Siegfried Baur
Sprachen- und Schulpolitik in Südtirol:
ein „Unbehagen“ ganz besonderer Art
Nur bei Italienischsprachigen oder ganz einfach bei
Bürgern und Bürgerinnen?
Quello che mi meraviglia, è che non hai contatto
con i locali. Bene o male a Bolzano uno che vuole, può parlare il tedesco.
„Sì, sì. Però non …a parte le discoteche dove ci sono tedeschi, al Juwel ci sono più tedeschi. Contatti non ci sono e se ci sono, sono brutti. Proprio no. Poi soprattutto se ci si trova in discoteca, si fa gruppo … non è proprio un luogo dove … Già di suo non è fatto per comunicare, quindi. E altri luoghi no, perché i locali sono tutti divisi in quelli italiani e quelli tedeschi.“1 (Italienische Schülerin, Bozen)
Für Agnes Larcher † 21. 9. 2012
1. Das ganz besondere Unbehagen
Das „Unbehagen“ oder der „disagio“ der Italiener, über den schon seit Jahrzehnten gesprochen und geschrieben wird und der als das Ausmaß der subjektiv empfundenen relativen Benachteiligung von Individuen oder Sozialgruppen im Vergleich mit anderen Gruppen oder Individuen bezeichnet werden kann, trifft in diesem gesellschaftlichen Bereich der Sprachen- und Schulpolitik so nicht zu.
Dieses Unbehagen wird in der Sozialpsychologie als „relative Deprivation“ bezeichnet:
„Relative Deprivation entsteht aus einer wahrgenommenen Diskrepanz zwischen dem, was man hat, und dem, wozu man sich berechtigt fühlt. Diese Diskrepanz kann aus dem Vergleich entweder mit der eigenen Gruppe in der Vergangenheit oder – häufiger – mit anderen Gruppen entstehen. Verursachen diese Vergleiche eine Kluft zwischen Erreichtem und Erhofftem, fühlen sich Menschen häufig ausreichend motiviert, sozialen Wandel zu initiieren. Dies ist besonders dann der Fall, wie Walker & Pettigrew (1984) behaupten, wenn die Vergleiche zwischen Gruppen vorgenommen werden und nicht zwischen dem Selbst und den anderen“ (Brown 1990, 428–429).
Ganz abgesehen davon, dass ein politisches oder soziales Unbehagen nicht vorrangig mit einer gegebenen objektiven Benachteiligung zusammenhängt bzw. zusammenhängen muss, sondern mit dem Vergleich der subjektiven oder kollektiven Wahrnehmung des Istzustandes mit den Erwartungen, die ein Individuum oder ein Kollektiv aufgrund seiner Erfahrungen oder aufgrund seiner Orientierung an einer für ihn maßgebenden Bezugsgruppe für angemessen und gerechtfertigt hält, tritt im Bereich der Sprachen- und Schulpolitik in Südtirol bei den beiden größten Sprachgruppen ein „umgekehrtes Unbehagen“ auf. Man beklagt nicht subjektiv oder kollektiv einen Mangel oder etwas, was einem vorenthalten wird, man „beklagt“ vielmehr, oder besser gesagt, man beklagte lange, und tut es teilweise auch heute noch, die Verpflichtung, eine zweite Sprache lernen zu müssen, Deutsch für die Italienischsprechenden und Italienisch für die Deutschsprechenden. Man klagt nicht darüber, dass an den Schulen seit mehreren Jahren Englisch gelernt werden muss, sondern man klagt über den Zweitsprachunterricht.
Folgendes Zitat aus einem laufenden Forschungsprojekt2 beleuchtet die deutschsprachige Seite:
„Ich bin einfach ein Südtiroler und eine italienische Fahne ist für mich…ich kann sie nicht anschauen … ich bin nicht fanatisch … Mein großer Sohn geht Mittelschule und kann nicht Italienisch und für mich ist das ein Problem. Und er will das nicht, nicht weil er nicht ein Walscher sein will, sondern weil er nicht will, und ich muss ihm zu verstehen geben, dass das bei uns wichtig ist. Das ist das Wichtigste. Englisch können wir noch dazu lernen, aber Italienisch ist die zweitwichtigste Sprache, die wir kennen müssen. Ich fühle mich halt als Deutschsprachiger und in Italien schon als Minderheit. In Südtirol, das lassen wir dahin gestellt, da werden sich die Italiener als Minderheit fühlen.“ (Mann, 39 Jahre, Unterland)
Bei den Italienischsprachigen gibt es ambivalente Haltungen (Zitate aus demselben Forschungsprojekt):
„Questo aspetto c’è molto, la paura dell’italiano che non vuole, che rifiuta il tedesco. Io lo vedo anche per il lavoro da me. Fortunatamente da quando ho conosciuto mia moglie ho migliorato il mio tedesco e quindi mi rivolgo a loro in tedesco e subito tutto si scoglie.“ (Mann, 39 Jahre, Unterland)
„Questo fatto di non voler usare la lingua italiana lo riscontro soprattutto nella generazione più giovane, come studenti universitari e ragazzi da poco usciti dalle superiori. A me è capitata una cosa assurda: alcuni anni fa ho frequentato un corso di formazione per insegnanti d’inglese all’Università di Bressanone – bellissimo perché eravamo persone di madrelingua italiana e tedesca. Durante i lavori di gruppo io non capivo bene i ragazzi che parlavano in tedesco ed i ragazzi – circa ventenni – non capivano nulla quando io parlavo in italiano. Loro che sono nati in una zona bilingue, dovrebbero essere incentivati a parlare tutte e due le lingue.“ (Frau, 49 Jahre, Brunecker Gegend)
Eine besondere Erwähnung verdient in diesem Zusammenhang die Einführung der Zweitsprache Deutsch als Maturafach an italienischen Oberschulen. Bereits bei der Genehmigung der ersten Lehrpläne für Deutsch als Zweitsprache durch ein Landesgesetz im Jahre 1978 wurde Deutsch bei der Maturaprüfung an italienischen Oberschulen vorgesehen. Es sollte aber noch 20 Jahre dauern, bis diese Bestimmung Wirklichkeit werden sollte. Pichler schreibt dazu, dass sich zwanzig Jahre lang heftiger Widerstand dagegen regte und dass erst mit der Maturareform (Staatsgesetz Nr. 425) von 1997 Deutsch Maturafach an italienischen Oberschulen wurde (vgl. Pichler 2009, 306)3.
Dieses „Klagen“ und diese Widerstände haben eigenartige indirekte Zielsetzungen und orientieren sich an Bereichen, die eine fast stellvertretende Funktion haben und die man auch als „Verkehrung in das Gegenteil“ (vgl. Freud 1936/2012) bezeichnen könnte. Anstelle der direkten Abwehr, die nur mehr selten ausgesprochen wird, „Perché dobbiamo imparare il tedesco, se siamo in Italia?“ oder „Wir brauchen das ‚Walsche‘ nicht, wir werden sowieso bald ein Freistaat sein!“, treten häufig Selbstanklagen über die eigene schlechte Kompetenz in der Zweitsprache. Als „Verkehrung in das Gegenteil“4 könnten auch die zumindest bei den letzten Landtagswahlen abgegebenen italienischen Stimmen für die Südtiroler Volkspartei bezeichnet werden, und zwar als eine Art Verzicht auf eine eigene ethnische Positionierung mit der Hoffnung der Teilhabe am Territorium. Lesbar wäre diese Entscheidung aus einer ethnopsychoanalytischen Sicht auch als eine Art der Selbstbestrafung, Südtirol zur Zeit des Faschismus und auch nachher als „innere Kolonie“ behandelt zu haben.
Dabei kommt es notwendigerweise zu zahlreichen Rationalisierungen5 (vgl. Freud 1936/2012), wie z. B. dass die didaktische Qualität der Lehrpersonen und des Unterrichtes schlecht sei, dass der Dialekt der deutschsprachigen SüdtirolerInnen das Erlernen des Deutschen behindere, wenn nicht gar verunmögliche, dass es nicht möglich sei Kontakte mit ItalienerInnen bzw. Deutschen hier im Lande aufzubauen usw.
Hinter diesen Rationalisierungen, die den Individuen selbst schaden, verbergen sich tiefe Verletzungen, die nicht bearbeitet wurden und die immer noch im kollektiven Gedächtnis der Italienisch- wie Deutschsprachigen vorhanden sind und auch an die neuen Generationen weitergegeben werden. Deutsch- und Italienischlernen als Zweitsprache wird ganz offensichtlich von vielen Schülern und Schülerinnen und von Teilen der Südtiroler Gesellschaft als Zumutung und Strafe empfunden. Dies äußert sich in der fast schon panischen Angst, das Patentino bestehen zu müssen, um überhaupt eine Arbeit zu finden, obwohl die offizielle Zweisprachigkeitsprüfung nur für den öffentlichen Dienst erforderlich ist, der aber, wie später dargelegt werden wird, eine der Hauptdomänen der italienischen Bevölkerung Südtirols bis 1972 war. Die nachfolgenden Aussagen aus den zahlreichen Interviews mit deutsch- und italienischsprachigen MaturantenInnen des Schuljahres 2008/09, die im Rahmen des von Siegfried Baur und Dietmar Larcher geleiteten Forschungsprojektes mit dem Arbeitstitel „Wie man in Südtirol zwei-und mehrsprachig wird oder einsprachig bleibt“6 durchgeführt worden sind, belegen dieses zwanghafte Zweitsprachenlernen ohne Freude überdeutlich:
„Io sono stata la prima figlia di mia mamma e lei era tanto che non studiava più il tedesco e dopo la scuola aveva mollato e lavorava all’Alimarket non commessa, ma in ufficio. E lì non serviva il tedesco, poi dopo che sono nata, insomma, finita la maternità ha fatto domanda in Provincia, le serviva il Patentino, quindi ha iniziato a fare dei corsi, l’ha preso appunto e per quello adesso lavora lì. Quindi da lì che mi diceva ‚il tedesco è importante‘ e magari è stata lei la prima ad insegnarmi qualche parolina, ma giusto qualche parolina, anche perché lei non lo sa, e poi all’asilo c’è stata questa opportunità di fare questo corso in tedesco con la maestra e mia madre mi ha iscritto.“ (Schülerin, Bozen)
„È una lingua che comunque devi imparare, perché se vuoi lavorare a Bolzano devi avere il patentino. E affrontare un patentino C, D, no, C, B, dei miei compagni non ci sono ancora riusciti e neanche io non l’ho ancora fatto. Però, è una lingua comunque, è difficile come qualsiasi lingua quindi se la vuoi imparare bene devi iniziare dall’inizio.“ (Schülerin, Bozen)
„Ja. Ich denke mir oft, viele sagen ja, die Zweisprachigkeitsprüfung ist total wichtig, dass man eine Arbeit bekommt. Und dann denk ich mir oft, wenn ich beim Italienischlernen bin: ‚Das kann ich jetzt wieder nicht, und das andere auch nicht, und die Prüfung schaff ich nie‘ und da ist der Druck sicher da.“ (Schüler, Sand in Taufers)
Die weiter oben kurz dargelegten kollektiven Mechanismen beginnen sich bald nach 1972 zu zeigen, da das neue Autonomiestatut für die italienische Sprachgruppe auf lokaler politisch-administrativer Ebene de facto den Übergang von einer Mehrheits- in eine Minderheitsposition mit sich bringt. Als Folge dieser neuen Gesamtsituation ist bei der italienischen Sprachgruppe die individuelle und teilweise kollektive Fantasie entstanden, dass das „Land der Mehrheit“ das „Land der neuen Minderheit“ auffressen könnte.
Es ist klar, dass die deutsche Sprachgruppe weiterhin Minderheit im nationalen Kontext bleibt. Aufgrund der weitreichenden primären Kompetenzen des Landtages, die Südtirol in vielen Bereichen zu einer „Festung“ innerhalb des nationalen Territoriums und innerhalb der nationalen Mehrheitsbevölkerung machen, kann allerdings das Problem der zahlenmäßigen Mehrheit einer Sprachgruppe im Landtag – und noch dazu einer einzigen Partei – nicht als unproblematisch hingestellt werden (vgl. Baur et al. 2009a, 17–27). „Erst im modernen parlamentarischen Staat wird Minderheit begrifflich auch zur Minderzahl. Das Grundprinzip der zahlenmäßigen Mehrheit wurde zum Legitimationsprinzip politischer Entscheidungen. Damit wird die zahlenmäßige Mehrheit ex definitione zu einer dominanten Bevölkerungsgruppe“ (Reiterer 1996, 32). Dazu führt Reiterer weiter aus: „Minderheiten sind definitorisch Gruppen minderer Machtausstattung. Einer Minderheit anzugehören bedeutet, dass man mit verminderten Chancen ins Leben geht. Nichtdiskriminierung als Grundprinzip des Individualschutzes reicht nicht aus, dieses strukturelle Gefüge der Ungleichheit zu beheben. Diskriminierung ist hier automatisch eingebaut“ (Reiterer 1996, 44).
Es gibt selbstverständlich in Südtirol einen Rahmen der Rechtsgleichheit. Aber dieser Rahmen der Rechtsgleichheit ist für die Einzelperson je nach Sprachgruppenzugehörigkeit weiter oder enger gesteckt. Das Musterbeispiel dafür ist die Proporzbestimmung, d. h. die Zuweisung öffentlicher Arbeitsplätze nach der Stärke der Sprachgruppen, die Notwendigkeit des Nachweises der Kenntnis beider Sprachen sowie eine diesem Verhältnis entsprechende Verteilung der Geldmittel in bestimmten sozialen Bereichen (z. B. geförderter und sozialer Wohnbau). Diese Politik der Kompensation, diese im Statut verankerte Maßnahme der positiven Diskriminierung der deutschen Sprachgruppe als Minderheit im nationalen Kontext, ist der italienischen Sprachgruppe nie wirklich bewusst geworden und wurde von ihr auch kaum akzeptiert. Hier liegt der Ursprung für das immer wieder geäußerte und beschriebene Unbehagen der ItalienerInnen in Südtirol (disagio degli italiani). Es ist diese vom Autonomiestatut vorgesehene Regelung, die von den ItalienerInnen in Südtirol aus der Sicht ihrer Sprachgruppe zu Unrecht, aber aus der Sicht des einzelnen Bürgers, der einzelnen Bürgerin – gleich welcher Sprachgruppe – nicht so ganz zu Unrecht als Benachteiligung empfunden wird.
Dieses Gefühl der Benachteiligung hat sich verdichtet und findet sich auch heute noch. Zwei Zitate aus dem Forschungsprojekt an der Université Descartes in Paris deuten dies an:
„Ora vivo qui a […] da donna sposata, si può dire che vivo qui da sempre e devo dire che la convivenza funziona abbastanza bene. L’unica cosa con la quale io non mi trovo a mio agio è questa sovrapposizione di questa cultura tedesca che ci viene quasi … imposta.“ (Frau, 69 Jahre, Brunecker Gegend)
„È chiaro che il gruppo etnico italiano è quello che secondo me vive più bistrattato, è quello più debole. Ma è un momento storico perché fino agli anni sessanta il gruppo che ha sofferto di più era quello tedesco. Adesso hanno in mano sicuramente il potere economico in buona parte, una buona parte delle scelte politiche visto che hanno la maggioranza e vanno in questa direzione e portano anche a sforare, diciamo così, gli equilibri.“ (Mann, 41 Jahre, Meraner Gegend)
Der oben erwähnte individuelle Schaden kann an den Ergebnissen der „Kollipsistudie“ abgelesen werden, die von der EURAC in den Jahren 2007 bis 2008 durchgeführt worden ist und die Erhebung der Zweitsprachkompetenz der Abgänger der deutschen wie italienischen Oberschulen zum Ziele hatte. Die Daten wurden bereits 2009 der Öffentlichkeit vorgestellt und sind seit Kurzem veröffentlicht und zugänglich (vgl. Abel/Vettori/Forer, 2012).
Für eine detaillierte Darstellung dieses Schadens, den sich die Schüler und Schülerinnen der öffentlichen Schulen in unserem Lande „selbst“ zufügen, wenn auch weitgehend unbewusst, wird auf Kapitel 2.2 verwiesen.
Klargestellt werden muss aber, dass sich die Politiker der italienischen Sprachgruppen, allen voran der ehemalige Landeshauptmannstellvertreter Remo Ferretti von der Democrazia Cristiana, andere politische Oppositionskräfte im Südtiroler Landtag, die „Elternvereinigung für das Früherlernen der zweiten Sprache“ der italienischen Kindergärten und Grundschulen, die Schulführungskräfte der italienischen Schulen schon seit den 80er-Jahren intensiv für eine Förderung und Potenzierung des Zweitsprachenunterrichtes Deutsch an den italienischen Kindergärten, Grund- und Sekundarschulen eingesetzt haben. Hervorzuheben ist auch der ständige Einsatz des „Amtes für Zweisprachigkeit und Förderung der Zweitsprachen“ des Italienischen Kulturassessorates unter der Leitung von Rosa Rita Pezzei (vgl. Baur et al. 2009c, 243–361).
Dass die Sprachkompetenzen der Maturanten und Maturantinnen der italienischsprachigen Schulen im Jahre 2012 noch bei sehr vielen Schülern und Schülerinnen nicht das Niveau B2 des europäischen Referenzrahmens erreichen, das nun auch die neuen Rahmenrichtlinien für die Sekundarstufe II vorsehen, hängt von anderen Aspekten ab, und zwar von jenen, die auch die Zweitsprachkenntnisse der deutschsprachigen MaturantenInnen zunehmend absinken lassen. Dazu wird auf Kapitel 4 verwiesen.
2. Schulsystem und Sprachenkompetenzen in Südtirol
40 Jahre nach der Veröffentlichung des Zweiten Autonomiestatutes als Verfassungsgesetz mit Dekret des Präsidenten der Republik Nr. 670 vom 31. August 1972 präsentiert sich einer der zentralen Artikel, der Art. 19, der wesentliche strukturelle, sprachliche und verwaltungsrelevante Aspekte der Kindergärten sowie der Grund- und Sekundarschulen in Südtirol regelt, zwar immer noch in derselben Diktion, hat aber die Übereinstimmung mit der Wirklichkeit längst schon verloren.
2.1 Schulsystem in Südtirol
Artikel 19 des Zweiten Autonomiestatutes legt fest:
„In der Provinz Bozen wird der Unterricht in den Kindergärten, Grund- und Sekundarschulen in der Muttersprache der Schüler, das heißt in italienischer oder deutscher Sprache, von Lehrkräften erteilt, für welche die betreffende Sprache ebenfalls Muttersprache ist. In den Grundschulen, von der 2. oder 3. Klasse an, je nachdem, wie es mit Landesgesetz auf bindenden Vorschlag der betreffenden Sprachgruppe festgelegt wird, und in den Sekundarschulen ist der Unterricht der zweiten Sprache Pflicht; er wird von Lehrkräften erteilt, für die diese Sprache die Muttersprache ist.“
Eine relativ große Übereinstimmung mit der Diktion des Artikels 19 findet sich nur mehr in der öffentlichen Schule mit deutscher Unterrichtssprache, auch wenn dort, vor allem in urbanen Bereichen, eine relativ große Anzahl italienischer Kinder, die sich aus Gründen der Verordnungen über die Privacy nicht bestimmen lässt, Schulen und vor allem Kindergärten mit deutscher Unterrichtssprache besuchen.
Diese Entwicklung zeigte sich ab den 90er-Jahren stark an den Grundschulen mit deutscher Unterrichtssprache und an den deutschen Kindergärten, vor allem im urbanen Bereich und im Unterland, und wurde zu einer großen Herausforderung für Lehrpersonen und Kindergärtnerinnen, die immer versucht haben, mit dieser Heterogenität im Rahmen ihrer pädagogischen Professionalität pragmatisch umzugehen. Man versuchte zwar diese Entwicklung dadurch einzuschränken, dass man mit einer Durchführungsbestimmung zum Artikel 19 (D.P.R. 301/1988) festlegte, dass die Sprachkompetenzen der SchülerInnen keinen Einfluss auf die Unterrichtssprache der Schule haben könne. Diese Bestimmung wurde aber praktisch nie umgesetzt.
Einen weiteren starken Schub in Richtung Heterogenität erhielten alle Schulen im ausgehenden 20. Jahrhundert durch die Migrationsbewegung, die zuerst vor allem die Schulen mit italienischer Unterrichtssprache vor große pädagogische und didaktische Herausforderungen stellte, aber nun auch zunehmend die deutschsprachigen Schulen betrifft.
Der zweite Abschnitt des Artikel 19 beschäftigt sich mit dem verpflichtenden Zweitsprachenunterricht Italienisch an deutschen und Deutsch an italienischen Schulen. In den Schulen mit deutscher und italienischer Unterrichtssprache erfolgt der verpflichtende Unterricht in der Zweitsprache Deutsch bzw. Italienisch in einem unterschiedlichen Stundenausmaße und erreicht am Ende der Sekundarstufe II ein Ausmaß von circa 1.800 Stunden.
Auch hinsichtlich der Bestimmungen zum Zweitsprachunterricht gibt es heute, vor allem an italienischen Schulen, keine große Übereinstimmung mehr mit der Diktion des Artikel 19.
Der Zweitsprachunterricht wurde in den ersten Klassen der italienischen Grundschulen bereits ab 1988 versuchsweise eingeführt und dann mit dem „Offenen Curriculum für den Zweitsprachenunterricht an den italienischen Pflichtschulen“ 1994 im Ausmaße von sechs Wochenstunden mit Landesgesetz Nr. 2 im Jahre 1994 genehmigt. Erst zehn Jahre später, im Jahre 2004, genehmigte ein Landesgesetz die Einführung des Zweitsprachenunterrichtes Italienisch an deutschen Grundschulen im Ausmaße einer verpflichtenden und einer optionalen Wochenstunde.
Dagegen legte die Union für Südtirol beim Verfassungsgerichtshof Rekurs ein7. Der Verfassungsgerichtshof entschied mit Urteil Nr. 430 vom 06.12.2006, dass die Einführung des Zweitsprachenunterrichtes ab der 1. Grundschulklasse dem Artikel 19 des Autonomiestatutes nicht widerspricht.
Die höchstrichterliche Entscheidung bestätigte, dass der Artikel 19 durchaus interpretiert werden kann und definitiv eine Überzeugung des Verbandes der „Elternvereinigung für das Früherlernen der zweiten Sprache“ und die Begründetheit der Kampagne „Zweisprachig ist besser – Bilingue è meglio“, die Alexander Langer im Februar 1980 in der „Südtiroler Volkszeitung“ startete.
„Im Artikel, mit dem die Kampagne vorgestellt wurde, vertrat Langer den Standpunkt, dass die Menschen ein Recht darauf hätten, zweisprachig zu werden, und dass die vielen Schnellkurse und Aufenthalte im Ausland nicht dazu dienten, zweisprachig zu werden[…]. Das Recht auf Zweisprachigkeit dürfe aber nicht mit der zweiten Sprache der bürokratischen Verwaltungsakte verwechselt werden, die für den Erhalt des Patentino, des Zweisprachigkeitsnachweises, notwendig sei; es sei vielmehr als Instrument der Verständigung in einer toleranteren, mehrsprachigen Gesellschaft und als Gegengift gegen die wachsende Trennung zwischen den Sprachgruppen zu sehen. Die Erfüllung einer solchen Aufgabe sei möglich, wenn auf geeignete Strukturen und auf einen außerordentlichen Einsatz zurückgegriffen werde: Es müsse ‚Pionierarbeit‘ geleistet werden […].“ (Mezzalira 2009, 278)
Das Ziel dieser Kampagne bringt Mezzalira so auf den Punkt:
„Der Einsatz galt einer Kultur breiter Zweisprachigkeit, die nach und nach auch die amtliche Zweisprachigkeitsprüfung überflüssig machen würde. Es handelte sich um sehr ehrgeizige Ziele, die zwar in eine radikale Alternative zum System eingebettet waren, aber dennoch nicht darin gefangen blieben. Sie trieben die Forschung für neue Zugänge zur Zweisprachigkeit voran und waren ein fruchtbarer Boden für viele, die in den folgenden Jahren zur Entwicklung neuer Bildungswege für den Zweitspracherwerb beitrugen.“ (Mezzalira 2009, 280)
Dass hier eine deutliche Kehrtwende in der Haltung zur deutschen Sprache der italienischsprachigen MitbürgerInnen des Landes zumindest ansatzweise zu Tage trat, lässt sich nicht verkennen. Das ständige Verbot eines erweiterten Zweitsprachunterrichtes an italienischen Kindergärten und Schulen, das Verbot, neue Wege in ergänzender und interpretatorischer Weise des Artikel 19 zu gehen, hatte bewirkt, wie Mezzalira schreibt, dass „die ‚Pflicht‘ zur zweiten Sprache in ein ‚Recht‘ auf Zweisprachigkeit“ (Mezzalira 2009, 277) umgepolt wurde, auch wenn aus Gründen, die noch auszuführen sind, diese Haltung nicht zu einer deutlichen und verbreiteten Steigerung der Zweitsprachkompetenz bei der italienischen Sprachgruppe geführt hat.
Eine noch größere Änderung zur Diktion des Artikels 19 des neuen Autonomiestatutes erfolgte aber durch die sogenannte „Potenzierung des Zweitsprachunterrichtes Deutsch“, die unter der Bezeichnung „Richtlinien für den Zweitsprachunterricht an den italienischen Schulen“ mit Beschluss der Landesregierung Nr. 5053 am 06.10.1997 genehmigt wurde.
Mezzalira umreißt diese neue Situation so:
„In den Richtlinien war von Möglichkeiten ‚sprachlicher Bereicherung‘ die Rede, die eine Erhöhung der Wochenstunden für das nun vorgesehene ‚instrumentale/vehikulare‘ Modell (Vermittlung von Inhalten einzelner Fächer und interdisziplinärer Themenbereiche in der zweiten Sprache) sowie auch die Schulversuche in den Kindergärten implizierten; darüber hinaus erhielten das interkulturelle Lernen, die realen Kommunikationssituationen und der kulturelle Austausch einen zentralen Stellenwert.“ (Mezzalira 2009, 295)
Die Richtlinien für die Förderung des Zweitsprachenunterrichts und das Landesgesetz Nr. 12/20008, das eine Reduzierung oder Erhöhung der Wochenstunden einzelner Fächer um maximal 15 Prozent ermöglichte, schafften die Voraussetzung, das Projekt „dreisprachige Sektionen“ mit Sach- Fachunterricht in deutscher und in englischer Sprache auch in der Primär- und Sekundarschule anzubieten.
Diese neue Möglichkeit fand starken Zuspruch bei den Eltern, sodass die Initiative in den folgenden zwölf Schuljahren alle italienischen Schulen Südtirols erfasste, in denen nun nahezu die Hälfte der Wochenstunden in deutscher Sprache unterrichtet wird bzw. im vorgesehenen Ausmaße die deutsche Sprache selbst.
2.2 Zweitsprachkompetenzen
Der bisherige Erfahrungswert, dass die Zweitsprachenkenntnisse Deutsch der MaturantenInnen der italienischen Schulen schlechter sind als die Zweitsprachenkenntnisse Italienisch der MaturantenInnen der deutschen Schulen, dass sie aber insgesamt gesehen nicht zufriedenstellend sind, wenn man die jahrzehntelangen Bemühungen im didaktischen Bereich, intensive und umfassende LehrerInnenfortbildung, langjährige Schulversuche zur Implementation neuer Lehrpläne, Erarbeitung neuer Unterrichtsmaterialien berücksichtigt, wird nun durch die Ergebnisse der Kolipsi-Studie der EURAC bestätigt, die 2012 veröffentlicht worden sind.
Die Gesamtergebnisse zur schriftlichen Kompetenz der OberschülerInnen der 4. Klasse belegen, dass bei den deutschsprachigen SchülerInnen nach den Kriterien des Europäischen Referenzrahmens 44 Prozent Italienisch auf einem B1-Niveau schreiben, während weitere 40 Prozent ein B2-Niveau erreichen. Nur 4 Prozent bleiben unter dem B1-Niveau (A2), während 11 Prozent über das B2-Niveau hinausreichen (C1).
Fast die Hälfte der italienischsprachigen OberschülerInnen erreicht ein B1-Niveau, 28 Prozent bleiben darunter (A2), 13 Prozent erreichen das Niveau B2 und nur 5 Prozent liegen über diesem Niveau (C1)9.
Diese Ergebnisse müssen nachdenklich stimmen, wenn man bedenkt, dass die Wochenstundenanzahl für den Zweitsprachenunterricht wesentlich höher ist als für den Unterricht der ersten Fremdsprache in jedem anderen europäischen Land.
Dies könnte darauf hinweisen, dass es eben nicht so einfach ist, die Sprache der Nachbarn zu erlernen, besonders, wenn diese im selben Territorium leben und die Traumata der Vergangenheit nur teilweise aufgearbeitet worden sind (vgl. Baur 2000).
Die Schwierigkeiten der deutschen und italienischen Sprachgruppe in Südtirol auf dem Wege zur Zwei- und Mehrsprachigkeit treffen auf die Bevölkerung der ladinischen Täler nicht zu, da die ladinische Schule mit dem Autonomiestatut von 1972 in der Sprachen- und Schulpolitik einen völlig anderen Weg als die beiden anderen Sprachgruppen beschritten hat, den Weg der bilingualen Schule mit paritätischem Unterricht in deutscher und italienischer Sprache und mit Verwendung der ladinischen Sprache als Verständigungssprache.
Aus diesen Überlegungen und empirischen Daten wird deutlich, dass die Wertschätzung von Vielfalt und Heterogenität eine gesellschaftspolitische Entscheidung ist und dass diese Entscheidung nicht nur für die Erhaltung der europäischen Sprachenvielfalt relevant ist, sondern auch dafür, ob die Jugendlichen dieses Landes europaweit und in der weltweit globalisierten Situation konkurrenzfähig (vgl. Sennet 1998) sind und es auch bleiben.
Sicher ist, dass durch die zunehmende Vernetzung der Arbeitsmärkte im Zuge der Globalisierung die Tatsache mit aller Deutlichkeit ins Bewusstsein rückt, dass Fremdsprachenlernen und interkulturelles Lernen in Verbindung mit der Aneignung von Teamfähigkeit und Kommunikationsfähigkeit schon jetzt zu den wesentlichen Schlüsselfähigkeiten im Arbeits- und Wirtschaftsbereich gehören.
„Die Fähigkeit, mehrere Sprachen zu beherrschen, ist bei der Qualifikationsausstattung ein wichtiger Bestandteil. Durch die rasanten Entwicklungen der Kommunikationstechnologien wird sich der Wunsch nach einer offenen Welt noch verstärken. Durch die Globalisierung der Wirtschaft wird den Fremdsprachen in der unternehmensinternen Kommunikation eine besondere Stellung zuteil, die die personalstrategischen Entscheidungen zugunsten von mehrsprachigen Arbeitnehmer/innen beeinflussen.“ (Wesch 2001, 115)
Die Empfehlungen der Europäischen Union gehen ja dahin, jedenfalls eine Nachbarsprache zu lernen, da die Nutzung, Achtung und Förderung einer Nachbarsprache nicht nur bedeutet, eine zusätzliche Sprache zu erwerben, sondern auch eine interkulturelle Kompetenz und eine Friedenskompetenz aufzubauen und zu vertiefen. Ferner sollten von breiten Schichten der Bevölkerung grundlegende kommunikative Englischkenntnisse und zusätzlich noch rezeptive Sprachfertigkeiten in wenigstens einer und möglichst in zwei europäischen Sprachen erworben werden.
Zweisprachigkeit und Mehrsprachigkeit sind keine rein linguistischen oder sprachdidaktischen Probleme. Diese lassen sich mehr oder weniger lösen. Sie sind vielmehr in einem eminenten Sinne politische oder besser gesagt sprachenpolitische Probleme.
Mit dem Problem der Zweisprachigkeit und erst recht mit dem Problem der Mehrsprachigkeit verbinden sich aber zumeist sofort Probleme mit der individuellen und kollektiven Identität. Und dies nicht nur in Gebieten, in denen autochthone sprachliche Minderheiten mit dem Staatsvolk zusammenleben. Diese Ängste vor einer sprachlichen und kulturellen Vermischung, vor „hybriden“ sprachlichen und kulturellen Situationen, vor einem Verlust des eigenen individuellen und kollektiven Selbstbewusstseins, sind weit verbreitet. Sie finden sich in italienischen Regionen ebenso wie in französischen, in Bayern ebenso wie in den meisten Bundesländern Österreichs, in Südtirol ebenso wie in Belgien und sie sind in einer akuten und gefährlichen Weise z. B. in Lettland, Litauen und Estland vorhanden.
Tatsächlich ist es aber so, wie Stuart Hall (1994, 207) schreibt: „West-Europa hat keine Nation, die nur aus einem Volk, einer Kultur oder Ethnizität besteht. Alle modernen Nationen sind kulturell hybrid.“
Trotzdem ist die Meinung weit verbreitet, dass der einsprachige, in seiner Muttersprache verwurzelte Mensch am stärksten mit sich in Einklang stehe. Die berühmte Aussage von Nelde (1997) „Einsprachigkeit ist heilbar!“ löst bei vielen sofort negative Reaktionen aus.
Diese Defizithypothese wird nur ungern akzeptiert, da sie laut Eurobarometer 243/200510 für die Hälfte der europäischen Bevölkerung der Wahrheit entspricht. Daran hat sich auch laut Eurobarometer 2012 nichts geändert.11 Waren es 2006 noch 56 Prozent EuropäerInnen, die mindestens eine Fremdsprache sprachen, so sind es 2012 nur mehr 54 Prozent.
3. Gibt es ein Sprachenproblem in Südtirol?
Man kann in berechtigter Weise annehmen, dass die Einstellungen zur anderen Sprachgruppe das Zweitsprachenlernen in der Schule und die Sprachpraxis in der Zweitsprache außerhalb der Schule stark beeinflussen.
Zwei rezente empirische Untersuchungen erhellen die Situation und zeigen auch auf, wie sich Jugendliche, wenn auch teilweise unbewusst, selbst einen Schaden zufügen.
Die erste Studie, die 2009/10 im Auftrag der Abteilung 24 (Familie und Sozialwesen) der Südtiroler Landesregierung durchgeführt worden ist und sich mit dem Phänomen Extremismus in Südtirol (Autonome Provinz Bozen 2010a) befasst hat, konnte vonseiten deutschsprachiger SchülerInnen und Jugendlicher eine teilweise ablehnende Haltung der italienischen Sprachgruppe gegenüber und Aussagen deutscher und italienischer Jugendlicher zu Spannungen und Problemen zwischen den Sprachgruppen erheben und dokumentieren. So äußern sich z. B. Schulen in folgender Weise:
„Was in den letzten Jahren vonseiten der Lehrpersonen und der Schulführungskräfte beobachtet werden kann, ist eine zunehmende Ablehnung von Italienisch. Vor allem in ländlichen Gebieten ist die Verbreitung eines falsch verstandenen Patriotismus feststellbar. Damit verbunden ist eine Ablehnung der italienischen Bevölkerung in Südtirol und in der weiteren Folge auch die Ablehnung von Migranten und Migrantinnen.“ (Autonome Provinz Bozen 2010a, 15)
Im Maßnahmenkatalog, der von der Landesregierung im Juni 2010 genehmigt worden ist, ist demnach zu lesen:
„Aus der Erhebung geht hervor, dass ein größerer, nicht auf Jugendliche begrenzter und gesellschaftlich eingebetteter Graubereich existiert, der den Boden für extreme politische Ansichten, Ausländerfeindlichkeit, Rassismus und Abwertungsmechanismen zwischen den einheimischen Sprachgruppen nährt.“ (Autonome Provinz Bozen 2010b, 3)
Diesem etwas negativen Ergebnis kann ein anderes Ergebnis gegenübergestellt werden, das durch eine Replikationsstudie im Rahmen eines Forschungsdoktorates12 anhand einer repräsentativen Stichprobe von deutschsprachigen und italienischsprachigen MaturantenInnen im Schuljahr 2010/11 erhoben worden ist. Im Vergleich zur Studie, die im Auftrag der Landesregierung 1996 von Baur durchgeführt worden ist (vgl. Baur 2000, 241–290) zeigt sich nun, dass auf die seit Jahrzehnten bei jedem Social Survey und bei jeder Jugendstudie gestellten Frage „Wie beurteilen Sie die Tatsache, dass es in Südtirol mehrere Sprachgruppen gibt?“, die Option „Es ist ein kultureller Reichtum, den man schätzen und erhalten muss“ in urbanen Gebieten bei deutsch- und italienischsprachigen MaturantenInnen deutlich gestiegen und die Option, dass es allen ohne ethnische Vielfalt besser gehen würde, bei beiden von 3 Prozent auf 17 Prozent bzw. 12 Prozent bei Italienisch- und Deutschsprachigen gesunken ist.
In ländlichen Gebieten ist die Option „Reichtum“ bei den deutschsprachigen MaturantenInnen fast gleich geblieben, dafür aber die Option „Es würde uns allen besser gehen, wenn es keine ethnischen Unterschiede gäbe“ von 5 auf 13 Prozentpunkte gestiegen. Vermutet werden kann, dass die Fantasien über den Freistaat und über die Selbstbestimmung hier bei den deutschsprachigen MaturantenInnen zu einer stärkeren antagonistischen Position geführt haben. Bei den italienischsprachigen MaturantenInnen ist diese Option in ruralen Gebieten mit 8 Prozent gleich geblieben.
Die zweite empirische Untersuchung, in der es darum ging über vertiefte Interviews zu den Sprachbiografien von MaturantenInnen der deutschsprachigen und italienischsprachigen Oberschulen in ausgewählten Landesteilen zu erheben, wie man in Südtirol zweisprachig/mehrsprachig wird oder einsprachig bleibt, wurde im Schuljahr 2008/09 durchgeführt. Die Ergebnisse dieser Studie sind ernüchternd, auch wenn in Südtirol die Möglichkeiten groß wären zwei- und mehrsprachig zu werden.
„Wenn man die Ergebnisse der Studie auf knappem Raum zusammenfasst, ergibt sich folgendes Bild:
In Südtirol liegen ideale Voraussetzungen für mehrsprachige Sozialisation vor.
Die Provinz widmet der Vermittlung von Mehrsprachigkeit hohe Aufmerksamkeit und verwendet einen hohen Anteil des Budgets, um die ihrer Auffassung nach optimalen Bedingungen für den Erwerb von Mehrsprachigkeit zu schaffen.
Die Erwartungen der Europäischen Union in Bezug auf gesellschaftliche Mehrsprachigkeit werden weitgehend erfüllt.
ABER:
Der Modus der Implementierung all dieser zukunftsweisenden Intentionen ist defizitär, genauso wie das Ausmaß der individuellen Mehrsprachigkeit.
DENN:
Informelle Kontakte zu Kindern aus der anderen Sprachgruppe gibt es zwar, aber in städtischen, mehrheitlich italienischen Nachbarschaften dominiert das Italienische, in ländlicher Umgebung mit Dominanz der deutschen Sprache werden Kinder tendenziell sprachlich assimiliert, d. h. sie lernen nicht Deutsch, sondern den lokalen Dialekt.
Die Schule als Sozialisationsinstanz ist nicht imstande, Inklusion zu erzeugen. Die Tatsache von zwei berührungslos nebeneinander existierenden, nach sprachlichen Kriterien getrennten Schulsystemen hat offensichtlich zur Folge, dass die überwiegende Mehrzahl der Befragten kaum Kontakte zur jeweils anderen Sprachgruppe hat.
Zur Überwindung dieser Trennungs- und Exklusionsphilosophie gibt es schulische Initiativen wie Klassenpartnerschaften, Besuch der anderssprachigen Schule für die Dauer eines Schuljahres, Lehrertausch (italienische Lehrpersonen tauschen für einige Zeit mit ihren deutschsprachigen Kollegen/innen den Arbeitsplatz). Sie sind jedoch fakultativ und werden nur von wenigen genützt und haben jedenfalls kaum Spuren in den Sprachbiografien unserer Befragten hinterlassen. Das System fördert sie halbherzig.
Das Unterrichten der zweiten Sprache auf indirekte Art durch Erteilen des Fachunterrichts in der Zweitsprache, also irgend eine Form von Immersion, von der Wissenschaft als besonders effizient geschätzt, wird in keiner seiner Varianten akzeptiert, aber in der Form des CLIL-Unterrichtes (Content and language integrated learning = Integriertes Sprach- und Fachlernen) vor allem an italienischen Schulen geduldet.
Die unbeabsichtigten Nebenwirkungen dieser Sprachenpolitik sind hoch:
Lustvoll erlebte Zwei- und Mehrsprachigkeit ist selten.
Zwei- und Mehrsprachigkeit wird als Folge ihrer Verschulung und des Zwangs zur permanenten Beurteilung durch das System des ständigen Belehrens und Abprüfens und Einstufens von vielen Bürgern/innen des Landes als Achillesferse statt als integrierter Teil der eigenen Identität erlebt.
Das Monopol didaktisierter Mehrsprachigkeit erstickt das natürliche Lernen in Kontaktsituationen. Die totale Didaktisierung erzeugt Befangenheit und Angst vor dem Sprechen, weil ständig die Sorge mitschwingt, man könne sein Gesicht verlieren, wenn man Fehler mache.
Die großen Vorteile des Zusammenlebens zweier Sprachgruppen werden nur unzureichend genutzt“ (Baur/Larcher 2011, 174–177).
4. Der schwierige Zugang zur Zweitsprache
Das Erlernen einer Zweitsprache ist in einem geringeren Maße ein Problem der Quantität und Qualität der didaktischen Angebote. Es ist vielmehr ein Problem der Nähe und Distanz zu den anderen, die im selben Territorium leben. Es ist ein Problem der bewussten Motivation, Kontakte mit jenen zu ergreifen, die teilweise bewusst oder unbewusst als „aufgezwungene“ Nachbarn erlebt werden, die eine andere Sprache sprechen und in einer „anderen“ Kultur leben, die als fremd und anders konstruiert wird, obwohl sie es längst nicht mehr ist.
Warum wird Englisch in Südtirol von deutsch- und italienischsprachigen SchülernInnen und Jugendlichen leichter erlernt als die jeweilige Zweitsprache Deutsch oder Italienisch?
Vielleicht weil es leichter ist, die Sprache von anderen zu lernen, die gar nicht da sind bzw. als Gäste kommen und wieder gehen oder weil das Englische inzwischen überhaupt nicht mehr als Fremdsprache oder sogar als reale Sprache empfunden wird, sondern nur mehr als ein Instrument zur raschen Befriedigung kommunikativer Bedürfnisse weltweit.
Diese Schwierigkeiten verweisen auf eine nicht aufgearbeitete Vergangenheit, auf die Strahlungskraft eines kollektiven Gedächtnisses, in dem mehr Erfahrungen der Trennung als Erfahrungen gemeinsamer Kooperation eingeschrieben sind.
Die Situation ist paradox, wenn nicht antagonistisch. Die verantwortlichen PolitikerInnen in der Landesregierung rufen nun nach mehr Kontakten zwischen den Sprachgruppen, ohne jedoch konkret Finanzmittel bereitzustellen. Die Familienpolitik versteht sich als eine getrennte Politik für die eine oder die andere Sprachgruppe und ergreift keine Initiative organisierter Kontaktaufnahme.
Die eher ernüchternde Situation der Zweitsprachenkenntnisse bei italienischsprachigen, aber auch bei deutschsprachigen MaturantenInnen ist trotz der sehr guten didaktischen und stundenmäßigen Ausstattung des Zweitsprachenunterrichtes nur dann verständlich, wenn man sich die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen für Kommunikation und Kooperation zwischen den Sprachgruppen kurz in Erinnerung ruft.
Die Sprachgruppen in Südtirol leben immer noch in relativ getrennten Welten, weil es noch zu wenige bedeutsame Episoden gemeinsam gestalteter Geschichte gibt, die sie stärker in einer gemeinsamen Heimat aneinander binden würde. Die Beziehungen zwischen den Sprachgruppen bleiben vom Mechanismus der gegenseitigen Entwertung immer noch geprägt. Das Zusammenleben der Sprachgruppen ist schließlich immer noch stark durch die soziale Erzeugung von Distanz charakterisiert, die die Funktion hat, die Fragmentierung der Gesellschaft, zumeist nach ethnisch-gemeinschaftlichen Kriterien der Dazugehörigkeit, aufrechtzuerhalten.
Diese gesellschaftlichen Bedingungen bewirken konkret erhebbare psychosoziale Effekte auf die Kommunikation und Kooperation zwischen den Sprachgruppen und beeinflussen negativ die Motivation für das Zweitsprachenlernen und für die interkulturelle Bildung (vgl. Baur et al. 2009b).
In der Folge soll nun aus der empirischen Studie „Fit für Europa“ (Baur/Larcher 2011) anhand einiger Zitate aus den Interviews mit italienischsprachigen, aber auch deutschsprachigen Schülerinnen und Schülern belegt werden, welche Haltung, 40 Jahre nach Verabschiedung des Verfassungsgesetzes zur Landesautonomie, der Zweitsprache und den anderen gegenüber, die diese Sprache sprechen, erhebbar ist.
Diese Dokumentation kann wie ein Potpourri gelesen werden, mit den positiven, negativen, ambivalenten, unsicheren, zaghaften und kritischen Tönen, die man wiederfinden kann, wenn man auf Straßen, Plätzen, Wanderwegen, in Cafés den Gesprächen der Personen auch nur kurz zuhört. Das Thema der Zweitsprache ist in Südtirol immer und überall präsent.
Cosa ne pensi della convivenza qui in Alto Adige?
„Mah, io ritengo che adesso anche per la nostra regione particolare sarebbe bello anche parlare delle problematiche che in questa regione esistono, che non sono forse problematiche economiche, sociali, ma di rapporti sicuramente, perché comunque c’è questa divisione e dove ci sono queste divisioni non è che si vive proprio benissimo. Io non so, cioè, io vedo insomma, qui ci sono tanti vantaggi a vivere in una regione come l’Alto Adige perché comunque si sta bene e c’è anche il lavoro. Però, boh, come italiano ti parlo, ti senti come uno straniero, alla fine è diventato così.“ (Schüler, Brixen)
„Ich war die Einzige, die kein Wort konnte. In der Grundschule, dadurch, dass eben viele Kinder Eltern beider Muttersprachen hatten, und ein paar Einzelfälle, wo sie nur italienischer Muttersprache waren, und so konnten sie ziemlich gut Italienisch, ich war die Einzige, die kein Wort konnte, außer eben die besagten Sätze. Ich kannte nicht den Unterschied zwischen ‚Fenster‘ und ‚Tür‘, ich habe nichts verstanden, aber wirklich, und ich war anfangs wirklich deprimiert, ich bin sogar weinend nach Hause. Ich war wirklich verzweifelt. Und dann habe ich von Null auf Hundert wirklich gelernt.“ (Schülerin, Bozen)
„Ich muss schon sagen, dass ich im Grunde das Italienisch, das ich heute kann, in der Grundschule gelernt habe. In der Mittelschule vielleicht auch noch ein bisschen, aber nicht mehr viel, und in der Oberschule gar nichts mehr. Jetzt haben wir zwar wieder eine gute Lehrerin, aber das Niveau ist einfach zu niedrig. Es gibt keine Herausforderung und man wird auch nicht gefördert. Alle haben ein anderes Niveau und so passt man sich dem niedrigsten an und man lernt nichts mehr. … Ich bin zwar kommunikativ sehr gut und kann mich auch ausdrücken, ich möchte aber viel korrekter sprechen können.“ (Schüler, Prad am Stilfserjoch)
„No. All’inizio, in prima e seconda superiore non capisci niente di tedesco, ti parla … al massimo ti parla in italiano. Poi dopo un po’ inizi a ingranare e dopo un po’ le cose le capisci, perché alla fine erano sempre quelle le parole, sempre quelle degli esercizi, continuava a ripetere, ripetere, ripetere per cui dopo un po’ si vanno a capire queste cose. A scrivere copiavo dalla lavagna, perché la prof scriveva alla lavagna, per cui … e poi, dopo un po’… si controllavano prima i compiti, sempre, poi si apriva il libro – c’erano delle persone che distribuivano – poi si faceva l’esercizio che diceva la prof, oppure faceva un dettato e noi copiavamo e … Io parlavo sempre in italiano, non parlo il tedesco.“ (Schüler, Bozen)
„Also man ist nicht miteinander, da gibt es die italienische Gruppe und die deutsche. Und das ist halt so. Das ist ganz lustig. Man versucht irgendwie immer Kontakt zu haben, aber es geht irgendwie nicht. Sie haben ein eigenes Jugendzentrum, ein italienisches, und wir haben ein deutsches – und da kommt man nie zusammen. Wir haben jetzt schon zwei Italiener in der Gruppe, aber die versuchen eben Deutsch zu reden und wir sollen ihnen helfen, Deutsch zu reden. So kommt das Italienische immer erst danach“ (Schülerin, Schlanders)
„Mah, diciamo che è da ambedue le parti il problema. Io vedo che anche io da italiano a volte tendo a snobbare l’ambiente tedesco-altoatesino, perché li ritengo magari un po’, così … Però è chiaro che non è forse colpa delle persone in sé, è l’ambiente che è così.“ (Schüler, Brixen)
„Cioè non mi sento molto soddisfatta dell’apprendimento che abbiamo avuto a scuola, perché abbiamo cambiato comunque ogni anno professore di tedesco e andavamo di male in peggio ogni volta. Magari in prima superiore eravamo ridotti a tagliare figurine o a colorare e quindi … poi essendo poi anche in Alto Adige la lingua tedesca ci serve, se no non lavoriamo dopo l’università e appunto per questo siccome il mio livello di tedesco era praticamente quasi sotto zero, l’anno scorso ho fatto sei mesi in Germania che comunque mi sono serviti, però … comunque non ho questa competenza …“ (Schülerin, Meran)
Und die, die in Südtirol zweisprachig sind, warum sind sie es und wie sind sie es geworden?
„Weil sie viel durch die Arbeit in Kontakt kommen, dann müssen sie Italienisch lernen. Ich denke, dass es viel durch die Arbeit ist, weil auch ich durch die Arbeit mehr gelernt habe als in der Schule. In der Schule macht man das, was im Buch steht, aber du hast nicht wirklich Lust dazu, weil du es machen musst.“ (Schülerin, Meran)
Nella tua vita quotidiana, prendiamo gli ultimi quattro mesi, quali sono le lingue che hai usato?
„L’inglese, perché è arrivata una studentessa americana con la quale ho parlato. Lei è qui a scuola e parliamo un po’ in italiano e un po’ in inglese. Poi vengono degli esperti dal Canada e discutiamo in classe. Fuori l’inglese solo attraverso la televisione e la musica. E il tedesco quando sono andata quelle due, tre volte in Germania, o quando vado a Innsbruck a fare shopping.“
Il tedesco perciò non lo usi mai? „Noo!“ (Schülerin, Sterzing)
„L’importanza per me è che è la mia regione, io mi sento prima altoatesino e poi italiano. Il fatto che, insomma, è una bella occasione di confronto con un’altra cultura, anche se, devo dire la verità, non c’è tanto scambio, però in potenza, l’occasione ci sarebbe. Questo è, l’uomo di per sé è pigro, sta con i suoi simili, anche qui.“ (Schüler, Bozen)
Parliamo del soggiorno a Berlino, che hai fatto?
„Mhm, beh, magari mi ricordo che l’accento è diverso logicamente, il loro è più leggero, insomma, non è come qua che è più dura la lingua, no?! E comunque in famiglia stavamo solo verso sera, di giorno eravamo in giro, eh … ah, è stato molto positivo, comunque la sera c’era sempre … loro avevano come programma la conversazione con noi, quindi parlavo anche lì … comunque parlavamo.“
(Schülerin, Brixen)
5. Das Unbehagen der Bürgerinnen und Bürger
In diesen Aussagen zeigt sich vielfach ein Unbehagen, das nicht mehr nur das der italienischsprachigen MaturantenInnen ist, sondern ein diffuses allgemeines Unbehagen über die Schwierigkeit, in Südtirol die zweite Sprache Italienisch oder Deutsch zu lernen, über die Schwierigkeit Kontakte aufzunehmen, weil man 13 Jahre lang in getrennten Schulen gelebt hat, und über die relative Leichtigkeit, die Zweitsprache außerhalb des Landes, in einem dritten Raum ohne Hierarchie, zu sprechen.
Dieses Unbehagen hat im Raum der Schulpolitik und Sprachenpolitik in Südtirol eine doppelte Valenz. Es ist einerseits ein rückwärtsgewandtes Unbehagen (vgl. Baur et al. 1998), das dem Diktat der Moderne folgend Klarheit und Eindeutigkeit wiederherzustellen versucht, Multikulturalität und Mehrsprachigkeit scheut, mit Ausnahme des Englischen, und noch immer gegen den Zugang, den Einstieg in die Sprache der anderen, in die Zweitsprachen des Landes, Widerstand leistet. Und dies betrifft sicher stärker die italienische Sprachgruppe als die deutsche, findet sich aber in markanten Ablehnungen der italienischen Sprache auch in letzterer. Andererseits ist es aber auch ein vorwärtsgewandtes Unbehagen, das zunehmend zu Worte kommt und das Wort ergreift aus Sorge, dass die Jugendlichen dieses Landes mit ihrer teilweise auch schwachen muttersprachlichen Ausrichtung und ihren eklatanten Schwächen in der Zweitsprache und in der englischen Sprache ihre Zukunft in Europa und in der Welt aufs Spiel setzen, bevor diese Zukunft überhaupt begonnen hat.
Vor allem wehren sich die Eltern13, die im Landesbeirat klar und deutlich zum Ausdruck brachten, dass der Artikel 19 ein Recht für die deutschsprachige nationale Minderheit und lokale Mehrheit, aber keine Pflicht ist und dass dieser Artikel des Autonomiestatutes nicht die Förderung der Mehrsprachigkeit, der Muttersprache (der ersten oder starken Sprache) sowie der Zweitsprache und des Englischen und noch anderer Sprachen verhindern darf und kann. Es ist an der Zeit sinnvoll und nachhaltig zu reagieren und im Triennium der Oberschulen mit einem akzentuierten mehrsprachigen Unterricht, auch in der Zweitsprache zu beginnen.
Eine derartige Initiative würde in drei Jahren die Sprachkompetenzen deutlich heben und zu einer höheren Sprachbewusstheit führen (vgl. Bialystok/Craik/Luk 2012).
Dies ist ein völlig neuer in die Zukunft gerichteter selbstbewusster Ansatz, der weiß, dass Minderheiten (aller Art) auch Eliten sein können, kreative vorantreibende und integrative Kräfte in der sich ständig wandelnden Gesellschaft.
Dieser Ansatz ist am besten geeignet in Zeiten wirtschaftlicher Krisen und schlechter ökonomischer und sozialer Bedingungen den gesellschaftlichen Integrationsprozess im Sinne einer „differenzempfindlichen Inklusion“ (Habermas 1996, 174) voranzutreiben und Wertschätzung für die anderen anzubahnen.
Anmerkungen
1 Im Rahmen dieses Projektes hat Agnes Larcher, Südtirolerin, Österreicherin und Weltbürgerin, mit einem nüchternen Blick von außen, aber als kritische Freundin wertvolle Beiträge geleistet. (Baur/Larcher 2011)
2 Forschungsprojekt für ein Forschungsdoktorat (PhD) an der Université Paris Descartes, „Heimat und Zusammenleben bei Deutsch- und Italienischsprachigen in Südtirol“ (Arbeitstitel). Dieses und alle nachfolgenden Zitate aus den Interviews für dieses Forschungsprojekt werden mit freundlicher Genehmigung von Ingrid Kofler verwendet.
3 Während die Gewerkschaften im Laufe der 80er-Jahre verstärkt die Einführung von Deutsch als schriftliches und mündliches Maturafach an italienischen Oberschulen befürworteten, wehrte sich, aufgestachelt von nationalistischen Kreisen, ein Teil der Studentenschaft vehement dagegen. In einer Presseaussendung im Juli 1987 protestierte die Südtiroler Volkspartei dagegen, dass „der italienische Schulamtsleiter an der Spitze von Hunderten von italienischen Oberschülern seine Unterschrift gegeben habe, damit Deutsch nicht als Fach bei der Reifeprüfung eingeführt wird.“ (Studiare il tedesco? Si vada in Germania, in: Alto Adige, 09.07.1987, 5. Zur Position der Gewerkschaften, Alto Adige, 13.11.1984, 4 und 4.11.1985, 6) (Pichler 2009, 306)
4 Die „Verkehrung in das Gegenteil“ bezeichnet in der Psychoanalyse einen besonderen Abwehrmechanismus, bei dem für das Individuum gefährliche, peinliche oder wegen gesellschaftlicher Zensur schwer direkt zu äußernde Gefühle, Wünsche oder tiefer liegende Überzeugungen in ihr Gegenteil verkehrt werden.
5 In der Psychoanalyse wird Rationalisierung als ein Abwehrmechanismus des Ichs verstanden, nämlich als ein Versuch, Handlungen, die durch unbewusste oder auch unterbewusste Motive gesteuert werden, nachträglich einen rationalen Sinn zu geben.
6 Das Forschungsprojekt wurde aus Mitteln der Freien Universität Bozen finanziert, die im Jahre 2007 als Sonderzuweisung für Forschungsprojekte von der Südtiroler Landesregierung zur Verfügung gestellt worden sind. Das Projekt wurde von der zentralen Forschungskommission der Freien Universität Bozen mit dem Prädikat High Priority angenommen. Die Ergebnisse liegen in Buchform vor. (vgl. Baur/Larcher 2011)
7 Der Artikel 19 des Autonomiestatutes von 1972 steht wie das gesamte Autonomiestatut im Rang eines Verfassungsgesetzes der italienischen Republik.
8 Gesetz über die Autonomie der schulischen Institutionen.
9 A2 ist ein Niveau, das ein leicht fortgeschrittenes Anfängerstadium bezeichnet und C1 ist ein Niveau, das für das Zweisprachigkeitsattest A ausreicht.
10 http://ec.europa.eu/education/policies/lang/languages/eurobarometer06_de.html (04.10.2008)
11 http://ec.europa.eu/languages/langauges-of-europe/eurobarometer-survey_de.htm (20.11.2012)
12 Diese Daten werden mit freundlicher Genehmigung von Angelika Carfora veröffentlicht.
13 Dolomiten, 22.10.2012, 4.
Literaturverzeichnis
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Abstracts
Politica linguistica e
politica scolastica in Sudtirolo:
Un disagio molto particolare.
Il disagio degli italiani, definibile come svantaggio relativo soggettivamente percepito da individui o gruppi nei confronti del gruppo linguistico dominante, non è rilevabile in questo modo nell’ambito scolastico e dell’apprendimento delle lingue. Esiste, piuttosto, un “disagio inverso” documentato da una serie di ricerche empiriche. Non ci si lamenta soggettivamente o collettivamente di una carenza, di qualcosa che gli altri hanno e che il proprio gruppo non ha; i lamenti, tuttora rilevanti, riguardano l’obbligo di dover apprendere la seconda lingua, di dover sostenere il patentino per trovare un lavoro. In un processo di reversione ci si accusa di scarsa competenza nella seconda lingua cercando una serie di razionalizzazioni come la scarsa qualità didattica dell’insegnamento, la scarsa possibilità di contatti con l’altro gruppo, la maggiore importanza dell’inglese rispetto all’italiano. Questo disagio non è soltanto italiano, è un disagio generale e diffuso sulle difficoltà di apprendere in Sudtirolo la seconda lingua. È il momento di chiedere con forza una diversa interpretazione dell’art. 19, come diritto e non come dovere, e di conseguenza insegnamenti plurilingui a livello di scuola superiore.
Politica linguistica y politica scolastica te Südtirol:
n „malester“ dër particolar
Le „malester“ di talians che po gnì definì n desvantaje relatif sintì sogetivamënter dai individuums o dai grups en confrunt al grup linguistich plü sterch ne vëgn nia sintì insciö tl ćiamp scolastich y tl aprendimënt di lingac. Al esist, plütosc, n „malester dl ater vers“ documentè da na seria de inrescides empiriches. An ne se baudia nia de na manćianza, de valch che i atri à y che le grup pro chël ch’an alda n’à nia, mo plütosc de messëi imparè le secundo lingaz, de messëi fà l’ejam de bilinguism por „ciafè“ n laûr. Te n prozès de reverjiun s’acusëion dla püćia competënza tl secundo lingaz y chir na seria de razionalisaziuns sciöche la stleta cualité didatica dl insegnamënt, la püćia poscibilité de contać cun l’ater grup, la maiù importanza dl inglesc en confrunt al talian. Chësc malester n’é nia ma talian, mo n malester general y slarié fora sön les dificoltês da imparè le secundo lingaz te Südtirol. A se damana tres plü gonot y cun forza ch’al vëgnes interpretè atramënter l’art. 19, sciöche dërt y nia sciöche dovëi y ch’an ciafes porchël insegnamënć plurilinguistics tla scora alta.
Language and education policy
in South Tyrol:
a very unique type of discontent
The disagio (discontent) of Italians, defined as a subjectively perceived relative disadvantage of individuals or groups in comparison to the dominant language group, is not detectable in this usage within the scholastic environment and in language learning. There is, rather, a “reverse discontent” documented by a series of empirical studies. There are not subjective or collective complaints about a lack of something that others have and their group does not, but there are complaints – equally relevant – concerning the obligation of having to learn a second language in order to obtain a “licence” to “find” a job. In a process of reversion, the Italians blame the lack of competence in the second language by giving a series of rational arguments such as poor quality of education, lack of opportunity to interact with the other group, and the increasing importance of English over Italian. This is not limited to the Italians, but is a general and widespread discomfort with the difficulty of learning one’s second language in South Tyrol. This discontent is slowly turning proactive: there are demands for a different interpretation of Article 19 – as a right and not as a duty – and thus multilingual teaching at the secondary school level.