam souveräne Rechte über ein bestimmtes Territorium ausüben (Samuels 2008, 728; Hilpold 2011, 188). In unserem Falle sind dies Italien und Österreich, die im Pariser Vertrag (1946) der deutschsprachigen Bevölkerung (später kommen die Ladiner/-innen dazu) den Schutz und die Entwicklung als Minderheit innerhalb einer Territorialautonomie garantieren.

Bislang hat man das Kondominium meist als Instrument zur Regelung von Konflikten rund um die Souveränität eines Territoriums angesehen, als Instrument zur Befriedung eines, sehr oft ethnischen Grenzkonflikts. Insofern wurde besonders in der Vergangenheit das Instrument des Kondominiums vor allem dann eingesetzt, wenn Konfliktlösungen gescheitert sind. Deshalb gelten kondominiale Lösungen in der Regel als zeitlich limitiert, bis es zu einer definitiven Lösung kommt.

In diesem Zusammenhang lautet unsere zweite These, dass Italien und Österreich den umgekehrtern Weg gegangen sind. Südtirol startete 1946 nicht als Kondominium zwischen Italien und Österreich, sondern hat sich erst allmählich zu einem Kondominium sui generis entwickelt, nachdem der Konflikt zwischen Rom und Wien bereits befriedet war. Wir wollen aufzeigen, wie diese von vornherein nicht zu erwartende Entwicklung zwischen Italien und Österreich erfolgt ist, welche Schritte auf dem Weg zum Kondominium sui generis von beiden Ländern gesetzt worden sind und welche Konsequenzen sich daraus für die Autonomie Südtirols heute er­geben.

Eingangs werden wir in einem kurzen Exkurs auf die Typologisierung der unterschiedlichen Arten von Kondominien eingehen sowie auf Unterschiede zu anderen, ähnlichen Herrschaftsformen über ein Gebiet. Davon ausgehend werden wir argumentieren, und das ist unsere dritte These, dass die Voraussetzung hin zur Entwicklung eines Kondominiums neuen Typs die Relativierung des staatlichen Souveränitätsprinzips im Rahmen des europäischen Integrationsprozesses ist.

2. Historischer Exkurs und Typologisierung

Die Beschäftigung mit Kondominien erfolgt gerne aus einer historischen Perspek­tive. Immerhin war das Kondominat ein wichtiges politisches und dynastisches Instru­ment von Herrschaftsträger/-innen, die sich bei ihrer Machtausübung ständig zwischen Kooperation, Konfrontation und subtilen Machtverhältnissen bewegten (vgl. Bretschneider 2011, 2). Aus Ergebnissen von Analysen und Vergleichen der Vergangenheit leitet etwa Alexander Jendorff seine Kondominiums-Definition ab und versteht darunter „jede Form von gemeinsamer Herrschaft mehrerer Eigen­tümer an Herrschaftstiteln unabhängig vom geographischen Umfang der Herrschaft, von der Rechtsqualität der Herrschaftstitel und von der ständischen Qualität der Kondomini“ (2010, 31). Seine Definition deckt sich im Wesentlichen mit jenen in Lehrbüchern des Völkerrechts (vgl. exemplarisch Dahm/Delbrück/Wolfrum 1988, 341).

Das lateinische Wort condominium bedeutet „gemeinsame Herrschaft“ und bezieht sich auf ein Konzept der geteilten Souveränität und Verwaltung. Nach dem Staatsverständnis des 19. und 20. Jahrhunderts galt das Rechtsinstitut des Kondominiums eher als Kuriosität, gar als herrschaftliche Anomalie. Kondominiale Herrschaftsformen waren in der vormodernen Zeit aber keine Ausnahme. Es gab eine Vielzahl solcher Kondminien, die mit der Zeit aufgelöst oder real geteilt wurden. Anwendungsfälle gab es bei (Grenz)Streitigkeiten über Gebietsansprüche, völkerrecht­lichen Übergangssituationen oder im kolonialen Raum (vgl. Hilpold 2011, 188 – 189). Der bekannte Jurist Hans Kelsen (1881 – 1973) machte sich 1945 noch Gedanken über das Nachkriegsdeutschland und meinte, Deutschland inklusive Österreich sollten unmittelbar nach dem Krieg zu einem „Kondominium“ der drei Alliierten Mächte gemacht werden (Kelsen 1945). Das Kondominium kam somit in erster Linie dann zur Anwendung, wenn es Probleme mit der definitiven Souveränitätsregelung gab.

Samuels (2008) hat in einer umfangreichen Studie eine Typologisierung der Kondominien vorgenommen. Er unterscheidet zwischen i. Grenzkondominien, wobei das umstrittene Gebiet an alle Kondominiumspartner grenzt, und zwischen ii. kolonialen Kondominien, bei denen das umstrittene Gebiet nicht an die Kondominienpartner grenzt. Der zweite Fall unterscheidet zwischen Kondominien über Land und Kondominien über Wasser (Flüsse und Golfe) (Samuels 2008 734). Neben diesen geografischen Kriterien unterteilt er Kondominien nach der Art ihrer Verwaltung. Diese kann von einer paritätischen Verwaltung abgestuft bis hin zu einer fast nur symbolischen gehen. Samuels unterscheidet: i. Koloniales Kondominium am Beispiel der pazifischen Inselgruppe der Neuen Hebriden (seit 1980 unabhängige Republik Vanuatu), die von Großbritannien und Frankreich von 1906 bis 1980 gemeinsam verwaltet wurden. ii. Grenzkondominium am Beispiel von Neutral Moresnet zwischen dem Vereinigten Konigreich der Niederlande (ab 1830 Belgien) und Preussen (ab 1871 Deutsches Reich) von 1816 bis 1919. iii. Grenz/Kolonial-Kondominium am Beispiel von Schleswig-Holstein zwischen Österreich und Preussen von 1864 bis 1866. iv. Koloniale Governance am Beispiel von Samoa, einem Inselstaat in Polynesien, zwischen dem Deutschen Reich, den USA und Großbritannien von 1889 bis 1899. v. Es folgt das hybride Kondominium am Beispiel von Triest, aufgeteilt in die Zone A unter britisch-amerikanischer Verwaltung und der Zobe B unter yugosla­wischer Verwaltung, von 1947 bis 1954 (de facto). In diese Kategorie fällt auch der Sudan als Kondominium von Großbritannien und Ägypten in der Zeit von 1898 bis 1955 (vgl. Samuels 2008, 737 – 753).

Unter den Beispielen in Europa ist wohl Andorra als eines der bekanntesten und historisch am längsten anhaltenden Kondominien, das seit 1278 unter der gemeinsamen Verwaltung des Bischofs von Urgell und des jeweiligen französischen Herrschers (König/Staatsoberhaupt) stand. Seit 1993 ist Andorra ein souveräner Staat mit zwei Staatsoberhäuptern, dem Bischof von Urgell und dem Präsidenten von Frankreich (vgl. Waschkuhn 1999, 698 – 702).

Nach wie vor wird der Brčko-Distrikt formell als Kondominium von den beiden Entitäten, der Föderation Bosnien und Herzegowina sowie der Republika Srpska, verwaltet. De facto untersteht dieser Distrikt allerdings direkt dem Gesamtstaat (vgl. Geoghegan 2014, Keil/Woelk 2017, 122). Eher in das Reich der Kuriositäten fällt die autonome Mönchsrepublik Athos, die völkerrechtlich als Kondominium unter die gemeinsame Herrschaft Griechenlands und des Ökumenischen Patriarchen von Konstantinopel fällt (vgl. Müller 2005). Die unbewohnte Fasaneninsel ist hingegen das kleinste Kondominium der Welt. Spanien und Frankreich übernehmen halbjährlich alternierend deren Verwaltung (BBC News 2018). Als Lösungsmodell wurde das Kondominium in den letzten Jahren für mehrere Grenzkonflikte vorgeschlagen, wie für Gibraltar (Großbritannien, Spanien), die West Bank und Gaza (Israel, palästinensische Autonomiebehörde, Jordanien), das Kaspische Meer (Russland, Iran, Kasachstan, Turkmenistan, Azerbaijan), Barentssee (Russland, Norwegen), Oranje-Fluss (Südafrika, Namibia) (vgl. Samuels 2008, 729). Für die Befriedung des Konflikts um Donezk und Lugansk in der Ostukraine waren zwischen 2014 und 2021 Autonomievorschläge eingebracht worden, man hatte aber auch von einem ukrainisch-russischen Kondominium gesprochen (Umland 2021).

Die zahlreichen Kondominien wurden und werden unterschiedlich verwaltet. Die Ausübung von Hoheitsrechten und die Verwaltung eines gemeinsamen Gebietes kann abgestuft erfolgen. Es beginnt bei der völlig paritätischen Verwaltung des Territoriums, mit gemeinsamen Kommissionen, alternierenden Funktionsträger/-innen, eventuell auch über die Verdoppelung der Verwaltung durch jeden Kondominaten, verbunden mit dem ius intercedendi, wie dies bei den Hybriden der Fall war, bis hin zum Sudan, über dessen Gebiet Ägypten, obgleich mit Großbritannien Kondominat, keine administrativen oder militärischen Befugnisse ausübte. Die Verwaltung des Territoriums lag ausschliesslich in den Händen des britischen Generalgouverneurs und der Governeure der Provinzen. Nur die beiden Flaggen wurden gemeinsam gehisst (vgl. Daly 1991).1

3. 1946 schlägt Österreich eine Kondominiumslösung vor

Als Österreich definitiv klar wurde, dass sich die Rückkehr Südtirols immer weiter entfernte, unterbreitete Wien den alliierten Außenministern am 10. Mai 1946 einen Teilungsplan Südtirols, mit dem das Pustertal einschliesslich der Stadt Brixen als wichtiger Verkehrsknotenpunkt an Österreich zurückkehren sollte, während der Rest an Italien fallen sollte. Österreichs Außenminister Karl Gruber (1909 – 1995) vertraute seinem Tagebuch die Überlegungen an, die mit der „Pustertaler Lösung“ (vgl. dazu Steininger 1987, 67 – 79) verbunden waren: „Italien wäre wahrscheinlich bereit gewesen, zur Sicherung der Brennergrenze in ein von Italien und Österreich ausgeübtes Kondominium des ganzen deutschsprachigen Gebietes einzuwilligen, falls wir ihm die militärische Kontrolle des Gebietes überlassen hätten“ (zitiert nach Ritschel 1966, 214 – 215).

Außenminister Karl Gruber hatte mit dem Vorschlag seiner Putertal-Lösung auch konkretere Überlegung zu einem Kondominium zwischen Italien und Österreich angestellt. In seinen Überlegungen mit dem Hinweis “Streng geheim! Nur zum persönlichen Gebrauch!“ hatte Gruber das Arbeitsdokument, das zeitlich wahrscheinlich nach der Pustertaler-Lösung erarbeitet worden war, in VI Punkte eingeteilt: I. Bevölkerung; II. Verwaltung; III. Verwaltungsexemptionen; IV. Verkehr; V. Wirtschaft; VI. Schiedsverfahren. Unter anderem schlug Gruber vor, Italien solle das Recht haben, in Südtirol Streitkräfte zu unterhalten. Die Elektrizitätsverwaltung sollte, soweit diese nicht den lokalen Bedarf diene, Sache Italiens bleiben. Elektrowirtschaft und die von Italien seit 1919 errichteten Industrien sollten der italie­nischen Gesetzgebung unterliegen, die übrige Wirtschaft der österreichischen. Eisenbahn-Fernstraßen und Luftfahrt-Verwaltung sollte gemeinsame Sache Italiens und Österreichs sein. Die Südtiroler sollten sich nach Wahl eines österreichischen oder italienischen Passes bedienen können. Ausfuhr und Einfuhr von Gütern sollten zollfrei bleiben. Strittige Punkte sollten vom Gerichtshof im Haag geschlichtet werden. Die Vereinten Nationen sollten die Garantie für die Rechtsanwendung des Statuts übernehmen (vgl. Gehler 1996, 417 – 418, siehe dazu Anhang A).

Als die österreichische Diplomatie über den Sommer 1946 die Chancen als äußerst gering einzuschätzen begann, die Entscheidung der Außenminister vom September 1945 umstoßen zu können, nach der Südtirol bei Italien bleiben sollte, wurden mehrere abgestufte Kompromisslösungen ausgearbeitet. Die SVP schlug als nächstbeste Lösung ein internationales Statut vor. Man sollte eine Internationalisierung Südtirols entsprechend dem Triestabkommen in Erwägung ziehen. Man dachte an eine demokratische, lokale Regierung, eine überwachende Regierungskommission, bestehend aus einem italienischen, einem österreichischen und einem Vertreter der Vereinten Nationen. Neben der italienischen Militärsbesetzung sollte es zu einer Zollunion mit Italien und Österreich kommen (vgl. Gehler 1996, 424, siehe dazu Anhang B).

Der Vorschlag eines Kondominiums als zweitbeste Lösung sollte unterbreitet werden, wenn „das Verlangen nach einer Volksabstimmung […] keine Erfüllung finden sollte“ (Die Furche 1946, 1). Als drittebeste Lösung dachte man in Wien, Innsbruck und Bozen an eine Autonomie.

Der letzte Vorschlag für ein Kondominium erschien am 10. August 1946 in der Wochenzeitschrift „Die Furche“ unter dem Titel: „Condominium Südtirol. Ein letzter Vorschlag zur Wahrung von Recht und Gerechtigkeit“ nahm fast die gesamte Cover-Seite ein. „Die Furche“ argumentierte:

„Italien benötigt weder die 230.000 deutschsprechenden Südtiroler, noch braucht es den Raum oder die wirtschaftlichen Produkte des kleinen ­Gebietes. Aber Italien will auf die Wasserkraft dieser Gebiete nicht ver­zichten und vor allem nicht auf die erhöhte Sicherheit, die es sich von der militärischen Beherrschung des Brennerüberganges verspricht.“

Deshalb sei „Condominium“ das Stichwort, mit dem die Südtiroler Frage gelöst werden könne.

Im Detail, basierend auf die von Gruber bereits punktierten früheren Überlegungen, sah der Vorschlag eines Kondominiums, der in Südtirol als „Liechtenstein-“ oder „Protektorat“- Lösung kursierte, schlussendlich wie folgt aus:

„Österreich wäre die Verwaltung und Rechtsprechung, die Münz- und Währungseinheit und die Nutzung des Landes im allgemeinen zuzu­sprechen.

Italien würde das Recht zukommen, das Land, insbesondere den Brenner militärisch zu befestigen und besetzt zu halten. Vom Kriegsdienst wären die Südtiroler auszuschliessen. Wirtschaftlich behielte Italien das Eigentum und die Nutzung seiner dort errichteten elektrischen Kraft- und Aluminiumwerke sowie seiner sonstigen Industrien. Der italienischen Bevölkerung stünde das Recht zu, vor allen Behörden und Gerichten in italienischer Sprache Recht zu suchen und Recht zu finden. Schulen für die italienischen Kinder in italienischer Sprache und mit italienischen Lehrkräften zu unterhalten.

Südtirol würde künftig auf Grund der unter Vermittlung der UNO zustande gekommenen Staatsverträge zwischen Italien und Österreich ein Corpus separatum darstellen, das nach einverständlich festgesetzten Grundsätzen selbständig verwaltet wird und als gesetzgebende Körperschaft einen eigenen Landtag besitzt, der in zwei nationale Kurien mit einer Brückenverbindung geteilt ist. Die Durchführung der nationalen Autonomie hätte so weit zu gehen, dass die Bevölkerung des italienischen wie des deutschsprachigen Teils ein freies politisches Eigenleben führen kann. Eine etwa zehnjährige Befristung des Vertrages würde dem Erproben des neuen Zustandes dienen“ (Die Furche 1946, 1).

Abschliessend meinte der Autor: „Der gemeinsame Besitz Südtirols könnte zwischen beiden Staaten eine Brücke und für den Frieden in Mitteleuropa eine tragende Säule bilden“ (Die Furche 1946, 1).

Der Vorschlag wurde von Italien nicht in Betracht gezogen. Einen Monat später unterzeichenten der italienische Ministerprtäsident Alcide De Gasperi (1881 – 1953) und der österreichsiche Außenminister Karl Gruber (1909 – 1995) den Pariser Vertrag, der zur Grundlage der Südtirol-Autonomie wurde (vgl. Bernardini 2016).

4. Vom Pariser Vertrag zum Paket: Von der „inneren Angelegenheit“ zur bilateralen Anerkennung

Der Pariser Vertrag garantiert der deutsch- und später über Umwege auch der ladinischsprachigen Bevölkerung Südtirols sowohl ein Minderheitenschutzsystem als auch eine Territorialautonomie. Mit dem Ersten Autonomiestatut von 1948 wurde das Trentino in die Territorialautonomie miteingeschlossen, die meisten Kompetenzen lagen bei der neu gegründeten Region Trentino-Tiroler Etschland (vgl. Piccoli/Vadagnini 2010). Mit Verabschiedung des Ersten Autonomiestatuts vertrat Italien die Meinung, den Verpflichtungen aus diesem Vertrag nachgekommen zu sein und dass Südtirol eine rein inneritalienische Angelegenheit sei. Die Südtiroler Volks­partei (SVP) hatte in der Tat am 28. Jänner 1948 in einem Schreiben an den Sekretär der Commissione per la Costituzione (Commissione dei 75), Tomaso Perassi (1886 – 1960), die als Unterkommission der Verfassungsgebenden Nationalversammlung für die Redigierung der neuen italienischen Verfassung eingesetzt worden war, ein Schreiben gerichtet, in dem sie feststellte, „dass das in Paris im September 1946 abgeschlossene Abkommen De Gasperi-Gruber, insoweit es sich auf die grundlegende Frage der Autonomie bezieht, nunmehr verwirklicht ist“ (zitiert nach Steininger 1997, 434). Nachträglich sprachen die Vertreter der SVP von einer „Erpressung.“

Seit damals ging es zwischen Italien und Österreich bzw. Bozen immer um die Frage, ob die Autonomie eine bilaterale, somit internationale Dimension aufweise oder stattdessen vielmehr eine rein inneritalienische Angelegenheit sei. Der Pariser Vertrag hatte tatsächlich in dieser Hinsicht von allem Anfang an die alten dogma­tischen Logiken des Nationalstaates erodiert. Das betraf alle aktiven und passiven Akteure, die mit diesem Vertrag verbunden waren: Österreich, Italien und Südtirol. Alle drei waren einen Kompromiss eingegangen und hatten auf etwas verzichtet: Österreich verzichtete auf die Rückgliederung Südtirols an das eigene Staatsgebiet, Italien verzichtete auf die volle Souveränität über einen Teil seines Staatsgebietes, das ihm immerhin nach dem Ersten Weltkrieg uneingeschränkt zugesprochen worden war, und die Südtiroler Minderheiten verzichteten de facto auf die Forderung nach Durchsetzung der Selbstbestimmung (vgl. Pallaver 2018, 170).

Aus dem Abschluss des Abkommens ergaben sich für die vertragsschliessenden Parteien eine Reihe von bilateralen Rechten und Pflichten, die im Rahmen des Völkerrechts auszuüben waren und sind (zur Rechtsnatur des Pariser Vertrags siehe Haller 2020, 20 – 32). Mit der Einfügung in den Friedensvertrag zwischen Italien und den alliierten und assoziierten Mächten vom 10.2.1947 wurde der Pariser Vertrag zudem Teil eines mehrseitigen internationalen Vertrags, wobei Österreich nicht als Vertragspartner aufscheint.

Obgleich Italien anfänglich jede Einmischung von Österreich ablehnte, bildete der Pariser Vertrag die rechtliche Grundlage, auf deren Basis die österreichischen Klagen über die Nichterfüllung des Vertrags bewertet wurden, die erstmals mit der diplomatischen Note vom 8. Oktober 1956 vorgebracht wurden (Vgl. Pizzorusso 1976, 138 – 139). Österreich war nämlich mit Abschluss des Staatsvertarges im Jahre 1955 wieder unabhängig und außenpolitisch voll handlungsfähig geworden. Dagegen hatten die doch zahlreichen diplomatischen Interventionen Österreichs vor Abschluss des Staatsvertrages, wie etwa 1951, mit denen auf die Versäumnisse Italiens bei der Erfüllung des Pariser Vertrags hingewiesen wurde, keinen Erfolg (vgl. ­Gatterer 1975, 521). Der Protest Südtirols gegen die Sabotage der Autonomiedurchführung gipfelte in der Kundgebung 1957 auf Schloss Sigmundskron unter derm Slogan „Los von Trient.“ Nicht für die Sezession von Rom wurde die Protestkundgebung durchgeführt, sondern für eine substantielle Autonomie innerhalb des italie­ni­schen Staatsgefüges, dessen Verfassung immerhin seit 1948 in Artikel 6 ausdrücklich vorsieht, dass die Republik „mit besonderen Bestimmungen“ die sprechlichen Minderheiten schützt.

Die internationale Dimension wurde trotz des Widerstandes von Italien 1960 evident, als Österreich wegen der Verschleppung der Autonomie Südtirols den Streit mit Italien bei der Organisation der Vereinten Nationen (UNO) anhängig machte. In jenem Jahr brachte Österreichs Außenminister Bruno Kreisky (1911 – 1990) das Südtirol-Problem vor die Generalversammlung der Vereinten Nationen. Diese forderte die beiden Vertragsländer Italien und Österreich in zwei Resolutionen von 1960 und 1961 auf, den Konflikt über die Auslegung und Durchführung des Pariser Vertrags im Verhandlungswege zu lösen und beizulegen (vg. Steininger 1997, 484 – 489). 1961 befasste sich auch der Europarat in einem eigenen Unterausschuß der Beratenden Versammlung mit dem Thema Südtirol.

Mit Abschluss des Pariser Vertrages war somit eine permanente Kontrollbefugnis Österreichs hinsichtlich seiner Erfüllung geschaffen. Und nur weil die Süd­tirolfrage auf der Grundlage des Pariser Vertrags keine rein inneritalienische Angelegenheit (mehr) war, konnte die Generalversammlung der Vereinten Nationen das Themas Südtirol erörtern und Empfehlungen abgeben (vgl. Haller 2020, 82). Dennoch gab es auch noch zu diesem Zeitpunkt unterschiedliche Rechtsauffassungen. So wollte Italien nur ex gratia Zugeständnisse einräumen, was Österreich ablehnte.

Entsprechend der Empfehlung der Resolutionen der Generalversammlung der Vereinten Nationen (UN) nahmen Italien und Österreich Verhandlungen auf, um das Südtirolproblem zu erörtern und zu befrieden. Italien versuchte allerdings, die Verhandlungsachse zwischen Bozen und Rom und nicht zwischen Wien und Rom zu etablieren. Gegenüber dieser Strategie hatte Österreich große Vorbehalte. Italien setzte 1961 dazu die sog. Neunzehner-Kommission ein. Es handelte sich um einen parlamentarischen Ausschuss zur Überarbeitung des Autonomiestatuts, der aus 19 Mitgliedern bestand: elf Italiener (Parlamentarier, Regionalpolitiker, Experten), sieben deutsch- und ein ladinischsprachiger Südtiroler. Bilaterale Verhandlungen zwischen Italien und Österreich, so der Wunsch Roms, sollten bis zum Abschluß der Arbeiten ausgesetzt werden. Außerdem sollten die Vorschläge der Kommission nicht als Durchführung des Pariser Vertrags verstanden werden, weil Italien weiterhin an der inneritalienischen Argumentation festhielt. Die Kommission legte nach drei ­Jahren 1964 einen umfassenden Bericht zur weitreichenden Änderung des Statuts vor. Auf dieser Grundlage fanden wiederum bilaterale Verhandlungen zwischen Wien und Rom (sowie Bozen/Innsbruck) statt. Es war Ministerpräsdent Aldo Moro (1916 – 1978), der vom Dogma der inneritalienischen Dimension abging, als er 1964 der Abgeordnetenkammer über die Ergebnisse der Kommission für die bilateralen Verhandlungen berichtete, die als Durchführung des Pariser Vertrags angesehen werden mussten (vgl. Haller 2020, 92).

Nach der Ablehnung der Kreisky-Saragat-Lösung (1965) durch die SVP und die ÖVP nahm die Südtiroler Volkspartei 1969 mit 52,8 Prozent das sogenannte Süd­tirolpaket an (vgl. Stocker 2019). Es handelte sich um 137 Maßnahmen, 25 Präzi­sierungen und 31 Fußnoten (Auslegungsregeln) „für die Bevölkerungsgruppen Südtirols,“ worunter alle drei Sprachgruppen verstanden wurden. Mit der inhaltlichen Einigung kam es auch zu einer völkerrechtlichen Verankerung des Pakets, die sich im sog. Operationskalender als Verfahrensplan niederschlug. Dabei sollte die Beilegung des Konflikts in aufeinanderfolgenden Schritten erfolgen und damit die jeweiligen erbrachten Maßnahmen und Leistungen miteinander verknüpft werden (vgl. Zeller 1989, 30 – 33). Das Paket wurde auch vom Tiroler Landtag gut geheissen. Das italienische Parlament verpflichtete sich, ein neues Statut zu verabschieden, der öster­reichische Nationalrat nahm einen Entschließungsantrag zum Paket und zum zwischenstaatlichen Verfahrensplan an. Das Paket bildete sodann die Grundlage des Zweiten Autonomiestatus, das am 20. Jänner 1972 in Kraft trat.

5. Italienisch-österreichisches Sonderverhältnis

Mit dem sog. Paketabschluss und dessen innerstaatlichen Umsetzung in Italien durch das Autonomiestatut von 1972 wurde der Grundstein für das gegenwärtige österreichisch-italienische Sonderverhältnis in Bezug auf Südtirol gelegt, das aber, genauer besehen, weiter zurückreichende Wurzeln aufweist.

Gemeint ist der gesamte Komplex des „Südtirol-Acquis“, vom Staatsvertrag von St. Germain 1919 über den Pariser Vertrag 1946 und den österreichischen Staatsvertrag 1955 bis hin zur Streitbeilegung 1992.

Die italienische Regierung hat im Laufe der Jahre wiederholt unterstrichen (zuletzt im Zusammenhang mit der sog. Doppelpass-Frage, wie sie unter der ÖVP-FPÖ Koalition im Regierungsprogramm von 2017 aufgeworfen worden war), dass nunmehr auch aus der Sicht Italiens die Grundlage für die gute Nachbarschaft und die exzellente Zusammenarbeit zwischen den beiden Ländern das Autonomiestatut als gelungenes Modell des Minderheitenschutzes „und des friedlichen Zusammen­lebens verschiedener Sprachgruppen“ auf der Basis der „vollständigen Erfüllung des De Gasperi-Gruber-Abkommens“ ist und bleibt (vgl. Ministero degli Affari Esteri e della Cooperazione Internazionale 2018).

Die Verpflichtungen Italiens aus dem Pariser Vertrag gelten bekanntlich mit der Streitbeilegungserklärung von 1992 als erfüllt, und seither ist das Verhältnis zwischen Österreich und Italien in Bezug auf Südtirol – in der bilateralen Praxis – vom Verzicht auf einseitige Vorgangsweisen gekennzeichnet, der selbstverständlich nur reziprok gelten kann (vgl. Denicolò/Pallaver 2018, 264).2

Demnach können weder Italien als Zugehörigkeitstaat Südtirols noch Österreich in seiner beanspruchten (und von Italien mittlerweile anerkannten) „Schutzfunktion“ einseitige Handlungen vornehmen und vollendete Tatsachen setzen, ohne dieses „Modell“ grundsätzlich in Frage zu stellen.

Dazu gehört, beispielsweise in Bezug auf die angesprochene Doppelpass-Frage, welche zuletzt eine der ernsthaftesten Belastungsproben in der italienisch-österreichischen Beziehung darstellte, auch der Verzicht auf Versuche einer nachträglichen einseitigen kollektiven Vereinnahmung bzw. „Einverleibung“ eines Teiles der in der Provinz Bozen/Südtirol lebenden Bevölkerung mit italienischer Staatsbürgerschaft.

Dies wurde in dieser für die hier behandelte Thematik durchaus signifikanten Angelegenheit von österreichischer Seite schließlich auch insofern anerkannt, als das Außenministerium wiederholt unterstrich, dass es diesbezüglich – trotz der Aufnahme in das damalige Regierungsprogramm – keinen unilateralen Vorstoß Österreichs geben wird (vgl. Südtiroler Landesverwaltung/News 2018).

Mit dem Staatsvertrag von 1919, zu dessen voller Geltung und Anerkennung sich Österreich in Artikel 11 des Staatsvertrages von 1955 ausdrücklich erneut verpflichtet hat, erwarben alle Personen, die das Heimatrecht in dem zu Italien geschlagenen Gebiet des heutigen Südtirol hatten, und nicht laut Artikel 78 für die weitere Zugehörigkeit zu Österreich optierten, automatisch die italienische Staatsbürgerschaft „unter Ausschluss der österreichischen Staatsangehörigkeit“ (Artikel 70).

Die Dokumente der Streitbeilegungserklärung aus dem Jahre 1992 dokumentieren und anerkennen durch beide Seiten die restlose Erfüllung des Pariser Vertrages durch Italien und bedeuten für Österreich die endgültige Anerkennung des damit verbundenen Status-quo, an welchem keine der beiden Seiten wesentliche unilaterale Veränderungen vornehmen kann, ohne damit das erreichte Gleichgewicht nicht nur in den zwischenstaatlichen Beziehungen, sondern auch in Bezug auf das konkrete Verhältnis zwischen allen Sprachgruppen in Südtirol selbst zu gefährden.

Die bereits 1969 vereinbarte Version der österreichischen Streitbeilegungserklärung nimmt bezeichnenderweise nicht nur auf die dauerhafte Gewährleistung der „Interessen der deutschsprachigen Bevölkerung Südtirols“ Bezug, sondern bezieht sich unübersehbar auch auf das „friedliche Zusammenleben und die Entwicklung der Sprachgruppen Südtirols“ (zum Operationskalender vgl. Hilpold 2003).

In der an die italienische Regierung gerichteten österreichischen Verbalnote vom 11.6.1992 ist ausdrücklich und zustimmend die Rede vom „Rahmen der gemein­samen Verantwortung“ auch im Falle von zukünftigen „normativen Änderungen“. Die „Südtirolfrage“ ist also mittlerweile so wenig eine rein österreichische Angelegenheit wie sie eine rein inneritalienische ist. Weder Italien noch Österreich können einseitige Maßnahmen vornehmen, welche die Autonomie, den Minderheitenschutz und das Zusammenleben der Sprachgruppen betreffen. Das ist im Minderheitenschutz und allgemein in den bilateralen Beziehungen eine Besonderheit, an die sich beide Länder halten, ohne daraus ein großes Aufsehen zu machen.

So hat sich Italien in den letzten Jahrzehnten an diese durch Recht und Praxis erhärtete Erkenntnis gehalten und wichtige, Südtirol betreffende Entscheidungen stets mit Österreich abgestimmt. Eine dem widersprechende Vorgangsweise der einen oder der anderen Seite würde somit die nach der Streitbeilegungserklärung konsolidierte (und darin letztendlich auch begründete) Praxis des Verzichts auf Uni­lateralität, der nur reziprok gelten kann, verletzen.

So hat beispielsweise der damalige Ministerpräsident Matteo Renzi 2014 eine Verbalnote an Bundeskanzler Werner Faymann gerichtet, in der explizit auf die Streitbeilegung von 1992 verwiesen und in der betont wird, dass eine neue Finanzregelung im Einvernehmen mit den politischen Lokalverwaltungen getroffen worden sei und dass dieses Einvernehmen auch bei künftigen Änderungen des Autonomiestatuts oder der Südtirol betreffenden Finanzregelung gesucht werde. Das Antwortschreiben Faymanns betonte die Bedeutung der bilateralen Vorgangsweise.

Österreich kann demnach genauso wenig Handlungen außerhalb dieser bilateralen Ebene und ohne Rücksicht auf Italien vornehmen, die erhebliche Auswirkungen auf Südtirol haben. Das ist, wie bereits unterstrichen, recht eindeutig 2017 zum Ausdruck gekommen, als nach den Nationalratswahlen die ÖVP-FPÖ Regierung für die Südtiroler/-innen den Erwerb der österreichischen Staatsbürgerschaft unter Bei­behaltung der italienischen durchsetzen wollte, aber schließlich von seiner rein inner­staatlichen Initiative Abstand nehmen und anerkennen musste, dass es dazu des Einvernehmens mit Italien bedarf.

Vor der Verbalnote Renzi-Faymann gab es bereits im Jahre 2000 einen Briefwechsel zwischen Rom und Wien, als Außenminister Lamberto Dini seiner Amtskollegin Benita Ferrero-Waldner über eine Verfassungsänderung berichtete, die u. a. auch eine Änderung des Autonomiestatuts nach sich zog, aber mit der politischen Vertretung der ethnischen Minderheit Südtirols abgesprochen worden war. Ferrero-Waldner nahm die Änderungen in ihrem Antwortschreiben zur Kenntnis. Dini bekräftigte, weiterhin im Einvernehmen und in Zusammenarbeit mit Österreich vorgehen zu wollen.

Den nächsten Briefwechsel gab es 2017 zum Verfassungsgesetz über die Ladi­ner/-innen, mit dem deren Rechte ausgeweitet wurden. Im Brief von Ministerpräsident Paolo Gentiloni an Bundeskanzler Christian Kern nahm dieser ausdrücklich Bezug auf die Note vom 22. April 1992, mit der Italien die durchgeführten Paketmaßnahmen an Österreich übermittelt hatte. Auch Gentiloni betonte wiederum die einvernehmliche, bilaterale Lösung in Südtirol-Angelegenheiten, die Bundeskanzler Kern positiv zur Kenntnis nahm.

Nur unter der Mitte-Rechts-Regierung von Silvio Berlusconi war das Einvernehmen bei der Finanzregelung von 2009 etwas ins Stocken geraten. Da die italienische Regierung Wien nicht informiert hatte, nahm Österreich in einem Schreiben an Rom das Finanzabkommen zur Kenntnis. Italiens Regierung übermittelte darauf hin die auf dem Abkommen beruhenden Gesetzesbestimmungen, betonte aber zugleich, es handle sich um interne Rechtsnormen (zu den Briefwechseln vgl. Haller 2020, 376 – 387).

Der Pariser Vertrag von 1946 hat sich dank des „guten Willens“ beider Seiten weiterentwickelt. Der europäische Einigungs- und Integrationsprozess hat die Logik der staatlichen Souveränität abgeschwächt und an die Stelle von nebeneinander agierenden souveränen Nationalsdtaaten eine politische Union gesetzt. Die mittlerweile gemeinsame Zugehörigkeit zu dieser Union und das auf dem durch den Pariser Vertrag und dessen Durchführungsmaßnahmen begründete bilaterale Sonderverhältnis haben den Weg zum österreichisch-italienischen „Kondominium“ geöffnet.

6. Südtirol, Kondominium sui generis

Wir haben eingangs gesehen, dass es nicht nur einen Typus von Kondominium gibt, sondern davon abgestufte Erscheinungsformen, von der gemeinsamen Verwaltung eines Territoriums, das sich in der Souveränität von zwei Staaten befindet, bis hin zu einer Prädominanz eines Staates gegenüber einem anderen, auch wenn beide gemeinsam Kondominaten sind.

Das Kondominium war ursprünglich Ausfluss unbeschränkter staatlicher Sou­ve­ränität. Diese Logik staatlicher Souveränität hat in den letzten Jahrzehnten einen Wandel erlebt, der in Europa mit dem europäischen Integrationsprozess zusammenhängt. Da die Macht der Souveränität für die staatliche Identität abgenommen hat, eröffnen sich auch für das Kondominium neue Perspektiven. Die Europäische Union ist ein politisches System sui generis, aber auch eine Rechtsgemeinschaft (vgl. Nicolaysen 2008). Die Organe der EU treffen verbindliche Entscheidungen, die zunehmend mehr Bereiche des gesellschaftlichen Zusammenlebens regeln. Die Union ist eine Institution mit einer eigenen Legislative, Exekutive und eigenen Gerichten (vgl. Wessels 2008, 83). Die Mitgliedsstaaten haben zunehmend Souveränität an die ­Union abgetreten, die kein klassischer Staat ist. Die Union spricht auch im Namen der Mitgliedsländer. Die Mitgliedsstaaten der Union haben ihre traditionellen Vorstellungen von Souveränität revidiert, bewerten die Prozesse neu, über die sie miteinander kommunizieren und handeln (vgl. Rosamond 2010, 120). Dieser Prozess der Neu­bewertung der Souveränität seitens der EU-Mitgliedsstaaten deutet darauf hin, dass das Kondominium als mittel- bis langfristiger Mechanismus zur Lösung von Grenzkonflikten neu eingesetzt werden könnte, dass das Kondominium als Institut des Völkerrechts nicht nur im Sinne des hard power, sondern auch des soft power neue Perspektiven zu eröffnen mag.

Südtirol könnte ein klassisches Beispiel dafür sein. Italien und Österreich haben mit dem Pariser Vertrag noch nicht gemeinsam souveräne Rechte über ein bestimmtes Territorium ausgeübt, was eine klassische Voraussetzung für ein Kondominium darstellt. Aber wie wir gesehen haben, haben sich im Laufe der politischen Entwicklung allmählich und zunehmend Merkmale einer solchen Gemeinsamkeit herausgebildet. Der wohl definitive Sprung zur Verrechtlichung bestimmter gemeinsamer souveräner Rechte erfolgte mit der Streitbeilegungserklärung von 1992, in der auf die vollständige Erfüllung des De Gasperi-Gruber-Abkommens und des friedlichen Zusammenlebens verschiedener Sprachgruppen verwiesen wird. Im Klartext heisst dies, dass alle Normen des Minderheitenschutzes im Rahmen der Territorialautonomie und alle Normen und Maßnahmen, die das friedliche Zusammenleben aller Sprachgruppen in Südtirol – nicht nur der Sprachminderheiten – betreffen, signifikante Elemente eines Kondominiums hinsichtlich eines bestimmten Territoriums darstellen. Sowohl Italien als auch Österreich können in Bezug auf diese besonderen Politikfelder nicht mehr alleine handeln. Genauso wenig können dies mittlerweile auch die Südtiroler Autonomieorgane (Landtag und Landesregierung), da sie gleichermaßen an diesen politischen Rahmen der internationalen Beziehungen mit Rom und Wien gebunden sind. Es handelt sich somit nicht um ein klassisches Kondominium mit der gemeinsamen Verwaltung des gesamten Territoriums kraft souveräner Rechte der beiden Nachbarn Italien und Österreich, sondern um eine Schnittmenge, die aus mehreren Politikfeldern besteht.

7. Schlussfolgerungen

Wir sind zu Beginn unserer Ausführungen von drei Thesen ausgegangen. Die erste lautete, Südtirol sei ein italienisch-österreichisches Kondominium sui generis. Auf Grund der politischen Entwicklungen, aber definitiv mit der Streitbeilegungs­erklärung von 1992 sind die beiden Nachbarländer Italien und Österreich über die gemeinsamen Politikfelder des Minderheitenschutzes im Rahmen einer Territorial­autonomie und des friedlichen Zusammenlebens unter den Sprachgruppen miteinander verknüpft. Es handelt sich im Wesentlichen um den gesamten recht­lichen Besitzstand der Autonomie Südtirols im weitesten Sinne. Diese Verknüpfung geht inzwischen über die Beziehungen des Pariser Vertrags weit hinaus, auch weit über die Schutzfunktion Österreichs (vgl. Hilpold/Perathoner 2011; Haller 2020, 387 – 409).

Kondominien entstanden in der Vergangenheit vor allem als Folge von territorialen Konflikten. Ein Kondominium entstand, weil es keine definitive territoriale Lösung zwischen den Konfliktparteien gab. In Südtirol ist interessanterweise der Prozess umgekehrt verlaufen, lautete unsere zweite These. In Südtirol hat sich ein Kondominium nach offizieller Beendigung des Konflikts (1992) herausgebildet und nicht vorher, weil es eine Grenzstreitigkeit gab. Eine solche gab es, offiziell jedenfalls, seit 1946 mit Unterzeichnung des De Gasperi-Gruber Vertrags nicht mehr.

Kondominien weisen eine abgestufte gemeinsame Verwaltung eines Gebietes auf. Italien und Österreich haben selbstverständlich nie eine völlige paritätische Verwaltung über ein gemeinsames souveränes Gebiet ausgeübt, aber sie verwalten gemeinsam eine Schnittmenge zentraler Politikfelder der Südtirol-Autonomie. Die Entwicklung hin zu einem Kondominium sui generis war aber nur möglich, weil der europäische Integrationsprozess den Gedanken der Souveränität abgefedert und relativiert hat, wie wir es in unserer dritten These formuliert haben.

Eine Folge dieses neuen Rechtsverhältnisses zwischen Italien und Österreich ist der Umstand, dass die beiden Länder in den Politikfeldern der Autonomie, des Minderheitenschutzes und des Zusammenlebens der Sprachgruppen keine einseitigen Maßnahmen treffen können, sondern nur im Einvernehmen handeln können.

Das Verhältnis zwischen Österreich und Italien in Bezug auf Südtirol ist somit in der bilateralen Praxis vom gegenseitigen Verzicht auf einseitige Vorgangsweisen gekennzeichnet.

Abb. 1: Kondominium sui generis. Gemeinsame souveräne Rechte Italiens und Österreichs

Quelle: Eigene Darstellung

Anmerkungen

1 Vom Kondominium ist das Koimperium zu unterscheiden. Ein Koimperium liegt vor, wenn zwei oder mehrere Staaten die gemeinsame Souveränität über das Hoheitsgebiet eines Dritten ausüben, wie dies für die Internationale Zone von Tanger in Marokko von 1923 bis 1956 der Fall war. Zu unterscheiden sind weiters das Mandat, Treuhand, Non-Self-Governing Gebiete und das Protektorat. Vgl. Samuels 2010, 758 – 767.

2 Nicht von einem Kondominium im engeren Sinne, sondern von der reziproken Gleich-Behandlung deutsch- und italienischsprachiger Bürger/-innen in Südtirol sprach die Europa-Union Tirol in einer Broschüre des Jahres 1979, in der es darum ging, wie ethnisch gemischte Gebiete entflochten werden könnten. Darin theoretisieren die beiden Autoren Fried Esterbauer und Eduard Stoll eine „europäische Lösung“ im Falle einer Volksabstimmung für die italienische Bevölkerung Südtirols. „Dabei sollte zweckmäßigerweise eine Einheit Neu-Bozen (etwa rechts der Talfer) – Leifers geschaffen werden, da die italienische Bevölkeung mit ca 80.000 Personen wahrscheinlich nicht die Koppelung ihres Schicksals mit dem des übrigen Südtirol wünscht. Zum Zwecke einer friedensstiftenden Entflechtung der ethnischen Interessenlagen sollte im Falle, dass sich die obige Zone für eine Trennung entscheidet, die italienische Bevölkerung Alt-Bozens für die italienische Staatsbürgerschaft optieren können und in diesem Falle in kommunaler Hinsicht zu Neu-Bozen gehören, während der deutschen Bevölkerung von Neu-Bozen und Leifers ebenfalls eine Option offenstehen müßte, wobei für diese Personen dann in kommunaler Hinsicht Alt-Bozen zuständig wäre. Selbstverständlich müßte gewährleistet sein, dass in großzügiger Anwendung der Reziprozität für alle Bozner und Leiferer, in welchem Stadt- oder Gemeinde­teil sie auch immer wohnen, der Wohnsitz, der Arbeitsplatz, die Schulen usw. gesichert bleiben, wofür die Gegenseitigkeit die nötige Garantie darstellen würde. Ein pariträtischer Koordinierungsausschuss für beide Gemeinden (transnationale Grenzregion) sollte für gemeinsame Angelegenheiten zuständig sein“ (vgl. Esterbauer/Stoll 1979, 40). Die reziproke Behandlung der Bürger/-innen ging da eher in Richtrung Errichtung von homelands für Italiener/-innen innerhalb eines deutsch­sprachigen Umfelds. Dem gegenüber gab es in jenen Jahren auch den Vorschlag, Südtirol in ethnische Kantone aufzuteilen (Acquavia/Eisermann 1981).

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Dokumentenanhang

Dokument 159, Anlage A.

Südtirol Statut „Streng vertraulich! Nur zum persönlichen Gebrauch!“ von Karl Gruber (Mai-August 1946), abgedruckt in Gehler 1996, 417 – 418.

I. Bevölkerung

1.) Im Gebiet Südtirol „Brenner-Salurn“ wird die Wohnbevölkerung registriert, Südtiroler ist, wer seit…in diesem Gebiet ansässig ist (Liste A).

2.) Die (dauernde) Niederlassung in diesem Gebiet bedraf für Nichtregistrierte der Zustimmung der Landesversammlung Südtirol.

3.) Den Staaten Italien und Österreich ist es gestattet, eine bestimmte Anzahl ihrer Staatsbürger in Verwaltungsfunktionen zu beschäftigen (Liste B).

4.) Optionen aus dem Hitler-Mussolini-Abkommen sind nichtig.

II. Verwaltung

1.) Die Liste A ist gleichzeitig Grundlage des Wahlkatasters für die Landesversammlung Südtirols. Gleiches, geheimes, direktes Verhältniswahlsystem.

2.) Die Landesversammlung wählt einen Landesausschuß (L.A.), dem die gesamte Verwaltung des ­Landes Südtirol obliegt, soweit nicht das Statut bestimmte Funktionen anderen Körperschaften überträgt.

3.) Der L.A. hat im Gebiet Südtirol die Steuerhoheit. Die Verwaltungskosten werden aus den Steuereinkünften gedeckt.

4.) Soweit bestimmte Verwaltungsfunktionen dem Staat Italien oder Österreich ausschließlich zukommen, decken diese Staaten die Kosten.

5.) Soweit bestimmte Verwaltungsfunktionen gemeinsam von diesen Staaten ausgeübt werden, werden die Kosten dieser Verwaltung zu gleichen Teilen gedeckt.

6.) Italien und Österreich sind berechtigt, den Südtirolern eine Vertretung in ihren gesetzgebenden Körperschaften einzuräumen.

7.) Die Landesverfassung Südtirols ist, einschließlich der Minderheitenrechte, Teil des Südtiroler Statuts.

III. Verwaltungsexemptionen

1.) Italien hat das ausschliessliche Recht, in Südtirol Streitkräfte zu unterhalten. Die Südtiroler (Liste A) sind nicht militärpflichtig.

2.) Die Zahl dieser Streitkräfte ist statutarisch beschränkt. Ihre Ubikationen (sic!) und die Befestigungszonen sind festzulegen.

3.) Die Eisenbahn-Fernstraßen und Luftfahrt-Verwaltung ist gemeinsame Sache Italiens und Österreichs.

4.) Die Elektrizitätsverwaltung, soweit sie nicht dem lokalen Bedarf dient, ist Sache Italiens.

IV. Verkehr

1.) Der Personenverkehr über die österreichische bzw. italienische Grenze ist frei für Österreicher und Südtiroler bzw. Italiener und Südtiroler.

2.) Die Südtiroler können sich nach Wahl eines italienischen oder österreichischen Passes bedienen. Zum Rechtsschutz ist sowohl Italien als auch Österreich verpflichtet.

3.) Die Ausfuhr von Gütern Südtiroler Herkunft in beide Staaten ist zollfrei.

4.) Die Einfuhr von Gütern aus beiden Staaten ist zollfrei. Bei Ausfuhrverboten ist jedoch eine Sonderbewilligung erforderlich.

5.) Die österreichische Zollgrenze verbleibt wie bisher. Die italienische Zollgrenze wird an die Südgrenze Südtirols verlegt.

V. Wirtschaft

1.) Für die Elektrowirtschaft und die von Italien seit 1919 errichteten Industrien gelten weiter die bisherigen Gesetze.

2.) Für die übrige Wirtschaft gelten die österreichischen Gesetze.

3.) Für die innere Verwaltung gelten die Rechtsnormen des L.A., soweit nicht für bestimmte Verwaltungsgebiete in diesem Statut eine andere Zuständigkeit bestimmt ist.

4.) Die Besitzverhältnisse des Jahres…bleiben unverändert.

VI. Schiedsverfahren

1.) Die strittigen Zuständigkeiten aus dem vorliegenden Statut sind vom internationalen Gerichtshof im Haag zu schlichten. Klageberechtigt sind Italien, Österreich und der Südtiroler L. A.

2.) Mit dem Sitz in Bozen wird ein Schiedsgericht errichtet. Vorsitzender ein Neutraler, Mitglieder paritätisch Italien und Österreich, ferner je ein Mitglied der österreichischen und italienischen Volks­gruppe in Südtirol.

3.) Die Vereinten Nationen übernehmen die Garantie für die Rechtsanwendung des vorliegenden Statuts.

Dokument 164, Anlage B:

Anlage Nr. 1, Thema: „Eine Kompromißlösung für Südtirol“, vom 15.8.1946, B-3878 [zum Telegramm Nr. 1721 der Amerikanischen Gesandschaft, Wien. Österreich, vom 8.9.1946 zum weiteren Material bezüglich Südtiroproblem], abgedruckt in Gehler 1996, 424 – 431.

1. Kondominium

Sollten Plebiszit und Internationalisierung nicht erreicht werden, zieht man ein Kondominium als nächstbeste Lösung in Betracht.

Vor einigen Monaten wies Dr. Gruber Dr. Thalhammer von der Landesstelle für Südtirol an, einen Plan für ein Condominium zu erarbeiten. Die folgenden sollten die wichtigsten Punkte dieses Plans bilden:

a) Das Gebiet soll seine eigene lokale Regierung haben,

b) Italienische Militärbesatzung,

c) Die Wirtschaft des Gebietes soll folgendermaßen aufgeteilt sein: für die Landwirtschaft etc. ist Österreich zuständig, für die Industrie, etc. Italien.

d) Die Staatsbürgerschaft der Bewohner des Territoriums wird so geregelt, dass die Südtiroler Österreicher werden und die Italiener Italiener bleiben würden;

Vertreter der österreichischen Bevölkerung würden im Tiroler Landtag Sitze haben und Vertreter der italienischen Bevölkerung würden im italienischen Parlament sitzen.

e) In bezug auf die Finanzen würde das Gebiet ein integraler Teil Italiens bleiben.