Cuno Tarfusser
Der Internationale Strafgerichtshof vor der Herausforderung des Krieges in der Ukraine
The International Criminal Court Facing the War in Ukraine
Abstract No doubt that with the ongoing war in the Ukraine and the investigation into international crimes that have been allegedly committed, the International Criminal Court is facing its greatest challenge since its establishment by the international community following the Rome Conference in 1998. The aims of this article are threefold. First, it looks back and revisits the political climate in which, twenty years ago, the International Criminal Court came into force. Second, it gives the reader some basic knowledge on both international substantive criminal law (which deals with the so-called “international crimes” and how they differ from non-international crimes) and international criminal procedure (what triggers the Court to open an investigation and how a proceeding unfolds). Third, it links and contextualizes the basic legal notions of the Court’s ongoing investigations following the aggression by the Russian Federation in Ukraine and gives a prediction of what most likely will and will not happen, procedurally speaking. Lights and shadows, strength and weaknesses of the International Criminal Court are presented to the reader with what could be defined as “insider realism”.
1. Einleitung
In diesem Beitrag werde ich die Aktivierungsmechanismen (triggering mechanism) des Internationalen Strafgerichtshofes (IStGH) im Zusammenhang mit den Ermittlungen in der Ukraine analysieren. Dann werde ich der Frage nachgehen, was ein Völkerrechtsverbrechen eigentlich ausmacht, worin sich ein solches von Verbrechen unterscheidet, die nicht die internationale Gemeinschaft als Ganzes berühren, wodurch solche Verbrechen charakterisiert und welche in der Ukraine mutmaßlich begangen worden sind und immer noch begangen werden. Anschließend werde ich auf die Ermittlungen und die damit zusammenhängenden Probleme eingehen, wobei insbesondere die Vollstreckung der Entscheidungen des Gerichts problematisch sind, zumal der IStGH über keine eigene Vollstreckungsbehörde verfügt und somit auf die Kooperation der Staaten angewiesen ist. Den Aufsatz schließe ich mit einer Bilanz, die aus Licht und Schatten besteht.
Ausgehen will ich aber von der „mission“, der Aufgabe, welche die Staatengemeinschaft dem Internationalen Strafgerichtshofes erteilt hat. Eine Symphonie auf dem Notenblatt, die aber, interpretiert von Egomanen, kakophonisch klingt. Weniger poetisch könnte man den zweiten Satz auch so ausdrücken: Angesichts der weltweit zunehmenden Konflikte ein unwirklich erscheinendes Bild.
2. Der Internationale Strafgerichtshof und dessen „mission”
„Die Vertragsstaaten dieses Statuts,
Im Bewusstsein, dass alle Völker durch gemeinsame Bande verbunden sind und ihre Kulturen ein gemeinsames Erbe bilden, und besorgt darüber, dass dieses zerbrechliche Mosaik jederzeit zerstört werden kann;
eingedenk dessen, dass in diesem Jahrhundert Millionen von Kindern, Frauen und Männern Opfer unvorstellbarer Gräueltaten geworden sind, die das Gewissen der Menschheit zutiefst erschüttern;
in der Erkenntnis, dass solche schweren Verbrechen den Frieden, die Sicherheit und das Wohl der Welt bedrohen;
Bekräftigend, dass die schwersten Verbrechen, welche die internationale Gemeinschaft als Ganzes berühren, nicht unbestraft bleiben dürfen und dass ihre wirksame Verfolgung durch Maßnahmen auf einzelstaatlicher Ebene und durch verstärkte internationale Zusammenarbeit gewährleistet werden muss;
Entschlossen, der Straflosigkeit der Täter ein Ende zu setzen und so zur Verhütung solcher Verbrechen beizutragen;
Daran erinnernd, dass es die Pflicht eines jeden Staates ist, seine Strafgerichtsbarkeit über die für internationale Verbrechen Verantwortlichen auszuüben;
In Bekräftigung der Ziele und Grundsätze der Charta der Vereinten Nationen und insbesondere des Grundsatzes, dass alle Staaten jede gegen die territoriale Unversehrtheit oder die politische Unabhängigkeit eines Staates gerichtete oder sonst mit den Zielen der Vereinten Nationen unvereinbare Androhung oder Anwendung von Gewalt zu unterlassen haben;
Nachdrücklich darauf hinweisend, dass dieses Statut nicht so auszulegen ist, als ermächtige es einen Vertragsstaat, in einen bewaffneten Konflikt oder in die inneren Angelegenheiten eines Staates einzugreifen;
Im festen Willen, zu diesem Zweck und um der heutigen und der künftigen Generationen willen einen mit dem System der Vereinten Nationen in Beziehung stehenden unabhängigen ständigen Internationalen Strafgerichtshof zu errichten, der Gerichtsbarkeit über die schwersten Verbrechen hat, welche die internationale Gemeinschaft als Ganzes berühren;
Nachdrücklich darauf hinweisend, dass der aufgrund dieses Statuts errichtete Internationale Strafgerichtshof die innerstaatliche Strafgerichtsbarkeit ergänzt;
Entschlossen, die Achtung und die Durchsetzung der internationalen Rechtspflege dauerhaft zu gewährleisten;
Sind wie folgt übereingekommen (Römisches Statut des Internationalen Strafgerichtshofs 1998):
Es folgt ein Regelwerk, bestehend aus 128 Artikeln, die dem ersten dauerhaften internationalen Strafgericht zu Grunde liegen (Vgl. Römisches Statut des Internationalen Strafgerichtshofs 1998, in der Folge RS).
Ich habe ganz bewusst diesen Beitrag mit der „Präambel“1 zum Römischen Statut, dem internationalen Abkommen, das am 17. Juli 1998 in Rom unterzeichnet wurde und die rechtliche Grundlage sowie die völkerrechtliche Legitimation des Internationalen Strafgerichtshofes (IStGH) darstellt, begonnen. Damit möchte ich nämlich das „geopolitische Klima”, das vor nur etwas mehr als zwei Jahrzehnten herrschte, den heute über 40-Jährigen in Erinnerung rufen und es denen eröffnen, die es noch nicht sind. Ein Klima, das es der damaligen „Internationalen Staatengemeinschaft” ermöglicht hat, den nicht selbstverständlichen Konsens zu einer außerordentlichen, fast schon revolutionären Idee, zu finden: der Schaffung eines internationalen und übernationalen, ständigen Strafgerichtshofes der, wenn auch nur komplementär2, Zuständigkeit hat über die „schwersten Verbrechen, welche die internationale Gemeinschaft als Ganzes berühren“, die sogenannten „Internationalen Verbrechen“, zu urteilen.
In diesem Zusammenhang ist es sicher von Interesse zu wissen, dass das Römische Statut auch von den Vereinigten Staaten von Amerika (am 31. Dezember 2000), von Russland (am 13. September 2000), von der Ukraine (am 20. Januar 2000), sowie von Israel, vom Iran und von den Vereinten Arabischen Emiraten unterzeichnet worden ist. Diese Staaten haben zwar das Statut in der Folge nicht ratifiziert, haben sich aber durch ihre Unterzeichnung zu den in der Präambel ausgedrückten Werten bekannt.
Von dem angesprochenen „Klima”, das damals stark vom politischen Umbruch, ausgehend und symbolisiert vom Fall der Berliner Mauer, entscheidend beeinflusst war, ist leider nicht mehr viel übrig geblieben. Damals war die Staatengemeinschaft noch von Internationalismus, Multilateralismus, Multikulturalismus, Liberalismus und Solidarität geprägt. Heute überwiegen nicht nur Abschottung, Souveränismus, Nationalismus und Autoritarismus, sondern es tritt wieder vermehrt ein längst überholt geglaubter Expansionismus auf, von dem alle glaubten, er sei nur mehr Materie für Historiker/-innen.
Vor diesem sich so schnell veränderten geopolitischen Hintergrund muss man sich die Frage stellen, welches heute, eben nur zwei Jahrzehnte später, die „mission” des IStGH sei, und dies nicht nur wegen des Angriffskrieges Putins gegen die Ukraine.
Ich glaube, dass es außer Zweifel steht, dass die „mission” des Gerichtes, wie sie aus der Präambel zum Römischen Statut hervorgeht, unverändert ist. Dies alleine schon deshalb, weil das Statut seither unverändert ist und mittlerweile von 123 von derzeit 193 souveränen Staaten ratifiziert3 worden ist. Anderseits steht es aber genauso außer Zweifel, dass der IStGH, der zwar als Institution unabhängig von der „Internationalen Staatengemeinschaft” ist, die Verschärfung der Konflikte und die Gefahr instrumentalisiert zu werden, wahrnimmt. Man braucht nur zu bedenken, dass seine Aufgabe gerade darin besteht, diese Konflikte strafrechtlich-juristisch aufzuarbeiten und diese Arbeit von Menschen aus 123 Ländern und 5 Kontinenten bewältigt werden muss.
Trotzdem gilt es dieser Gefahr mit allen Mitteln zu begegnen, nicht nur um nicht an Glaubwürdigkeit und somit an Autorität zu verlieren, sondern um die Rolle eines wichtigen players auf dem internationalen Parkett, die die internationale Staatengemeinschaft dem Gericht im Jahre 1998 anvertraut hat, wahrnehmen zu können.
Bisher hat sich die Arbeit des IStGH eher abseits des „westlichen Wahrnehmungsfeldes“, hauptsächlich in Afrika, abgespielt. Spätestens seit Februar 2022 ist der Internationale Strafgerichtshof auch in unseren Breitengraden etwas mehr als nur der Name einer Institution. Sogar Staaten, die ihn bisher nicht anerkannt haben, wie etwa die Ukraine, oder sogar angefeindet haben, wie die USA4, haben den IStGH mehrfach zum Handeln aufgerufen.
In der Folge gilt es den Lesern und Leserinnen den Internationalen Strafgerichtshof im Zusammenhang mit den Ermittlungen in der Ukraine etwas näher zu bringen5.
2. Die Aktivierungsmechnismen des IStGH und die Ermittlungen in der Ukraine
Von den drei, vom Römischen Statut vorgesehenen Aktivierungsmechanismen des Gerichtes, die es dem derzeitigen Chefankläger am IStGH, Karim Ahmad Khan KC6, am 2. März 2022 ermöglicht haben, den Beginn von Ermittlungen „bezüglich der Situation7 in der Ukraine” („investigation into the situation of the Ucraine”) anzukündigen, hat der Antrag seitens eines Vertragsstaates (state referral) gegriffen. Wobei der Antrag nicht nur von einem, sondern von 39 der insgesamt 123 Vertragsstaaten gestellt worden war.
Es gibt drei Aktivierungsmechanismen (triggering mechanisms) des Gerichtes:
(i) Der Antrag eines Vertragsstaates – state referral (Artt. 13, a. e 14, SR) der zu Ermittlungen auf dem Staatsgebiet eines Vertragsstaates ermöglicht;
(ii) Die Resolution des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen – securiy council referral (Art. 13, b, SR), unabhängig davon, ob diese auf dem Staatsgebiet eines Vertragsstaates getätigt werden müssen, und
(iii) die Ermittlungen der Anklagebehörde von Amtes wegen auf dem Staatsgebiet eines Vertragsstaates, sofern richterlich genehmigt, ermöglicht – motu proprio investigations (Art. 13, c. e 15 SR)
Aber der Antrag allein, wenn auch von vielen Vertragsstaaten, hätte nicht zur Legitimierung einer Ermittlung gereicht, zumal diese auf dem Staatsgebiet der Ukraine hätte durchgeführt werden müssen und die Ukraine kein Vertragsstaat zum Römischen Statut ist.
Diesen Mangel an örtlicher Zuständigkeit, ratione loci, hat eine, meiner Meinung nach, sehr großzügige, aber in der Perspektive auch sehr gefährliche Auslegung des Art. 12 (3) des Römischen Statuts seitens des Anklägers wettgemacht. Diese Norm besagt nämlich, dass auch ein Nichtvertragsstaat der Gerichtsbarkeit des IStGH unterliegt, sofern dieser durch einschlägige Erklärung die Gerichtbarkeit des Strafgerichtes anerkennt:
Artikel 12 RS – Voraussetzungen für die Ausübung der Gerichtsbarkeit –
„(3) Ist die Anerkennung der Gerichtsbarkeit durch einen Staat erforderlich, der nicht Vertragspartei dieses Statuts ist, so kann dieser Staat durch Hinterlegung einer Erklärung beim Kanzler die Ausübung der Gerichtsbarkeit durch den Gerichtshof in Bezug auf das fragliche Verbrechen anerkennen. Der anerkennende Staat arbeitet mit dem Gerichtshof ohne Verzögerung oder Ausnahme in Übereinstimmung zusammen“.
Die Ukraine hatte diesbezüglich schon zwei Erklärungen beim Kanzler („Registrar” 8) des IStGH hinterlegt9. Beide Erklärungen stammen vom ukrainischen Parlament. Die erste datiert vom 9. April 2014 und hatte „die Täter und deren Komplizen der Verbrechen, die zwischen dem 21. November 2013 und dem 22 Februar 2014 auf dem Territorium der Ukraine begangen worden sind”, zum Gegenstand. Also eine zeitlich begrenzte Anerkennung der Gerichtsbarkeit. Die zweite Erklärung betraf
„hohe Offiziere der russischen Föderation und die Anführer zweier terroristischer Organisationen wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit und der Kriegsverbrechen, die ab dem 20. Februar 2014 auf dem Staatsgebiet der Ukraine begangen worden sind“,
und war also zeitlich unbegrenzt.
Genau in dieser beanspruchten unbegrenzten Gültigkeit verbirgt sich die Gefahr, die ich angesprochen habe. In diesem Zusammenhang drängen sich aber auch noch einige weitere Fragen auf: Warum hat die Ukraine in den Jahren nach den Erklärungen das Römische Statut nicht ratifiziert?10 Wie lange behält eine solche Erklärung Gültigkeit, auch wenn sie zeitlich keine Begrenzung hat? Müsste eine Erklärung nicht zeitlich begrenzt sein? Ist der IStGH an eine solche überhaupt gebunden? Gilt die Erklärung, auch wenn in der Zwischenzeit Neuwahlen und ein Regierungswechsel stattgefunden haben? Dies alles auch vor dem Hintergrund, dass, im Gegensatz zur Ratifizierung, Erklärungen nicht zu den jährlichen Beitragszahlungen verpflichten und, vor allem, dass zeitlich unbegrenzte Anerkennungserklärungen potenziell zur universellen Gerichtsbarkeit des IStGH führen können bei Vermeidung des jeweiligen, landesinternen Ratifizierungsverfahrens.
Alle diese und weitere Fragen werden mit Sicherheit, sofern es dazu kommen wird, Eingang in ein Gerichtsverfahren finden und äußerst kontrovers debattiert werden, und zwar noch lange, bevor es dazu zur Beweisaufnahme und somit zur Aufklärung der angeklagten Völkerrechtsverbrechen und der Schuldfrage kommt.
Ungeachtet all dessen sind die Ermittlungen seit März 2022 in vollem Gange.
3. Die Völkerrechtsverbrechen
Der IStGH hat Zuständigkeit über diejenigen Verbrechen, welche, um es mit der Präambel auszudrücken, „die internationale Gemeinschaft als Ganzes berühren“, auch internationale Verbrechen oder Völkerrechtsverbrechen genannt.
Aber was sind Völkerrechtsverbrechen? Worin bestehen sie? Wie unterscheiden sie sich von anderen Verbrechen? Und, welche dieser Verbrechen sind in der Ukraine mutmaßlich begangen worden bzw. werden immer noch begangen?
Die Antworten auf diese Fragen sind wesentlich komplexer als es den Anschein hat, wenn man die Medienberichte verfolgt. Diese beziehen ihre Informationen meist aus „unabhängigen“ Berichten, die von „unabhängigen“ Organisationen erstellt werden, wobei das Problem im Adjektiv „unabhängig” liegt. Sie sprechen oft ganz allgemein und wahllos von Kriegsverbrechen, von Verbrechen gegen die Menschlichkeit, ja sogar von Völkermord, die vom russischen Militär in der Ukraine begangen werden, ohne über ein klares und differenziertes Grundwissen zu verfügen.
3.1 Es gilt also eingangs kurz zu erklären, was Völkerrechtsverbrechen sind, hauptsächlich jedoch gilt es zu erklären, worin sich diese von Verbrechen unterscheiden, die nicht die internationale Gemeinschaft als Ganzes berühren. Verbrechen also, die vor den ordentlichen, nationalen Gerichten verhandelt werden.
Die erste Kodifizierung der Völkerrechtsverbrechen geht auf das Abkommen von London vom August 1945 zurück, mit dem die Siegermächte des Zweiten Weltkrieges – die Vereinigten Staaten von Amerika, Sowjetunion, Großbritannien und Frankreich – das erste überstaatliche Strafgericht ins Leben gerufen haben: das Internationale Militärgericht von Nürnberg.
Die Straftatbestände hießen damals „Verbrechen gegen den Frieden“, „Kriegsverbrechen“ und „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“.
(1) Crimes against peace: namely, planning, preparation, initiation or waging of a war of aggression, or a war in violation of international treaties, agreements or assurances, or participation in a common plan or conspiracy for the accomplishment of any of the foregoing;
(2) War crimes: namely, violations of the laws or customs of war. Such violations shall include, but not be limited to, murder, ill-treatment or deportation to wave labour or for any other purpose of civilian population of or in occupied territory, murder or ill-treatment of prisoners of war or persons on the seas, killing of hostages, plunder of public or private property, wanton destruction of cities, towns or villages, or devastation not justified by military necessity;
(3) Crimes against humanity: namely, murder, extermination, enslavement, deportation, and other inhumane acts committed against any civilian population, before or during the war, or persecutions on political, racial or religious grounds in execution of or in connection with any crime within the jurisdiction of the Tribunal, whether or not in violation of the domestic law of the country where perpetrated.
Dabei entspricht das erste Verbrechen in etwa dem heutigen Verbrechen der „Aggression“. Die Kriegsverbrechen von damals waren nicht verbunden mit den Genfer Konventionen, die erst ab dem Jahre 1949 unterzeichnet wurden und heute zusammen mit anderen Abkommen die „Kriegsregeln“ bilden und etwas scheinheilig „Humanitäres Völkerrecht“ genannt werden. Das Verbrechen, das damals als Verbrechen gegen die Menschlichkeit bezeichnet wurde, hat mit dem heutigen gleichnamigen Verbrechen nur teilweise zu tun, bildete aber die Grundlage für das Verbrechen, das wir heute als Völkermord oder Genozid bezeichnen.
Ausgehend von der Rechtsprechung der Nürnberger Prozesse haben die Völkerrechtsverbrechen eine weitere Entwicklung hauptsächlich durch die theoretisch-akademische Ausarbeitung der International Law Commission (ILC) 11 erfahren, war doch eine konkrete Weiterentwicklung durch den „Kalten Krieg“ unmöglich. Erst die Nachfolgegerichte des Nürnberger Tribunals, wobei hauptsächlich das ICTY12 zu nennen ist, haben das internationale Strafrecht, oder auch Völkerstrafrecht, wieder an konkreter Rechtsprechung messen können.
Diese jahrzehntelange sowohl theoretische als auch praktische Rechtsentwicklung hat sich die diplomatische UN-Konferenz, die im Juni und Juli 1998 in Rom getagt hat, um ein Regelwerk für ein permanentes, überstaatliches Strafgericht auszuarbeiten, zu Nutze gemacht und in den Artikeln 6 (Völkermord), 7 (Verbrechen gegen die Menschlichkeit), 8 (Kriegsverbrechen) und 8 bis (Aggression) des Römischen Statuts die vier Völkerrechtsverbrechen kodifiziert.
Artikel 6 RS – Völkermord – Im Sinne dieses Statuts bedeutet „Völkermord“ jede der folgenden Handlungen, die in der Absicht begangen wird, eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören:
a) Tötung von Mitgliedern der Gruppe;
b) Verursachung von schwerem körperlichem oder seelischem Schaden an Mitgliedern der Gruppe;
c) vorsätzliche Auferlegung von Lebensbedingungen für die Gruppe, die geeignet sind, ihre körperliche Zerstörung ganz oder teilweise herbeizuführen;
d) Verhängung von Maßnahmen, die auf die Geburtenverhinderung innerhalb der Gruppe gerichtet sind;
e) gewaltsame Überführung von Kindern der Gruppe in eine andere Gruppe.
Artikel 7 RS – Verbrechen gegen die Menschlichkeit – (1) Im Sinne dieses Statuts bedeutet „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ jede der folgenden Handlungen, die im Rahmen eines ausgedehnten oder systematischen Angriffs gegen die Zivilbevölkerung und in Kenntnis des Angriffs begangen wird:
a) vorsätzliche Tötung;
b) Ausrottung;
c) Versklavung;
d) Vertreibung oder zwangsweise Überführung der Bevölkerung;
e) Freiheitsentzug oder sonstige schwerwiegende Beraubung der körperlichen Freiheit unter Verstoß gegen die Grundregeln des Völkerrechts;
f) Folter;
g) Vergewaltigung, sexuelle Sklaverei, Nötigung zur Prostitution, erzwungene Schwangerschaft, Zwangssterilisation oder jede andere Form sexueller Gewalt von vergleichbarer Schwere;
h) Verfolgung einer identifizierbaren Gruppe oder Gemeinschaft aus politischen, rassischen, nationalen, ethnischen, kulturellen oder religiösen Gründen, Gründen des Geschlechts im Sinne des Absatzes oder aus anderen nach dem Völkerrecht universell als unzulässig anerkannten Gründen im Zusammenhang mit einer in diesem Absatz genannten Handlung oder einem der Gerichtsbarkeit des Gerichtshofs unterliegenden Verbrechen;
i) zwangsweises Verschwindenlassen von Personen;
j) das Verbrechen der Apartheid;
k) andere unmenschliche Handlungen ähnlicher Art, mit denen vorsätzlich große Leiden oder eine schwere Beeinträchtigung der körperlichen Unversehrtheit oder der geistigen oder körperlichen Gesundheit verursacht werden.
Artikel 8 RS – Kriegsverbrechen – (1) Der Gerichtshof hat Gerichtsbarkeit in Bezug auf Kriegsverbrechen, insbesondere, wenn diese als Teil eines Planes oder einer Politik oder als Teil der Begehung solcher Verbrechen in großem Umfang verübt werden. (2) Im Sinne dieses Statuts bedeutet „Kriegsverbrechen“
a) schwere Verletzungen der Genfer Abkommen vom 12. August 1949, nämlich jede der folgenden Handlungen, gegen die nach dem jeweiligen Genfer Abkommen geschützten Personen oder Güter: i) vorsätzliche Tötung; ii) Folter oder unmenschliche Behandlung einschließlich biologischer Versuche; iii) vorsätzliche Verursachung großer Leiden oder schwere Beeinträchtigung der körperlichen Unversehrtheit oder der Gesundheit; iv) Zerstörung und Aneignung von Eigentum in großem Ausmaß, die durch militärische Erfordernisse nicht gerechtfertigt sind und rechtswidrig und willkürlich vorgenommen werden; v) Nötigung eines Kriegsgefangenen oder einer anderen geschützten Person zur Dienstleistung in den Streitkräften einer feindlichen Macht; vi) vorsätzlicher Entzug des Rechts eines Kriegsgefangenen oder einer anderen geschützten Person auf ein unparteiisches ordentliches Gerichtsverfahren; vii) rechtswidrige Vertreibung oder Überführung oder rechtswidrige Gefangenhaltung; viii) Geiselnahme;
b) andere schwere Verstöße gegen die innerhalb des feststehenden Rahmens des Völkerrechts im internationalen bewaffneten Konflikt anwendbaren Gesetzen und Gebräuchen, nämlich jede der folgenden Handlungen: i) vorsätzliche Angriffe auf die Zivilbevölkerung als solche oder auf einzelne Zivilpersonen, die an den Feindseligkeiten nicht unmittelbar teilnehmen; ii) vorsätzliche Angriffe auf zivile Objekte, das heißt auf Objekte, die nicht militärische Ziele sind; iii) vorsätzliche Angriffe auf Personal, Einrichtungen, Material, Einheiten oder Fahrzeuge, die an einer humanitären Hilfsmission oder friedenserhaltenden Mission in Übereinstimmung mit der Charta der Vereinten Nationen beteiligt sind, solange sie Anspruch auf den Schutz haben, der Zivilpersonen oder zivilen Objekten nach dem internationalen Recht des bewaffneten Konflikts gewährt wird; iv) vorsätzliches Führen eines Angriffs in der Kenntnis, dass dieser auch Verluste an Menschenleben, die Verwundung von Zivilpersonen, die Beschädigung ziviler Objekte oder weit reichende, langfristige und schwere Schäden an der natürlichen Umwelt verursachen wird, die eindeutig in keinem Verhältnis zu dem insgesamt erwarteten konkreten und unmittelbaren militärischen Vorteil stehen; v) der Angriff auf unverteidigte Städte, Dörfer, Wohnstätten oder Gebäude, die nicht militärische Ziele sind, oder deren Beschießung, gleichviel mit welchen Mitteln; vi) die Tötung oder Verwundung eines die Waffen streckenden oder wehrlosen Kombattanten, der sich auf Gnade oder Ungnade ergeben hat; vii) der Missbrauch der Parlamentärflagge, der Flagge oder der militärischen Abzeichen oder der Uniform des Feindes oder der Vereinten Nationen sowie der Schutzzeichen der Genfer Abkommen, wodurch Tod oder schwere Verletzungen verursacht werden; viii) die unmittelbare oder mittelbare Überführung durch die Besatzungsmacht eines Teiles ihrer eigenen Zivilbevölkerung in das von ihr besetzte Gebiet oder die Vertreibung oder Überführung der Gesamtheit oder eines Teiles der Bevölkerung des besetzten Gebiets innerhalb desselben oder aus diesem Gebiet; ix) vorsätzliche Angriffe auf Gebäude, die dem Gottesdienst, der Erziehung, der Kunst, der Wissenschaft oder der Wohltätigkeit gewidmet sind, auf geschichtliche Denkmäler, Krankenhäuser und Sammelplätze für Kranke und Verwundete, sofern es nicht militärische Ziele sind; x) die körperliche Verstümmelung von Personen, die sich in der Gewalt einer gegnerischen Partei befinden, oder die Vornahme medizinischer oder wissenschaftlicher Versuche jeder Art an diesen Personen, die nicht durch deren ärztliche, zahnärztliche oder Krankenhausbehandlung gerechtfertigt sind oder in ihrem Interesse durchgeführt werden und die zu ihrem Tod führen oder ihre Gesundheit ernsthaft gefährden; xi) die meuchlerische Tötung oder Verwundung von Angehörigen des feindlichen Volkes oder Heeres; xii) die Erklärung, dass kein Pardon gegeben wird; xiii) die Zerstörung oder Beschlagnahme feindlichen Eigentums, sofern diese nicht durch die Erfordernisse des Krieges zwingend geboten ist; xiv) die Erklärung, dass Rechte und Forderungen von Angehörigen der Gegenpartei aufgehoben, zeitweilig ausgesetzt oder vor Gericht nicht einklagbar sind; xv) der Zwang gegen Angehörige der Gegenpartei, an den Kriegshandlungen gegen ihr eigenes Land teilzunehmen, selbst wenn sie bereits vor Ausbruch des Krieges im Dienst des Kriegführenden standen; xvi) die Plünderung einer Stadt oder Ansiedlung, selbst wenn sie im Sturm genommen wurde; xvii) die Verwendung von Gift oder vergifteten Waffen; xviii) die Verwendung erstickender, giftiger oder gleichartiger Gase sowie aller ähnlichen Flüssigkeiten, Stoffe oder Vorrichtungen; xix) die Verwendung von Geschossen, die sich im Körper des Menschen leicht ausdehnen oder flachdrücken, beispielsweise Geschosse mit einem harten Mantel, der den Kern nicht ganz umschließt oder mit Einschnitten versehen ist; xx) die Verwendung von Waffen, Geschossen, Stoffen und Methoden der Kriegführung, die geeignet sind, überflüssige Verletzungen oder unnötige Leiden zu verursachen, oder die unter Verstoß gegen das internationale Recht des bewaffneten Konflikts ihrer Natur nach unterschiedslos wirken, vorausgesetzt, dass diese Waffen, Geschosse, Stoffe und Methoden der Kriegführung Gegenstand eines umfassenden Verbots und aufgrund einer Änderung entsprechend den einschlägigen Bestimmungen in den Artikeln 121 und 123 in einer Anlage dieses Statuts enthalten sind; xxi) die Beeinträchtigung der persönlichen Würde, insbesondere eine entwürdigende und erniedrigende Behandlung; xxii) Vergewaltigung, sexuelle Sklaverei, Nötigung zur Prostitution, erzwungene Schwangerschaft im Sinne des Artikels 7, Absatz 2, Buchstabe f, Zwangssterilisation oder jede andere Form sexueller Gewalt, die ebenfalls eine schwere Verletzung der Genfer Abkommen darstellt; xxiii) die Benutzung der Anwesenheit einer Zivilperson oder einer anderen geschützten Person, um Kampfhandlungen von gewissen Punkten, Gebieten oder Streitkräften fernzuhalten; xxiv) vorsätzliche Angriffe auf Gebäude, Material, Sanitätseinheiten, Sanitätstransportmittel und Personal, die in Übereinstimmung mit dem Völkerrecht mit den Schutzzeichen der Genfer Abkommen versehen sind; xxv) das vorsätzliche Aushungern von Zivilpersonen als Methode der Kriegführung durch das Vorenthalten der für sie lebensnotwendigen Gegenstände, einschließlich der vorsätzlichen Behinderung von Hilfslieferungen, wie sie nach den Genfer Abkommen vorgesehen sind; xxvi) die Zwangsverpflichtung oder Eingliederung von Kindern unter fünfzehn Jahren in die nationalen Streitkräfte oder ihre Verwendung zur aktiven Teilnahme an Feindseligkeiten;
Artikel 8 bis RS – Aggression – (1). Im Sinne dieses Statuts bedeutet „Verbrechen der Aggression“ die Planung, Vorbereitung, Einleitung oder Ausführung einer Angriffshandlung, die ihrer Art, ihrer Schwere und ihrem Umfang nach eine offenkundige Verletzung der Charta der Vereinten Nationen vom 26. Juni 1945 darstellt, durch eine Person, die tatsächlich in der Lage ist, das politische oder militärische Handeln eines Staates zu kontrollieren oder zu lenken. (2). Im Sinne des Absatzes 1 bedeutet „Angriffshandlung“, die gegen die Souveränität, die territoriale Unversehrtheit oder die politische Unabhängigkeit eines Staates gerichtete oder sonst mit der Charta der Vereinten Nationen unvereinbare Anwendung von Waffengewalt durch einen anderen Staat. Unabhängig von dem Vorliegen einer Kriegserklärung gilt in Übereinstimmung mit der Resolution 3314 (XXIX) der Generalversammlung der Vereinten Nationen vom 14. Dezember 1974 jede der folgenden Handlungen als Angriffshandlung:
a) die Invasion des Hoheitsgebiets eines Staates oder der Angriff auf dieses durch die Streitkräfte eines anderen Staates oder jede, wenn auch vorübergehende, militärische Besetzung, die sich aus einer solchen Invasion oder einem solchen Angriff ergibt, oder jede gewaltsame Annexion des Hoheitsgebiets eines anderen Staates oder eines Teiles desselben;
b) die Bombardierung oder Beschießung des Hoheitsgebiets eines Staates durch die Streitkräfte eines anderen Staates oder der Einsatz von Waffen jeder Art durch einen Staat gegen das Hoheitsgebiet eines anderen Staates;
c) die Blockade der Häfen oder Küsten eines Staates durch die Streitkräfte eines anderen Staates;
d) ein Angriff der Streitkräfte eines Staates auf die Land-, See- oder Luftstreitkräfte oder die See- und Luftflotte eines anderen Staates;
e) der Einsatz von Streitkräften eines Staates, die sich mit der Zustimmung eines anderen Staates in dessen Hoheitsgebiet befinden, unter Verstoß gegen die in der entsprechenden Einwilligung oder Vereinbarung vorgesehenen Bedingungen oder jede Verlängerung ihrer Anwesenheit in diesem Hoheitsgebiet über den Ablauf der Geltungsdauer der Einwilligung oder Vereinbarung hinaus;
f) das Handeln eines Staates, wodurch er erlaubt, dass sein Hoheitsgebiet, das er einem anderen Staat zur Verfügung gestellt hat, von diesem anderen Staat dazu benutzt wird, eine Angriffshandlung gegen einen dritten Staat zu begehen;
g) das Entsenden bewaffneter Banden, Gruppen, irregulärer Kräfte oder Söldner durch einen Staat oder in seinem Namen, die mit Waffengewalt gegen einen anderen Staat Handlungen von solcher Schwere ausführen, dass sie den oben aufgeführten Handlungen gleichkommen, oder seine wesentliche Beteiligung daran.
3.2 Was charakterisiert also Völkerrechtsverbrechen, was unterscheidet sie von den Verbrechen die eben nicht, wie es die Präambel ausdrückt, die internationale Gemeinschaft als Ganzes berühren?
Jede Straftat, jedes Verbrechen besteht notwendigerweise aus zwei Elementen: das objektive und das subjektive Element, also die Tat und der Wille (Vorsatz) diese Tat zu begehen.
Bei Völkerrechtsverbrechen kommt jedoch ein weiteres, ein drittes Element hinzu, und zwar das kontextuelle Element („contextual element“). Es bildet die Voraussetzung für internationale Verbrechen.
Am Kriegsverbrechen lässt sich am einfachsten erklären, worin das kontextuelle Element besteht, denn es ist der Krieg selbst. Ohne Krieg kein Kriegsverbrechen, wobei es nach internationalem Recht zwei Arten von Krieg gibt: den bewaffneten Konflikt internationalen Charakters, also den konventionellen Krieg zwischen zwei oder mehreren Staaten, wie etwa der Krieg in der Ukraine es ist, und den bewaffneten Konflikt nicht internationalen Charakters, also den Bürgerkrieg.
Im Verbrechen gegen die Menschlichkeit ist das kontextuelle Element mehrschichtig und besteht (i) in einem Angriff auf die Zivilbevölkerung, (ii) der ausgedehnt oder systematisch sein und (iii) eine policy, also eine Zielsetzung eines Staates oder einer strukturierten Organisation beinhalten muss.
Beim Völkermord besteht das kontextuelle Element im erweiterten, zielgerichteten Vorsatz (dolus specialis) des Täters, eine Bevölkerungsgruppe aus nationalen, ethnischen, religiösen oder rassischen Gründen auslöschen zu wollen.
3.3. Gemäß dem bisher Gesagten kann man mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit behaupten, dass auf dem Staatsgebiet der Ukraine Kriegsverbrechen begangen worden sind und immer noch begangen werden. Dies nicht erst seit dem 24. Februar 2022, sondern, wie die beiden genannten Anerkennungserklärungen der Gerichtsbarkeit des IStGH beweisen, schon seit dem Jahr 2014, obschon der Konflikt damals noch als Bürgerkrieg eingestuft werden müsste und noch nicht internationalen Charakter eines konventionellen Krieges angenommen hatte.
Genauso gibt es berechtigten Grund zur Annahme, dass viele dieser Verbrechen juristisch auch als Verbrechen gegen die Menschlichkeit eingestuft werden können.
Im Gegensatz zu dem, was unter anderen US-Präsident Biden und der ukrainische Präsident Zelenski aus juristischem Unwissen, aus Gründen der Propaganda oder einfach aufgrund schlechter Beratung behauptet haben, kann man zum heutigen Zeitpunkt ausschließen, dass ein Völkermord seitens Russlands beabsichtigt oder gar im Gange ist.
Eine separate Beurteilung verdient das Verbrechen der Aggression. Ich glaube behaupten zu können, dass es außer Zweifel steht, dass der Einmarsch des russischen Militärs in das Staatsgebiet der Ukraine eine Aggression im Sinne des Artikels 8 bis des Römischen Statutes darstellt. Die Frage, ob dieses Verbrechen vom IStGH ermittelt und verfolgt werden kann, ist somit nicht eine materiell strafrechtliche, sondern eine prozessstrafrechtliche oder, besser gesagt, eine politische Frage. Nachdem die „Internationale Staatengemeinschaft“ im Jahre 2012 in Kampala/Uganda bei der Revisionskonferenz zum Römischen Statut den hart umkämpften Kompromiss zur Definition des Verbrechens der Aggression gefunden hatte, hat sie im selben Atemzug auch den Artikel 15bis ins Statut aufgenommen, der das Verbrechen der Aggression völlig aushöhlt. Diese Norm besagt nämlich, bezogen auf das, was in unserem Kontext von Interesse ist, dass bezüglich
„eines Staates, der nicht Vertragspartei dieses Statuts ist (also weder Russland noch die Ukraine), der Gerichtshof seine Gerichtsbarkeit über das Verbrechen der Aggression nicht ausübt, wenn das Verbrechen von Staatsangehörigen des betreffenden Staates oder in dessen Hoheitsgebiet begangen wurde”.
Im Klartext heißt das nichts anderes, als dass kein Verantwortlicher eines Nicht-Vertragsstaates jemals des Verbrechens der Aggression bezichtigt werden kann. Um zu dieser ernüchternden Erkenntnis zu gelangen, braucht man den Gedankengang, verbunden mit etwas politischem Realismus, nur einen Schritt weiterzuführen. Eine Aggression im völkerrechtlichen Sinne kann nämlich nur von politischen oder militärischen Großmächten ausgehen, von Staaten also, die das Statut nicht nur nicht ratifiziert haben, sondern dies mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit auch nicht tun werden, etwa die USA, Russland, China, Indien, Israel, Iran, Pakistan.
Somit kann man behaupten, dass das Verbrechen der Aggression von der internationalen Staatengemeinschaft mit heuchlerischem Enthusiasmus verabschiedet und der Welt präsentiert worden ist, wohl wissend, dass die Norm völlig wirkungslos ist und nur eine Augenauswischerei darstellt.
4. Die Ermittlungen: die Beweisaufnahme und deren zu erwartende Ergebnisse auch bezüglich der strafrechtlichen Verantwortung
Es gibt viele Gründe weswegen die Ermittlungen des IStGH, im Allgemeinen, von besonderer Komplexität und Schwierigkeit sind. Man bedenke nur, dass die Ermittlungen meist noch während der bewaffneten Konflikte im Gange (ongoing conflict) sind, dass sie immer von den Anfeindungen seitens mindestens einer der Konfliktparteien begleitet sind, dass es in diesem Klima nicht nur eine enorme Herausforderung darstellt, Beweise zu finden, sondern diese auch so zu sichern, dass sie in einem zukünftigen Strafverfahren verwertbar sind. Dies alles auch noch vor dem Hintergrund, dass in diesen Konfliktgebieten Menschenleben keinen Wert haben und es somit schwierig ist, glaubhafte und mutige Menschen zu finden, die gewillt sind belastbare Aussagen zu machen.
Wenn wir nun diese allgemeinen Ermittlungsschwierigkeiten in das ukrainische Kriegsszenario versetzen, so erfahren sie nochmal eine enorme Potenzierung. Dabei besteht die größte Schwierigkeit eindeutig in der Sammlung und Sicherung von Beweisen. Dabei meine ich glaubhafte Beweise aus verlässlichen Quellen, denn es besteht ein enormes Risiko, wie eingangs angedeutet, dem Propagandakrieg zum Opfer zu fallen. Die internationalen Ermittler/-innen müssen sich zwangsläufig Großteils an ukrainische Behörden anlehnen, die ihrerseits ein Interesse haben, die Ermittlungen in eine ganz bestimmte Richtung zu steuern, was wiederum mit der institutionellen Aufgabe des IStGH „unabhängig” und „unparteiisch” zu ermitteln, unvereinbar ist.
Es gilt daher nicht nur unter schwierigen Bedingungen Beweise zu sammeln, sondern es gilt noch viel mehr, diese auch genauestens auf deren Authentizität zu prüfen, bevor sie prozesstechnisch gesichert werden können, damit sie auch in einem zukünftigen Gerichtsverfahren standhalten.
Um diese Risiken zu minimieren, wäre es meiner Meinung nach von großem Vorteil, wenn die mit einem sehr weitläufigen Ermittlungsermessen ausgestattete Anklagebehörde des IStGH, sich auf einige wenige, zeitlich und örtlich genau definierte Fakten beschränken würde, bei denen offensichtlich Völkerrechtsverbrechen begangen worden sind. Ich denke dabei etwa an das Massaker von Butscha, an die Bombardierung des Kinderkrankenhauses von Mariupol, an die Zerstörung durch Bombardierung von zivilen Infrastrukturen. Diese sollten genau und im vollen Umfang ermittelt und die Ergebnisse den Richtern und Richterinnen der Voruntersuchungskammer (Pre-trial Chamber) des IStGH vorgelegt werden.
Es gilt nämlich der verständlichen, aber gefährlichen Verlockung zu widerstehen, alle und jedes Völkerrechtsverbrechen zu verfolgen und aufklären zu wollen. Denn damit ist das Risiko verbunden, am Ende nichts zu ermitteln und der „mission“ des Gerichtes nicht gerecht zu werden. Diese besteht nämlich nicht darin „Geschichte zu schreiben“, sondern die Verantwortlichen von Völkerrechtsverbrechen zur Rechenschaft zu ziehen oder, wie es wiederum die Präambel ausdrückt, „der Straflosigkeit der Täter ein Ende zu setzen“.
Was den oder die mutmaßlichen Täter betrifft, so ist es relativ einfach, diesen oder diese im Zusammenhang mit den in der Ukraine stattfindenden Ermittlungen ausfindig zu machen, im Gegensatz zu den bisherigen Ermittlungen, bei denen die Beweisführung von der Tat hinauf zu den dafür politischen und militärischen Verantwortungsspitzen äußerst schwierig bis unmöglich war. Die vielen öffentlichen Erklärungen und Stellungnahmen, die der russische Präsident, dessen Außenminister, Verteidigungsminister und deren Pressesprecher in den letzten Monaten zum Ukraine Konflikt abgegeben haben, sind juristisch nämlich nichts anderes als außergerichtliche Geständnisse und fallen eindeutig in die von den Artikeln 25 und 28 vorgesehene und geregelte individuelle und militärische strafrechtliche Verantwortlichkeit (vgl. Sommavilla/Pflügl 2022).
Artikel 25 RS – Individuelle strafrechtliche Verantwortlichkeit „(1) Der Gerichtshof hat aufgrund dieses Statuts Gerichtsbarkeit über natürliche Personen. (2) Wer ein der Gerichtsbarkeit des Gerichtshofs unterliegendes Verbrechen begeht, ist dafür in Übereinstimmung mit diesem Statut individuell verantwortlich und strafbar. (3) In Übereinstimmung mit diesem Statut ist für ein der Gerichtsbarkeit des Gerichtshofs unterliegendes Verbrechen strafrechtlich verantwortlich und strafbar, wer
a) ein solches Verbrechen selbst, gemeinschaftlich mit einem anderen oder durch einen anderen begeht, gleichviel, ob der andere strafrechtlich verantwortlich ist;
b) die Begehung eines solchen Verbrechens, das tatsächlich vollendet oder versucht wird, anordnet, dazu auffordert oder dazu anstiftet;
c) zur Erleichterung eines solchen Verbrechens Beihilfe oder sonstige Unterstützung bei seiner Begehung oder versuchten Begehung leistet, einschließlich der Bereitstellung der Mittel für die Begehung;
d) auf sonstige Weise zur Begehung oder versuchten Begehung eines solchen Verbrechens durch eine mit einem gemeinsamen Ziel handelnde Gruppe von Personen beiträgt. Ein derartiger Beitrag muss vorsätzlich sein und entweder i) mit dem Ziel geleistet werden, die kriminelle Tätigkeit oder die strafbare Absicht der Gruppe zu fördern, soweit sich diese auf die Begehung eines der Gerichtsbarkeit des Gerichtshofs unterliegenden Verbrechens beziehen, oder ii) in Kenntnis des Vorsatzes der Gruppe, das Verbrechen zu begehen, geleistet werden;
e) in Bezug auf das Verbrechen des Völkermords andere unmittelbar und öffentlich zur Begehung von Völkermord aufstachelt;
f) versucht, ein solches Verbrechen zu begehen, indem er eine Handlung vornimmt, die einen wesentlichen Schritt zum Beginn seiner Ausführung darstellt, wobei es jedoch aufgrund von Umständen, die vom Willen des Täters unabhängig sind, nicht zur Tatausführung kommt. Wer jedoch die weitere Ausführung des Verbrechens aufgibt oder dessen Vollendung auf andere Weise verhindert, ist aufgrund dieses Statuts für den Versuch des Verbrechens nicht strafbar, wenn er das strafbare Ziel vollständig und freiwillig aufgegeben hat.“
Artikel 28 RS – Verantwortlichkeit militärischer Befehlshaber und anderer Vorgesetzter – „Neben anderen Gründen für die strafrechtliche Verantwortlichkeit aufgrund dieses Statuts für der Gerichtsbarkeit des Gerichtshofs unterliegende Verbrechen gilt folgendes:
a) Ein militärischer Befehlshaber oder eine tatsächlich als militärischer Befehlshaber handelnde Person ist strafrechtlich verantwortlich für der Gerichtsbarkeit des Gerichtshofs unterliegende Verbrechen, die von Truppen unter seiner oder ihrer tatsächlichen Befehls- beziehungsweise Führungsgewalt und Kontrolle als Folge seines oder ihres Versäumnisses begangen wurden, eine ordnungsgemäße Kontrolle über diese Truppen auszuüben, wenn (i) der betreffende militärische Befehlshaber oder die betreffende Person wusste oder aufgrund der zu der Zeit gegebenen Umstände hätte wissen müssen, dass die Truppen diese Verbrechen begingen oder zu begehen im Begriff waren, und (ii) der betreffende militärische Befehlshaber oder die betreffende Person nicht alle in seiner oder ihrer Macht stehenden erforderlichen und angemessenen Maßnahmen ergriff, um ihre Begehung zu verhindern oder zu unterbinden oder die Angelegenheit den zuständigen Behörden zur Untersuchung und Strafverfolgung vorzulegen.
b) In Bezug auf unter Buchstabe a) nicht beschriebene Vorgesetzten- und Untergebenenverhältnisse ist ein Vorgesetzter strafrechtlich verantwortlich für der Gerichtsbarkeit des Gerichtshofs unterliegende Verbrechen, die von Untergebenen unter seiner tatsächlichen Führungsgewalt und Kontrolle als Folge seines Versäumnisses begangen wurden, eine ordnungsgemäße Kontrolle über diese Untergebenen auszuüben, wenn (i) der Vorgesetzte entweder wusste, dass die Untergebenen solche Verbrechen begingen oder zu begehen im Begriff waren, oder eindeutig darauf hinweisende Informationen bewusst außeracht ließ; (ii) die Verbrechen Tätigkeiten betrafen, die unter die tatsächliche Verantwortung und Kontrolle des Vorgesetzten fielen, und (iii) der Vorgesetzte nicht alle in seiner Macht stehenden erforderlichen und angemessenen Maßnahmen ergriff, um ihre Begehung zu verhindern oder zu unterbinden oder die Angelegenheit den zuständigen Behörden zur Untersuchung und Strafverfolgung vorzulegen.“
5. ... und dann?
Was aber, wenn die Ermittlungen so weit fortgeschritten als auch gesichert sind, dass die Anklagebehörde in der Lage ist, an die Voruntersuchungskammer (Pre-trial Chamber) des IStGH einen oder mehrere Anträge zum Erlass von Haftbefehlen zu stellen?
Es besteht kein Hindernis für die Kammer den oder die Anträge und die vorgelegten Beweismittel zu evaluieren und einen oder mehrere Haftbefehle zu erlassen, sollten die vorgelegten Beweismittel schlüssig sein, sei es in Bezug auf die mutmaßlichen Verbrechen, sei es in Bezug auf die Beschuldigten.
Problematisch, ja aus heutiger Sicht schier unmöglich wird aber deren Vollstreckung sein. Der IStGH verfügt nämlich über keine eigene Vollstreckungsbehörde und ist somit auf die Kooperation der Staaten angewiesen.
Diese ist zweierlei: zum einen ist die Zusammenarbeit mit dem Gericht für die 123 Vertragsstaaten zwingend (Art. 86 RS), zum anderen auf der Basis der „diplomtischen Höflichkeit“, zwar nicht zwingend, aber immer möglich.
Artikel 86 RS – Allgemeine Verpflichtung zur Zusammenarbeit – „Die Vertragsstaaten arbeiten nach Maßgabe dieses Statuts bei den Ermittlungen von der Gerichtsbarkeit des Gerichtshofs unterliegenden Verbrechen und bei deren strafrechtlicher Verfolgung uneingeschränkt mit dem Gerichtshof zusammen“.
Dies alles natürlich vorausgesetzt, dass die ranghohen Politiker/-innen und Angehörigen der Streitkräfte, auf die ein Haftbefehl des Internationale Strafgerichtes ausgestellt ist, ins Ausland reisen. Dass diese bei der jetzigen politischen Konstellation mit dem Gericht zusammenarbeiten, ist natürlich auszuschließen.
Eine ähnlich ablehnende Haltung ist natürlich auch von Seiten der ukrainischen Behörden zu erwarten, sollten gerichtliche Maßnahmen auch ukrainische Verantwortliche in Politik oder Militär betreffen.
Das Gerichtsverfahren vor dem IStGH kann somit höchstens bis zur Anklageerhebung (Confirmation of charges before trial) gelangen, um dann, vor Beginn des Hauptverfahrens, ausgesetzt zu werden, zumal dafür die Anwesenheit des oder der Angeklagten zwingend notwendig ist („The accused shall be present during the trial”).
Artikel 61 RS – Bestätigung der Anklage vor dem Hauptverfahren „(2) Die Vorverfahrenskammer kann auf Ersuchen des Anklägers oder aus eigener Initiative in Abwesenheit des Angeschuldigten eine mündliche Verhandlung abhalten, um die Anklagepunkte zu bestätigen, die der Ankläger zum Gegenstand des Hauptverfahrens zu machen beabsichtigt“.
Artikel 63 RS – Verhandlung in Anwesenheit des Angeklagten „(1) Der Angeklagte hat während der Verhandlung anwesend zu sein“.
Das Gericht kann sich dann nur mehr darauf beschränken die Bewegungen derer, die nunmehr für die internationale Justiz als Flüchtige gelten, zu verfolgen. Somit genießen diese nur mehr eine eingeschränkte Reisefreiheit und müssen stets mit Verhaftung und Überstellung nach Den Haag rechnen, sollten sie ins Ausland reisen.
Ein Beispiel dafür ist der ehemalige Präsident des Sudan, Omar Al-Bashir, gegen den die Voruntersuchungskammer des IStGH zwei Haftbefehle wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Völkermord im Zusammenhang mit dem Bürgerkrieg im Darfur erlassen hatte. Als zuständiger Richter der Kammer habe ich Al-Bashir jahrelang auf seinen (sehr wenigen) Auslandsreisen „verfolgt“. Er wurde zwar, solange er im Amt war, nicht verhaftet und nach Den Haag ausgeliefert, war aber im Ausland zunehmend als Last erachtet und im Inland immer mehr politisch geschwächt, bis er schließlich gestürzt und inhaftiert wurde. Seither verhandelt der Sudan mit dem Gerichtshof um die Auslieferung seines ehemaligen Präsidenten (vgl. Geets/Tschinderle 2022).
Ein ähnliches Szenario könnte ich mir auch in Bezug auf Putin vorstellen.
6. Schlussfolgerung: Eine Bilanz aus Licht und Schatten
Ich bin mir völlig bewusst, dass das Bild des Internationalen Strafgerichtshofes, im Allgemeinen, und im Zusammenhang mit dem Aggressionskrieg Russlands gegen die Ukraine aus Licht und Schatten besteht, also einer Art Achterbahnfahrt gleichkommt, einer Aufeinanderfolge von Höhen und Tiefen, von Hoffnungen und Enttäuschungen, von Optimismus und Pessimismus.
Ich bin mir dessen auch deshalb bewusst, weil ich mich selbst, elf Jahre lang, zwischen hoffnungsvoller Euphorie und bitterer Niedergeschlagenheit bewegt habe. Zum einen das Bewusstsein einer Institution zu dienen, die, in Synergie mit anderen internationalen Playern, ein enormes Potenzial hat, einen Beitrag zu Frieden und Gerechtigkeit zu leisten, zum anderen die Erkenntnis, dass die Ausschöpfung dieses Potenzials politisch nicht unbedingt gewollt ist.
Nichtsdestotrotz hatte ich nie Zweifel, dass die Höhen, die Hoffnungen, der Optimismus und somit das Licht gegenüber den Schattenseiten überwiegen. Allein schon die Tatsache, dass es den Internationalen Strafgerichthof gibt, was noch wenige Jahre vor seiner Gründung undenkbar war, stellt einen enormen Wertzuwachs für die internationale Staatengemeinschaft dar. Nun sind es 20 Jahre seit seines in Krafttretens (vgl. Bädorf 2022). Das Römische Statut und somit der Internationale Strafgerichtshof ist am 1. Juli 2002 mit der Ratifizierung des Statutes seitens des sechzigsten Staates (Art. 126 RS) in Kraft getreten. Trotz aller Probleme, mit denen dieser behaftet ist, ist es eine existierende Institution. Schließlich kann nur etwas Existierendes kritisiert, vor allem aber weiterentwickelt und im Dienste der Menschheit verbessert werden.
Und wenn ein Licht nach dem Tunnel ersichtbar ist, so sehe ich dieses Licht darin, dass die „Internationale Staatengemeinschaft” aus diesem Tunnel herausfindet mit der wiedergewonnenen Erkenntnis, dass Abschottung, Souvränismus, Nationalismus und Autoritarismus keine Zukunft haben und somit wieder auf die Straße des Multikulturalismus, der internationalen Zusammenarbeit, der Solidarität und einer geregelten Freiheit zurückkehrt. In dem Geiste, der um die Jahrtausendwende geherrscht hat und der in der Präambel zum Römischen Statut seinen Niederschlag gefunden hat, ohne den der Internationale Staatsgerichtshof undenkbar gewesen wäre.
7. Nachtrag: der Haftbefehl gegen Vladimir Putin und gegen Alekseyevna Lvova-Belov
Nun ist genau das eingetreten, was ich mir beim Abfassen dieses Beitrags zu Jahresbeginn erwartet habe: die erste Voruntersuchungskammer (Pre-trial Chamber I) des internationalen Strafgerichtshofes hat am 17. März einen Haftbefehl gegen den Präsidenten der Russischen Föderation Vladimir Putin und gegen Alekseyevna Lvova-Belov, Präsidialkommisarin für Kinderrechte erlassen. Die Anklage lautet auf das Kriegsverbrechen der, wie es im Juristendeutsch heißt, „rechtswidrigen Überführung eines Teiles der Bevölkerung des besetzten Gebietes aus diesem Gebiet“ Kurz und verständlich: Zwangsdeportation von Kindern.
Der IStGH hat also genau das getan, wofür er 1998 von der internationalen Staatengemeinschaft gegründet wurde: „die schwersten Verbrechen, welche die internationale Gemeinschaft als Ganzes berühren“, zu ermitteln und zu verfolgen. Die Anklagebehörde hatte Ermittlungen eingeleitet, Monate lang Beweise gesammelt, gesichert und Mitte Februar einen Haftbefehl beantragt. Die Richter haben, nach Prüfung der Beweislage, dem Antrag stattgegeben und den Haftbefehl erlassen.
Wenn die Kritik vor dem 17. März dahingehend war, dass der IStGH, wenn nicht untätig, so doch sehr langsam arbeite, zumal ja jeder selbsternannte „Experte“ zu wissen glaubte, dass Putin sich aller erdenklichen Völkerrechtverbrechen schuldig gemacht hatte, so geht die Kritik an den Gerichtshof seit dem 17. März in die entgegengesetzte Richtung.
Fragen wie, warum gerade jetzt? Warum am selben Tag, als der chinesische Präsident Xi Jinping auf Staatsbesuch nach Moskau kommt? Ist der Haftbefehl nicht möglichen Friedensgesprächen hinderlich? De-legitimiert sich der Gerichtshof nicht selbst, wenn er einen nicht durchführbaren Haftbefehl erlässt? Warum nur Zwangsdeportation von Kindern? Aber auch Kommentare, die den Haftbefehl nur als ein Symbol verstanden wissen wollen oder nihilistisch mit „da kommt ja sowieso nicht heraus“ abtun, sind auf der Tagesordnung seitens derselben „Experten“.
Ich möchte hier nur einige dieser Punkte aufgreifen und widerlegen/erklären.
Es stimmt natürlich, dass diese Haftbefehle keine unmittelbaren juristischen Auswirkungen haben, da es unmöglich ist, diese durchzuführen, also Putin und Lvova-Belov zu verhaften und vor Gericht zu stellen. Zum einen hat der IStGH keine eigene Exekutive und ist somit zur Durchführung seiner Verordnungen auf die Mitarbeit der Staaten angewiesen, zum anderen erkennt Russland den IStGH nicht an.
Also doch nur Symbolik?
Nein. Ich bin der Überzeugung, dass der Haftbefehl gegen Putin weit mehr als nur ein blasses, unnützes Symbol darstellt. Ganz im Gegenteil. Er hat sowohl unmittelbare als auch mittelbare Auswirkungen.
Unmittelbar stellt dieser Haftbefehl die erste, auf höchster gerichtlicher Ebene ausgesprochene juristische „Zertifizierung“ dar, dass es sich beim Präsidenten Russlands um einen Kriegsverbrecher handelt. Dabei schliesst sich dieser Haftbefehl auch nahtlos der politischen Ächtung der überwältigenden Mehrheit der internationalen Staatengemeinschaft in zwei Abstimmungen der UN Vollversammlung und den ökonomischen Sanktionen an. Ein wichtiger Beitrag zur internationalen Schwächung Putins also.
Eine weitere, sofortige Auswirkung ist die Einschränkung seiner außenpolitischen und persönlichen Bewegungsfreiheit. Putin muss sich von nun an genau umsehen, wohin er sich bewegt, falls er ins Ausland fährt. Nicht nur haben die 123 Staaten, die den IStGH anerkennen, die juristische Verpflichtung, Putin zu verhaften, sondern auch jene 70 Staaten, die den IStGH (noch) nicht anerkannt haben, könnten ihn auf Grund der sogenannten „diplomatischen Höflichkeit“, verhaften und nach Den Haag ausliefern.
Darüber hinaus stellt der Haftbefehl sicher auch eine langsam zermürbende Schwächung seiner Macht innerhalb seines eigenen, Kreml internen Regierungsumfeldes dar. Ich kann mir nämlich nicht vorstellen, dass Putin ausschließlich von loyalen, treuen und selbstlosen Unterstützer/-innen umgeben ist und dass es keinen unterirdisch schwelenden Machtkampf gibt.
Die Geschichte spricht diesbezüglich Bände.
Die Frage, ob Putin sich das alles so vorgestellt hat, als er am 24. Februar 2022 in die Ukraine einmarschiert ist, sei dahingestellt.
Anmerkungen
9 Als Beweis dafür, dass der Krieg nicht am 24 Februar 2022 begonnen hat.
Literaturverzeichnis
Bädorf, Marc (2022), Kriegsverbrecher vor Gericht – Der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag, in: SWS R 2, 30.06.2022, https://swr.de/swr2/wissen/kriegsverbrecher-vor-gericht-der-internationale-strafgerichtshof-in-den-haag-swr2-wissen-2022 – 07-01 – 100.html (31.12.2022)
Geets, Siobhán/, Franziska (2022), Im Krieg ist eben doch nicht alles erlaubt, in: Profil, 12.03.2022, (31.12.2022)
Römisches Statut des Internationalen Strafgerichtshofs (1998), https://www.un.org/depts/german/internat
recht/roemstat1.html#P
Schaller, Christian (2019), »America First« – Wie Präsident Trump das Völkerrecht strapaziert, SWP Studie 27 (Stiftung Wissenschaft und Politik, Deutsches Institut für Internationale Politik und Sicherheit), Berlin, https://swp-berlin.org/publications/products/studien/2019S27_slr_WEB.pdf (10.01.2023)
Sommavilla, Fabian/Pflügl, Jakob (2022), Wie Putin für russische Kriegsverbrechen im Gefängnis landen könnte Analyse, in: Der Standard, 16.03.2022, https://derstandard.at/story/2000133969448/wie-putin-fuer-russische-kriegsverbrechen-im-gefaengnis-landen-koennte (31.12.2022)
Toosi, Nahal (2021), Biden lifts sanctions on International Criminal Court officials, in: Politico, 04.02.2021, https://politico.com/news/2021/04/02/icc-sanctions-reversed-biden-478731 (31.12.2022)