Esther Happacher
Sind die Kompetenzen des Autonomiestatuts zur Gänze ausgeschöpft, ist der Kompetenzkatalog effektiv?
On the use and effectiveness of the powers of the Statute of Autonomy
Abstract The question of the effectiveness of the legislative and administrative autonomy of South Tyrol is closely linked to the framework conditions under which autonomy can be exercised, in particular the possibility of the Italian state to influence the content of the decisions of the special autonomy or even to completely displace it. The transversal legislative powers of the state play a central role in these framework conditions. The act of implementing regulations for the Statute has emerged as an instrument for a clearer definition of the subject matters enshrined in the Statute. However, in view of the jurisprudence of the Constitutional Court, there is also a need for a new regulation of the limits of competences and thus a reform of the Statute.
1. Einleitung
Die Südtirol-Autonomie ist verfassungsrechtlich in die Form einer Sonderautonomie gegossen, welcher besondere Formen und Arten von Autonomie in Gestalt von verfassungsgesetzlichen Sonderstatuten für fünf Regionen vorsieht, darunter für die Region Trentino-Südtirol (vgl. Artikel 116 Absatz 1 Verfassung). Die unzureichende Verwirklichung der im Pariser Vertrags vom 5. September 1946 vorgesehenen Südtirol-Autonomie durch die Errichtung einer autonomen Provinz im Rahmen einer autonomen Region mit dem Verfassungsgesetz Nr. 5 von 1948 über das Sonderstatut für Trentino-Südtirol (sogenanntes erstes Autonomiestatut) führte zu einer umfassenden Reform durch das Verfassungsgesetz Nr. 1 von 1971, bei der es zur Verschiebung umfangreicher Gesetzgebungs- und Verwaltungsbefugnisse von der Autonomen Region Trentino-Südtirol hin zu den beiden Autonomen Provinzen Bozen und Trient kam, um die Südtiroler Autonomie im Sinne des Pariser Vertrags vom 5. September 1946 wesentlich auszubauen.1 Die Sachbereiche autonomer Kompetenz sollen die kulturelle, soziale und wirtschaftliche Entwicklung der deutschen und der ladinischen Volksgruppe in einem System umfassender Territorialautonomie sicherstellen, welche allen Bewohnern und Bewohnerinnen des Gebietes der Autonomen Provinz Bozen zugutekommt.
Entsprechend des in der Verfassung von 1948 verwirklichten Modells der Regionalautonomie sind bestimmte Sachbereiche der autonomen Provinz zur Regelung in Gesetzgebung und Verwaltung (Prinzip des Parallelismus) zugeordnet, alle nicht zugeordneten Bereiche kommen in einer impliziten Generalklausel dem Staat zur Regelung zu. Die Gesetzgebungs- und Verwaltungsautonomie ist somit als Autonomie vom Staat und als Gestaltungsraum für eigene, von den Entscheidungen des Gesamtstaates sich unterscheidende Entscheidungen zu verstehen (vgl. dazu grundlegend Ambrosini 1944, 12 – 13). Das Ausmaß dieses vom Staat unabhängigen Gestaltungsraums ist der Gradmesser, an dem der Erfolg der Südtirol-Autonomie gemessen wird. Als Sonderautonomie ist die Gesetzgebungs- und Verwaltungsautonomie Südtirols im Verhältnis zur in der Verfassung von 1948 einheitlich geregelten Autonomie der Regionen mit Normalstatut umfangreicher: Die zur autonomen Wahrnehmung zugeordneten Sachbereiche sind umfangreicher und die der Ausübung der Kompetenzen gesetzten Schranken sind weniger eng als sie es für die Regionen mit Normalstatut sind, da in den Materien ausschließlich-primäre Kompetenz der Sonderautonomie nicht die Grundsätze der Staatsgesetzgebung, sondern nur die grundlegenden Bestimmungen wirtschaftlich-sozialer Reformen eingehalten werden müssen.
Die Sachbereiche autonomer Kompetenz sind insbesondere in Artikel 8 und Artikel 9 DPR Nr. 670 vom 19722 (so genanntes Zweites Autonomiestatut, im Folgenden: Autonomiestatut), aufgelistet. Mit dem Verfassungsgesetz Nr. 2 von 2001 erfolgte eine Ausdehnung der im Statut verankerten autonomen Gesetzgebungsbefugnisse der autonomen Provinz durch die Zuordnung der sogenannten statutarischen Gesetzgebungsbefugnisse im Bereich Regierungsform, Wahlen und direkte Demokratie.3 Weitere Gesetzgebungsbefugnisse kamen im Laufe der Jahre im Bereich der Finanzautonomie (eigene Steuern, Lokalfinanzen4) und im Bereich der Erzeugung elektrischer Energie5 hinzu.
Über die im Statut genannten Befugnisse in Gesetzgebung und Verwaltung hinaus ermöglicht das Autonomiestatut in Artikel 17 bzw. Artikel 16 Absatz 3 die Delegierung von staatlichen Kompetenzen in Gesetzgebung und Verwaltung durch staatliche Gesetze (vgl. Bonell/Winkler 2010, 156 – 158) und gemäß Artikel 18 Absatz 1 Autonomiestatut von Verwaltungsbefugnissen der Autonomen Region Trentino-Südtirol durch Regionalgesetze an das Land, was insbesondere mit dem Regionalgesetz Trentino-Südtirol Nr. 3 von 2003 erfolgte. Im Zuge der so genannten dynamischen Autonomie nach 1992 wurde eine Reihe von staatlichen Verwaltungsbefugnissen vom Staat an das Land übertragen (vgl. Bonell/Winkler 2010,159 – 160).
Mit dem Verfassungsgesetz Nr. 3 von 2001 erfolgte eine umfassende Reform des Titels V des Teils II der Verfassung, welcher die Kompetenzordnung zwischen Staat und Regionen mit Normalstatut bzw. nachgeordneten Gebietskörperschaften wesentlich veränderte. Zwar ließ das Verfassungsgesetz Nr. 3 von 2001 den Text des Autonomiestatuts unverändert, die Änderungen der Autonomie der Regionen mit Normalstatut haben trotzdem Auswirkungen auf die Sonderautonomie erzeugt.
Da die Frage nach der Erschöpfung der Kompetenzen wohl nur die Frage danach sein kann, inwiefern die bestehenden Kompetenzen des Statuts, dessen fünfzigjähriges Bestehen heuer im Mittelpunkt steht, dem Land Südtirol nach wie vor ermöglichen, den gesellschaftlichen, sozialen und wirtschaftlichen Entwicklungen gerecht zu werden, werden sich die Ausführungen auf die Effektivität der Kompetenzen konzentrieren. In Folgenden wird zunächst das statutarische Kompetenzsystems in seinen wesentlichen Merkmalen und Schwächen umrissen und sodann die Auswirkungen der Neugestaltung der Kompetenzordnung zwischen Staat und Regionen durch die Verfassungsreform von 2001 skizziert. Überlegungen zur Effektivität des Kompetenzkatalogs und zu dessen Verbesserung schließen den Beitrag ab.
2. Das Kompetenzsystem des Autonomiestatuts
Nach dem Modell der regionalen Autonomie in der Verfassung von 1948 ordnet das Autonomiestatut insbesondere in Artikel 8 und Artikel 9 Autonomiestatut eine Reihe von Sachbereichen der autonomen Provinz zur gesetzgeberischen Regelung zu. In diesen Materien verfügt das Land gemäß Artikel 16 Absatz 1 und Artikel 54 Absätze 1 und 2 Autonomiestatut auch über die Verwaltungs- bzw. die Verordnungsbefugnisse. Die Ausübung der Kompetenzen stehen unter der Vorgabe einer Reihe von Schranken (dazu näher Riz/Happacher 2013, 386 – 393). Diese sind gemäß Artikel 8 in Verein mit Artikel 4 Autonomiestatut die Verfassung, die Grundsätze der Rechtsordnung der Republik, die internationalen Verpflichtungen, die nationalen Interessen – in welchen jenes des Schutzes der örtlichen sprachlichen Minderheiten inbegriffen ist – sowie der grundlegenden Bestimmungen der wirtschaftlich-sozialen Reformen der Republik für die Materien ausschließlich-primärer Kompetenz, sowie zusätzlich laut Artikel 9 in Verein mit Artikel 5 Autonomiestatut die Grundsätze der Staatsgesetze in den Sachbereichen konkurrierend-sekundärer Kompetenz.
Die in Artikel 8 und Artikel 9 Autonomiestatut enthaltenen Kompetenzkataloge zählen überwiegend stichwortartig formulierte Sachbereiche auf. Als Beispiele seien hier die Materien „Landschaftsschutz“, „öffentliche Fürsorge und Wohlfahrt“, „Jagd und Fischerei“, „Handel“, oder „Hygiene und Gesundheitswesen“ angeführt. Deshalb verlangen diese Sachbereiche nach einer näheren inhaltlichen Beschreibung, um ihren Anwendungsbereich von der staatlichen (impliziten) Zuständigkeit abzugrenzen. Diese nähere inhaltliche Definition erfolgt zum einen im Wege von Durchführungsbestimmungen zum Autonomiestatut gemäß Artikel 107 Autonomiestatut. Zum anderen erschließt sie sich aus der Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofs, der im Falle von Konflikten zwischen Land und Staat hinsichtlich des Inhalts der Kompetenztatbestände im Rahmen der Normenkontrolle und von Befugniskonflikten gemäß Artikel 97 und Artikel 98 Autonomiestatut entscheidet, ob dem Land oder dem Staat die Kompetenz in Gesetzgebung und Verwaltung zukommt. Damit spielen aber die staatlichen Normen auch außerhalb etwaiger Delegierungen von Befugnissen eine entscheidende Rolle in der inhaltlichen Determinierung der autonomen Kompetenzen.
Zu den Durchführungsbestimmungen muss hervorgehoben werden, dass erst mit dem zweiten Autonomiestatut Vertreter der Sonderautonomie in deren Ausarbeitung einbezogen wurden. Art. 107 Autonomiestatut sieht für den Erlass der Durchführungsbestimmungen die Einholung einer Stellungnahme von paritätisch zwischen Vertretern des Staates und der Autonomen Region und Provinzen besetzter Kommissionen (12er- bzw. 6er-Kommission) vor.6
Die Durchführungsbestimmungen können die Bestimmungen des Statuts näher ausführen und dieses ergänzen, allerdings niemals gegen das Statut verstoßen (Riz/Happacher 2013, 420 – 422). Sie legen unter anderem detailliert fest, welche Verwaltungsbefugnisse dem Land zukommen. Sie enthalten aber auch Regelungen allgemeiner Natur. Als Beispiele können die Durchführungsbestimmung DPR Nr. 526 von 1987 genannt werden, die in Artikel 6 bis 8 die Zuständigkeit des Landes zur Umsetzung und zum Vollzug von Unionsrecht regelt (Happacher 2021, 264 – 265) oder die Durchführungsbestimmung GvD Nr. 266 von 1992 zum Verhältnis zwischen Landesgesetzen und später erfolgenden Staatsgesetzen, die Ausdruck der Schranken der autonomen Befugnisse sind und die eine unmittelbare Anwendbarkeit der staatlichen Bestimmung ausschließt (dazu Happacher 2020b, 61 – 66). Die Durchführungsbestimmungen sind durch den Interessenausgleich in den Verhandlungen zwischen den Vertretern der Autonomie und des Staates zum Inhalt der zukünftigen Durchführungsbestimmungen gekennzeichnet, was die Sonderautonomie unter das Verhandlungsprinzip stellt und ihr bilateralen Charakter verleiht (Cosulich 2017, insbesondere 94 – 108). Das Verhandlungsprinzip kommt im Übrigen auch in den so genannten paktierten Gesetzen zum Ausdruck, die gemäß Artikel 104 Autonomiestatut insbesondere die Finanzbestimmungen des Statuts auf der Grundlage eines Einvernehmens zwischen Regierung und den Vertretern der Sonderautonomie, aber auch die in Artikel 13 Autonomiestatut enthaltene Kompetenzen im Bereich der Erzeugung von elektrischer Energie ändern können.
Angemerkt werden muss, dass die Regelungsgegenstände häufig nicht bloß unter einen Kompetenztatbestand fallen, sondern es gerade die Komplexität der heutigen Realität erforderlich macht, mehrere Kompetenztatbestände heranzuziehen. Als Beispiel kann das Landesgesetz Nr. 11 von 2018 genannt werden, das sich mit Vorsorge- und Entnahmemaßnahmen bei Großraubwild in Umsetzung von Unionsrecht befasst und das den Schutz des besonderen Ökosystems (ein Begriff, der im Statut nicht vorkommt, aber in den letzten Jahren wesentlich an Bedeutung gewonnen hat) auf der Grundlage der Kompetenzen in den Sachbereichen „Almwirtschaft sowie Pflanzen- und Tierschutzparke“ gemäß Artikel 8 Nr. 16 Autonomiestatut und „Landwirtschaft, Forstwirtschaft und Forstpersonal, Vieh- und Fischbestand gemäß Artikel 8 Nr. 21 Autonomiestatut regelt, wie dies der Verfassungsgerichtshof in seinem Urteil Nr. 215 von 2019 festgestellt hat.
Die zentrale Rolle in den Konflikten zwischen Land und Staat um die Reichweite der Autonomie vor dem Verfassungsgerichtshof spielen naturgemäß einerseits die inhaltliche Definition der Materien, andererseits die Schranken, die das Land Südtirol in der Ausübung seiner Befugnisse zu beachten hat. Diese Schranken, etwa die grundlegenden Normen der wirtschaftlich-sozialen Reformen der Republik oder die Grundprinzipien für die rechtliche Regelung eines bestimmten Sachbereichs konkretisieren sich in der staatlichen Gesetzgebung, die dem autonomen Gesetzgeber (und zugleich dem Verordnungsgeber) inhaltlich Vorgaben zur Wahrung der Bedürfnisse an einheitlicher Regelung auf dem gesamten Staatsgebiet macht. Ebenso sind die internationalen Verpflichtungen zu beachten, welche nicht nur die völkerrechtlichen Verpflichtungen umfassen, sondern auch die Verpflichtungen aus dem Recht der Europäischen Union.7 Ob die Bereiche und Schranken der autonomen Befugnisse respektiert worden sind, sei es durch die Sonderautonomie, sei es durch den Staat, beurteilt der Verfassungsgerichtshof, dessen Rechtsprechung folglich den Anwendungsbereich der autonomen Kompetenzen im Verhältnis zum Staat definiert.
3. Die Verfassungsreform von 2001: das Problem der transversalen Kompetenzen
Mit der Reform des Titels V des Teils II der Verfassung durch das Verfassungsgesetz Nr. 3 von 2001 wurde das Modell der Kompetenzordnung zwischen Staat und Regionen mit Normalstatut bzw. nachgeordneten Gebietskörperschaften wesentlich verändert, auch wenn die asymmetrische Ausgestaltung der Regionalautonomie in Form von Regionen mit Normalstatut und von Sonderautonomien beibehalten wurde (vgl. dazu Happacher 2016a, 254 – 261). Wesentliche Elemente der reformierten Kompetenzordnung sind die Einführung eines Katalogs von Kompetenztatbeständen, die in die ausschließliche gesetzgeberische Zuständigkeit des Staates fallen, die Verankerung einer Generalklausel zugunsten der Regionen, die grundsätzliche Zuordnung der allgemeinen Verwaltungsfunktion an die Gemeinden und der Entfall der präventiven Kontrolle der Regionalgesetze durch die Regierung, welche gemäß Artikel 127 Verfassung nun mehr die Regionalgesetze innerhalb von 60 Tagen nach deren Inkrafttreten vor dem Verfassungsgerichtshof anfechten kann. Die in Artikel 117 Absätze 2 und 3 Verfassung enthaltenen Kompetenzkataloge listen die Sachbereiche auf, in denen der Staat ausschließlich zuständig ist bzw. in denen Staat und Regionen eine konkurrierende Gesetzgebungsbefugnis zukommt, wobei der Staat die grundlegenden Prinzipien festlegt. Eine so genannte Residualklausel in Artikel 117 Absatz 4 Verfassung ordnet den Regionen alle nicht benannten Materien zu. Als allgemeine Schranken des Gesetzgebers nennt Artikel 117 Absatz 1 Verfassung die Verfassung, das Unionsrecht und die völkerrechtlichen Verpflichtungen Italiens, womit die Schranke der nationalen Interessen entfallen ist, wie der Verfassungsgerichtshof im Urteil Nr. 303 von 2003 festgehalten hat, da die Gleichung nationales Interesse = staatliche Zuständigkeit nicht mehr zutrifft.
Allerdings spricht der Verfassungsgerichtshof einer Reihe von staatlichen Kompetenzen eine querschnittsartige, transversale Natur zu, was bedeutet, dass der staatliche Gesetzgeber auch in den Materien regionaler Zuständigkeit die Regelungen treffen kann, an die sich die Regionen zu halten haben (dazu näher Haller 2021, 284 – 305). Solche transversale Materien sind etwa der Schutz des Wettbewerbs, der Umweltschutz oder die Zivilrechtsordnung, welche Sachbereiche darstellen, in denen das Interesse an einheitlichen Regelungen auf gesamtstaatlicher Ebene eine Zuordnung der Kompetenz zum Staat bedingt.
Die Verwaltungsbefugnisse folgen nur mehr bedingt den Gesetzgebungskompetenzen. Die allgemeine Verwaltungsfunktion ist gemäß Artikel 118 Absatz 1 Verfassung grundsätzlich bei den Gemeinden angesiedelt, kann allerdings im Falle der Erforderlichkeit einer einheitlichen Ausübung unter Beachtung der Prinzipien der Subsidiarität, Angemessenheit und Differenzierung durch den Staat an sich gezogen werden, womit eine weitere Flexibilisierung der Kompetenzordnung stattfindet (Happacher 2016a, 270 – 272). Die Verordnungsfunktion ist gemäß Artikel 117 Absatz 6 Verfassung in den Bereichen staatlicher ausschließlicher Kompetenz dem Staat vorbehalten, ausgenommen die grundlegenden Funktionen der lokalen Gebietskörperschaften, in allen anderen Materien sind die Regionen zuständig, an welche der Staat auch seine Verordnungsbefugnis delegieren kann.
Das Autonomiestatut als solches bleibt von dieser Reform insofern unberührt, als das Verfassungsgesetz Nr. 3 von 2001 den Text der Verfassung, nicht jedoch den Text des Autonomiestatuts ändert. Unmittelbar Anwendung finden lediglich jene Bestimmungen, die sich ausdrücklich auf die autonome Provinz beziehen. Dies sind Artikel 116 Absatz 2 Verfassung, der die beiden Autonomen Provinzen Bozen und Trient als konstitutive Bestandteile der Autonomen Region Trentino-Südtirol sieht und damit das bisher geltende institutionelle Verhältnis zwischen Provinzen und Region umdreht, und Artikel 117 Absatz 5 Verfassung zur Rolle der beiden autonomen Provinzen in Entstehung und Umsetzung des Unionsrechts und in der Umsetzung der völkerrechtlichen Verpflichtungen Italiens. Allgemein gilt aufgrund der in Artikel 10 Verfassungsgesetz Nr. 3 von 2001 Gleichstellungsklausel, dass bis zur Anpassung des Autonomiestatuts etwaige Formen weiterer Autonomie automatisch auch auf die Sonderautonomie Anwendung finden (Günstigkeitsklausel), andererseits der vor der Reform erreichte Status quo an autonomen Kompetenzen bewahrt bleibt (Schutzklausel) (dazu Haller 2021, 325 – 342). Solange keine Reform des Autonomiestatuts erfolgt, gilt entsprechend ein zweigleisiges System der autonomen Kompetenzen (vgl. Parisi 2011, 826), das aufgrund eines Vergleichs zwischen dem Kompetenzsystem des Autonomiestatuts und der Kompetenzordnung der Verfassung die günstigere Regelung zur Anwendung bringen soll. Dieser Vergleich stößt nicht zuletzt aufgrund der Natur und des Umfangs der Vergleichsgegenstände auf Schwierigkeiten (dazu Haller 2021, 325 – 344, insbesondere 327 – 330).
Ebenso verursachen die stichwortartige Formulierung der autonomen Materien und die im Autonomiestatut festgeschriebenen Schranken der autonomen Befugnisse Probleme. Wenn auch die Materien ausschließlicher staatlicher Kompetenz ebenfalls stichwortartig formuliert sind, so vermögen sie doch aufgrund ihres transversalen Charakters inhaltlich massiv und detailliert in die autonomen Zuständigkeiten einzuwirken. Formal gesehen bleiben die autonomen Kompetenztatbestände bestehen, inhaltlich aber stellen ihre Schranken, insbesondere die grundlegenden Normen wirtschaftlich-sozialer Reformen der Republik das Einfallstor dar, das dem Landesgesetzgeber die inhaltliche Ausgestaltung seiner Kompetenzen geradezu verunmöglichen kann. Dadurch kommt es anstelle von Erweiterungen der Sonderautonomie Südtirols zu umfangreichen Einschränkungen seiner Gesetzgebungs- und damit auch Verwaltungsbefugnisse (dazu Obwexer/Happacher 2015; Haller 2021, 378 – 401).
Als Beispiel kann die primäre Gesetzgebungszuständigkeit im Bereich der öffentlichen Arbeiten gemäß Artikel 8 Nr. 17 Autonomiestatut herangezogen werden, die in Kombination mit der Zuständigkeit zur Regelung der Ämterordnung gemäß Artikel 8 Nr. 1 Autonomiestatut die Grundlage für eine autonome Regelung des Vergaberechts darstellt (vgl. Urteil des Verfassungsgerichtshofs Nr. 45/2010) und durch die Durchführungsbestimmung GvD Nr. 162 von 2017 bestätigt bzw. als Kompetenz zur gesetzlichen Regelung der Vergabeverfahren und der öffentlichen Bau-, Dienstleistungs- und Lieferaufträge, einschließlich der Ausführungsphase näher definiert wird, allerdings unter der Beachtung der Bestimmungen der Europäischen Union und der grundlegenden Gesetzesbestimmungen wirtschaftlich-sozialer Reformen steht (vgl. dazu Happacher 2020a, 181 – 185). In seinem Urteil Nr. 23/2022 hat der Verfassungsgerichtshof in Zusammenhang mit landesgesetzlichen Regelungen, die u.a. eine Verfahrensbeschleunigung der Vergabeverfahren zur Bekämpfung der wirtschaftlichen Folgen der Coronavirus-Pandemie vorsahen, alle Bestimmungen des staatlichen Vergaberechts, die den Bereich der transversalen Kompetenzen des Schutzes des Wettbewerbs und des Zivilrechts betreffen, als Bestimmungen wirtschaftlich-sozialer Reformen erkannt, die eine abweichende autonome Regelung nicht tolerieren und folglich verfassungswidrig sind. Die transversalen Materien stehen nämlich für jene Anliegen, die eine einheitliche Regelung auf gesamtstaatlicher Ebene erfordern. Die Frage nach dem innovativen Charakter, der Reformen inhärent sein muss und nach der Natur als Detail- oder Grundsatzregelung, die vor der Reform von 2001 vom Verfassungsgerichtshof als Voraussetzung für die Qualifizierung einer Bestimmung als grundlegende Bestimmung wirtschaftlich-sozialer Reformen festgelegt wurde (Riz/Happacher 2013, 392) wurde nicht einmal angedeutet. Es scheint, als ob damit die Substanz der Autonomie – der Gestaltungraum – sich in Luft aufgelöst hat, auch aus der Perspektive der Umsetzung des Unionsrechts, da die staatlichen Umsetzungsbestimmungen des Unionsrechts die Umsetzung der unionsrechtlichen Normen faktisch alleine vornehmen.
4. Schlussüberlegungen: Welcher Weg zu effektiven Kompetenzen?
Die Frage der Effektivität der Gesetzgebungs- und Verwaltungskompetenzen Südtirols hat angesichts der Auswirkungen der Verfassungsreform von 2001 besondere Bedeutung erlangt. Als einer der Wege, auf dem insbesondere die statutarischen Kompetenzen wieder konsolidiert und teilweise auch wiederhergestellt werden könnten, kann jener über Durchführungsbestimmungen zum Statut genannt werden. Hier ist allerdings zu beachten, dass es einer ausdrücklichen Zuordnung von Inhalten zur autonomen Sphäre bedarf, um den transversalen staatlichen Kompetenzen entgegenzuhalten (Happacher 2016b, 551). Es muss folglich eine detaillierte Konkretisierung der Kompetenzinhalte erfolgen, auch um die autonomen Bereiche von den staatlichen Zuständigkeiten besser abzugrenzen und damit zu schützen (siehe dazu umfassend Haller 2021, 502 – 506). Dabei wäre es wichtig, Verfahren und Methoden zur Kooperation und Abstimmung mit dem Staat vorzusehen, um der Verflechtung zwischen staatlichen und autonomen Zuständigkeiten Rechnung zu tragen und eine Abstimmung im konkreten Fall zu erzielen (D’Orlando 2017, 31 – 32). Damit könnten auch im Sinne einer loyalen Zusammenarbeit Konfliktsituationen im bilateralen Wege ausgeräumt und der Weg zum Verfassungsgerichtshofs vermieden werden. Der Weg über den Austausch mit den staatlichen Behörden bzw. der Regierung zu den Inhalten eines (geplanten) Landesgesetzes zur Vermeidung von Konflikten ist jedenfalls günstig. Allerdings verpflichteten Zusagen auf institutionell-politischer Ebene die Regierung rechtlich nicht, auf eine Anfechtung zu verzichten, da die Entscheidung über eine Anfechtung allein beim Ministerrat liegt.8
Allerdings bleiben bei unverändertem Autonomiestatut die Schranken der Zuständigkeiten aufrecht, was nahelegt, dass eine Lösung entweder über eine Ausgestaltung der staatlichen Regelungen in einer die Autonomie respektierenden Weise geschehen kann oder über eine Änderung der einschlägigen Bestimmungen des Autonomiestatuts, mithin über eine Reform.
Eine autonomiefreundlichere staatliche Gesetzgebung, die die Rolle der Regionen im Sinne von Artikel 5 Verfassung und dem dort verankerten Prinzip der Autonomie zur Kenntnis nimmt, würde sicherlich dazu beitragen, dass die Effektivität der autonomen Kompetenzen gewahrt würde. Allerdings scheint der staatliche Gesetzgeber wenig Tendenz zu zeigen, die besonderen Autonomieformen zu respektieren, da er auf der Grundlage der Verfassungsreform von 2001 deutlich zu einer einheitlich ausgestalteten Regionalautonomie neigt (D’Orlando 2017, 32). Entsprechend kann Südtirol nur versuchen, über seine Vertreter/-innen im Parlament und im Wege der Ständigen Konferenz für die Beziehungen zwischen dem Staat, den Regionen und autonomen Provinzen Trient und Bozen auf die staatliche Gesetzgebung einzuwirken.
Eine Reform des Kompetenzkatalogs würde sicherlich die Effektivität der Kompetenzen erhöhen und ihnen mehr Stabilität verleihen. Vorschläge dazu wurden in den letzten Jahren einige erstellt, insbesondere im Rahmen der von den beiden Landtagen angestoßenen Prozesse partizipativer Demokratie, dem Autonomiekonvent in Südtirol und der Consulta in Trient (Konvent 2017, 26 – 30, Consulta 2018, 34 – 41). Der Autonomiekonvent schlägt nicht nur eine Anreicherung der Liste der Materien vor, sondern verknüpft sie mit dem Instrument der Durchführungsbestimmungen dergestalt, dass für eine Reihe von Sachbereichen, in denen eine besonders enge Verflechtung mit dem Staat festgestellt wurde (z. B. Justizverwaltung, öffentliche Ordnung und Sicherheit) eine Durchführungsbestimmung verpflichtend zu erlassen ist (Konvent 2017, 26). Die Consulta möchte sämtliche Garantiemechanismen wie die Regelung der Beziehungen zwischen Staats- und Landesgesetzen im Statut verankern (Consulta 2018, 40 – 41). Einen anderen, wenn auch ähnlichen Ansatz wählt der Vorschlag von Carli, Postal und Toniatti, die hinsichtlich jener Profile der autonomen Kompetenzen, die sich mit transversalen staatlichen Kompetenzen bzw. Sachbereichen oder Werten überschneiden, die einheitlich geregelt werden sollten, zunächst autonom und dann entsprechend eines Einvernehmens mit dem Staat oder einer einschlägigen Durchführungsbestimmung ausgeübt werden sollen (Carli et al. 2013, 42).
Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass die Frage nach der Effektivität der autonomen Kompetenzen stark von den Rahmenbedingungen abhängt, unter denen sie ausgeübt werden können und damit insbesondere von der Möglichkeit des Staates, inhaltlich auf die Entscheidungen der Sonderautonomie Einfluss zu nehmen bzw. sie sogar völlig zu verdrängen. Dabei kommt den transversalen Kompetenzen des Staates eine zentrale Rolle zu. Die im Autonomiestatut stichwortartig definierten Materien bedürfen jedenfalls einer näheren Ausgestaltung, die aber nicht dem staatlichen Gesetzgeber im Wege der Schranken und im Zusammenwirken mit dem Verfassungsgerichtshof überlassen werden dürfen. Als Instrument scheinen die Durchführungsbestimmungen zum Statut durchaus geeignet, allerdings erfordern sie auch eine gewisse Autonomiekultur von Seiten des Staates, da sie nur im Verhandlungswege und damit in Kooperation geschaffen werden können. Dasselbe wird wohl auch für eine Reform des Autonomiestatuts erforderlich sein, die aufgrund der letzten Judikatur des Verfassungsgerichtshofs in Bezug auf die Auslegung der Schranken der Gesetzgebungs- und Verwaltungsautonomie, insbesondere der grundlegenden Bestimmungen wirtschaftlich-sozialer Reformen dringlich ist. Ansonsten bleibt zwar formal eine Sonderautonomie bestehen, aber inhaltlich wird sie durch die staatlichen ausschließlichen Zuständigkeiten überdeckt. Eine derartige Situation ist aus der völkerrechtlichen Perspektive betrachtet ebenfalls bedenklich, da Italien verpflichtet ist, den Standard der Autonomie von 1992, dem Zeitpunkt der Streitbeilegungserklärung, jedenfalls aufrecht zu erhalten (Obwexer 2020, 276 – 277).
Anmerkungen
5 Artikel 13 Autonomiestatut in der Fassung von Artikel 1 Absatz 833 Gesetz Nr. 205 von 2017.
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