Martin Larch
Autonomie und Ökonomie:
War die Selbstverwaltung ein Segen für die Wirtschaftsentwicklung? Möglich wär’s.
1. Prolog
Eine tragende Säule im kollektiven Bewusstsein des autonomen Südtirol ist der ökonomische Erfolg: Uns geht es gut; wir haben ein hohes Einkommen; es gibt kaum Arbeitslosigkeit. Diese Einstellung kommt nicht von ungefähr. Die Wirtschaft Südtirols hat in den letzten vier Jahrzehnten eine beachtliche Entwicklung durchlebt. Die Zahlen sprechen, sofern man ihnen Glauben schenkt, eine unmissverständliche Sprache. 1970 lag das geschätzte Pro-Kopf-Einkommen in Südtirol noch knapp unter dem italienischen Durchschnitt und deutlich unter dem der damaligen Europäischen Union (Europäische Union 1981). Nur im Süden Italiens, im entlegenen Irland und einigen Randregionen Frankreichs war die Wirtschaftsleistung pro Einwohner niedriger als bei uns.
Doch dieser aus heutiger Sicht unschmeichelhafte Zustand war von kurzer Dauer. Dank eines rasanten und anhaltenden Wirtschaftswachstums war das Pro-Kopf-Einkommen zwischen Brenner und Salurn bereits gegen Ende der 70er-, Anfang der 80er-Jahre über den nationalen Durchschnitt angestiegen. Weitere zehn Jahre später war auch schon der deutsche Durchschnitt (damals noch ohne ehemalige DDR) schräg gegenüber im Rückspiegel zu sehen.
Heute, 40 Jahre nach Inkrafttreten des Zweiten Autonomiestatuts, erwirtschaften die Erwerbstätigen Südtirols eine Wirtschaftsleistung, die pro Kopf (und gemessen in Kaufkraft-Standards) knapp 40 Prozent über dem EU-Schnitt liegt – für sich genommen eine beeindruckende Zahl. Der beachtliche Abstand zum EU-Durchschnitt erklärt sich freilich auch dadurch, dass mit der Osterweiterung 2004 und 2007 Länder der Union beigetreten sind, deren Wirtschaftsentwicklung deutlich zurückhängt. Aber selbst unter den Regionen des alten Europas sticht Südtirol in der grobkörnigen Rangordnung des Pro-Kopf-Einkommens hervor: Wir spielen in derselben Liga wie die Schwergewichte Baden-Württemberg, Bayern oder die Lombardei.
Welche Rolle hat die Umsetzung des Zweiten Autonomiestatus für die durchaus beachtliche Wirtschaftsentwicklung unseres Landes gespielt? Hat sie das Wachstum beschleunigt? Hätte die Südtiroler Wirtschaft unbeeindruckt von den Zuständigkeiten der lokalen Verwaltung denselben Weg gefunden? Oder gar einen steileren?
Für die politische Mehrheit Südtirols sind dies freilich rhetorische Fragen. In der offiziellen Sicht der Dinge sind Autonomie und Wirtschaftsentwicklung aufs Engste verknüpft. Die primäre (und sekundäre) Gesetzgebungskompetenz in vielen wichtigen Bereichen, gekoppelt mit einem üppigen Landeshaushalt, gilt als unzweifelhafte Stütze des ökonomischen Erfolgs.
Eine endgültige und umfassende Antwort auf die Frage, ob und wie die Autonomie auf die Wirtschaftsentwicklung unseres Landes gewirkt hat, gibt es freilich nicht. Zu viele Faktoren bestimmen den Zustand und Entwicklungsverlauf eines Wirtschaftsraumes: Die Politik, einschließlich des (De-)Zentralisierungsgrades legislativer und exekutiver Aufgaben innerhalb eines Staates, ist nur ein Element in einem ganzen Meer von Einflussfaktoren. Wir können lediglich eine Reihe gezielter Überlegungen und Vergleiche anstellen und das Scheinwerferlicht auf Teilaspekte des kontrafaktischen Was wäre gewesen, wenn richten. Damit lassen sich zumindest einige Sichtweisen bestätigen oder in Frage stellen und vielleicht neue Sichtweisen eröffnen.
Was folgt, ist daher keine umfassende, vollständige oder wissenschaftlich präzise Abhandlung. Die einzig nüchterne, objektive und allumfassende Dokumentation dessen, was den wirtschaftlichen Erfolg Südtirols ausmacht, sind die endlosen Laufmeter verfügbarer Statistik und anderer Dokumente. Alles andere ist gefiltert, gekürzt und vorgekaut.
2. Das regionale Wachstumsmodell im Rückblick
Beginnen wir mit dem im Südtiroler Selbstverständnis, oder zumindest dem offiziellen Teil davon, tief verankerten Bewusstsein, in einem Land zu leben, das zu den wohlhabendsten in Europa zählt. Südtirol erwirtschaftet, wie eingangs bereits erwähnt, nicht nur eine beeindruckende Wirtschaftsleistung, es verzeichnet auch eine geradezu lächerlich niedrige Arbeitslosenquote. Dass diese Leistung, wenn nicht ausschließlich, aber eben doch auch auf die Autonomie zurückzuführen sei, einschließlich der noch lebenden oder bereits verblichenen politischen Akteure, die an vorderster Front diese Autonomie errungen, ausgebaut und verteidigt haben, scheint geradezu zwingend. Wie anders lassen sich Anmerkungen führender Politiker verstehen, die in der letztens aufkeimenden Unzufriedenheit gewisser Bevölkerungsschichten schieren Undank wittern. Angesichts hoher Einkommen (zumindest im Durchschnitt) und Beschäftigung für alle, die eine Arbeit wirklich suchen, hätte die politische Führung, die die Möglichkeiten der Autonomie gekonnt und zum Wohle aller ausschöpft, mehr Zustimmung verdient, so die oft zugrunde liegende Einstellung.
3. Regionale Wirtschaftsentwicklung und Geografie
Einen ersten wichtigen Hinweis auf die mögliche Bedeutung der Autonomie für die Wirtschaftsentwicklung liefert ein kurzer Blick auf das überregionale Umfeld. Von der Autonomen Provinz Trient einmal abgesehen, ist Südtirol interessanterweise von Regionen umgeben, deren institutionelles und politisches Erscheinungsbild eine erstaunliche Vielfalt aufweist. Im Süden liegen italienische Regionen mit Normalstatut wie Venetien, Emilia-Romagna oder die Lombardei. Die Emilia Romagna war in der Nachkriegszeit eine traditionelle Hochburg der Kommunisten, Venetien und die Lombardei wurden meist von Mitte-rechts-Koalitionen (einschließlich der Sozialisten um Bettino Craxi) regiert. Im Norden liegen österreichische und deutsche Bundesländer, in denen durchwegs (oder zumindest bis vor Kurzem) konservative politische Parteien die Regierung stellen, die allerdings im Vergleich zu Südtirol über weitaus geringere und sehr unterschiedliche legislative Kompetenzen verfügen. Sofern Autonomie und die sie ausfüllende Politik eine entscheidende Rolle spielten, müssten diese institutionellen und politischen Unterschiede in der makroökonomischen Realität dieser Regionen ihren Niederschlag finden.
Dem ist nicht so, zumindest nicht gemessen an der Wirtschaftsleistung pro EinwohnerIn. Das überregionale Umfeld Südtirols bildet einen erstaunlich einheitlichen Wirtschaftsraum. Abbildung 1, die die geografische Verteilung des Pro-Kopf-Einkommens in Europa veranschaulicht, macht dies besonders deutlich. Südtirol ist eingebettet in ein relativ kompaktes regionales Gebilde wirtschaftlich führender Regionen. Die blaue Banane – so der reichlich prosaische Name des bandförmigen Großraumes zwischen Irischer See und Mittelmeer – ist nicht das Ergebnis politischer Planung. Sie hat sich im Zuge geschichtlicher und marktwirtschaftlicher Prozesse, einschließlich der europäischen Integration, in wechselnden politischen und staatlichen Realitäten gebildet. Sie verkörpert eine beachtliche Verdichtung von Bevölkerung, Wissen, Verkehr, Kapital und anderen Faktoren, die einen besonders fruchtbaren Boden für eine gesunde und überdurchschnittliche Wirtschaftsentwicklung ergeben. Wer sich im Einflussbereich dieser Verdichtung befindet, profitiert davon, unabhängig von lokalen oder regionalen Eigenheiten. Die relative Position innerhalb der Verdichtung kann sich wohl von Zeit zu Zeit ändern, doch der Abstand gegenüber den anderen Räumen bleibt grosso modo erhalten; zumindest war dies in der Nachkriegszeit so. Geografie scheint von daher eine weit wichtigere Rolle zu spielen als institutionelle oder politische Vorgaben. 1
Abbildung 1: Bruttoinlandsprodukt je EinwohnerIn nach Regionen, 2007
(in Kaufkraftstandards – KKS)
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Quelle: Eurostat, Jahrbuch der Regionen 2010, |
Geografie scheint auch wichtiger zu sein als Topografie. Ein Argument, das in Südtirol mit wiederkehrender Regelmäßigkeit in der öffentlichen Debatte auftaucht, sind die angeblichen Nachteile der heimischen Berglandschaft, die durch besondere wirtschaftspolitische Eingriffe, einschließlich derer, die nur die Autonomie ermöglicht, auszugleichen sind. Von daher hätte sich Südtirol die Stellung im wirtschaftsstarken Verdichtungsraum Europas vor allem dadurch erhalten oder erkämpft, dass es die Nachteile der alpinen Landschaft mit den Möglichkeiten, die die Autonomie bietet, wettgemacht hätte. Zu den Nachteilen einer Berglandschaft zählen in erster Linie der relativ kleine Anteil ökonomisch nutzbaren Raumes und höhere Erschließungskosten. Allerdings ist Südtirol nicht die einzige Bergregion in der blauen Banane. Tirol und Vorarlberg haben eine sehr ähnliche Topografie und erzielen ihre hohe Wirtschaftsleistung ohne legislative und exekutive Autonomie vergleichbaren Umfangs.
Falls Geografie tatsächlich die alles entscheidende Größe für die Entwicklung einer regionalen Wirtschaft wäre, könnte man die Debatte über die Bedeutung der Südtiroler Autonomie für die Wirtschaftsentwicklung kurzerhand abschließen. Die Schlussfolgerung wäre ebenso simpel wie unbefriedigend: Institutionelle Gegebenheiten, Politik und Wirtschaftsstruktur wären von sekundärer Bedeutung, wenn man das Glück hat, am rechten Ort zu sein.
4. Das Südtiroler Wachstumsmodell: ein Blick zurück
Ganz so einfach ist es allerdings nicht. Auf lange Sicht sind unterschiedliche Wachstumsmodelle mit unterschiedlichen Wachstumsaussichten verknüpft. Vereinfacht ausgedrückt gibt es im Wesentlichen drei Faktoren, die den Wachstumstrend einer Wirtschaft bestimmen: erstens der Anstieg des Kapitalstockes, sprich die Investitionen, zweitens die Zunahme der Arbeitskraft und drittens der technische Fortschritt. Empirisch gesehen ist der technische Fortschritt der mit Abstand wichtigste Motor auf dem Weg zu höherem Wohlstand: Er steigert die Produktivität der eingesetzten Arbeit und des investierten Kapitals und sorgt somit dafür, dass unsere Wirtschaftsleistung pro Kopf zunimmt. Mehr Beschäftigung führt auch zu einer höheren Wirtschaftsleistung, allerdings nur im Aggregat; ohne Produktivitätssteigerung bleibt das Pro-Kopf-Einkommen unverändert.
Welchem Wachstumsmodell ist Südtirol bisher gefolgt, und was ergibt sich daraus für die Zukunft? Diese Frage lässt sich aus verschiedenen Blickwinkeln betrachten. Beginnen wir mit der Struktur der Beschäftigung nach Sektoren. Als ländliche Region hat Südtirol natürlich immer noch einen vergleichsweise hohen Beschäftigungsanteil in der Landwirtschaft. Laut Eurostat lag er im Jahr 2007 bei knapp 7,0 Prozent, in etwa doppelt so hoch wie im Durchschnitt der alten europäischen Mitgliedstaaten, und höher als in anderen ländlichen Regionen im Alpenraum wie Tirol (5,6 Prozent), Vorarlberg (3,4 Prozent) oder Trient (4,0 Prozent).2 Über die Jahre ist der Anteil freilich gesunken – 1999 lag er noch bei knapp 12 Prozent der Gesamtbeschäftigung – bleibt aber weiterhin überdurchschnittlich hoch. Der Rückzug der Landwirtschaft war in Südtirol vor allem mit einer Expansion des Dienstleistungsgewerbes und dort wiederum des Fremdenverkehrs verbunden. Die Generationen von SüdtirolerInnen, die die 70er-Jahre bewusst erlebt haben, erinnern sich vermutlich noch sehr lebhaft an den regelrechten Ansturm der damals vornehmlich deutschen UrlauberInnen und den entsprechenden Ausbau der Beherbergungs- und Bewirtungskapazität: Pensionen, Garnis und Hotels schossen aus dem Boden wie die sprichwörtlichen Pilze und in vielen Familien wurde in den Sommermonaten kurzerhand das Kinderzimmer in ein Gästezimmer umgewandelt; die Nachfrage war enorm und Zugewinne mit relativ geringem Aufwand möglich. Die Masse der Deutschen hatte mittlerweile einen bescheidenen Wohlstand erreicht, der es ihnen ermöglichte, den Alltag für kurze Zeit hinter sich zu lassen und jenseits der eigenen Landesgrenzen Entspannung und Neues zu finden. Südtirol lag auf dem Weg in den legendären Süden.
Über die Jahre hat sich der Tourismus in Südtirol, wie auch anderswo, grundlegend gewandelt; eine Flurbereinigung hat stattgefunden. Viele kleine Beherbergungsbetriebe, die den Qualitätssprung verpasst haben oder nicht mitmachen wollten, sind verschwunden und die Kinderzimmer werden im Sommer schon seit Langem nicht mehr für einen kleinen Zuverdienst zeitweilig geräumt. Nichtsdestotrotz hat der Fremdenverkehr in Südtirol an Bedeutung gewonnen und zunehmend Ressourcen gebunden. Der Beschäftigungsanteil des Wirtschaftszweiges Handel, Beherbergungs- und Gaststätten, Verkehr (gesonderte Zahlen für den Bereich Tourismus sind in den Beschäftigungsstatistiken von Eurostat für die NUTS3-Ebene nicht verfügbar) belief sich im Jahr 2007 auf mehr als 31 Prozent, das heißt, fast jeder Dritte ist in diesem Wirtschaftszweig selbstständig oder unselbstständig tätig. Der europäische Vergleichswert liegt bei knapp 25 Prozent; in der Provinz Trient sind es etwas weniger als 24 Prozent. Das Interessante am hohen Beschäftigungsanteil des Wirtschaftszweiges Handel, Beherbergungs- und Gaststätten, Verkehr in Südtirol ist, dass er mit einem mehr oder minder durchschnittlichen Beschäftigungsanteil der Dienstleistungen insgesamt einhergeht: 70 Prozent im Jahr 2007, ziemlich genau der Wert, der im selben Jahr in den alten Mitgliedstaaten der EU erhoben wurde.3
Auf eine knappe Formel gebracht: Südtirol hat in der Nachkriegszeit den direkten Weg von einem überwiegend ländlichen Wirtschaftsraum hin zu einer Dienstleistungsgesellschaft eingeschlagen, mit dem Fremdenverkehr als treibende und dominierende Kraft. Die Berg- und Talfahrt einer wachstumsintensiven Industrialisierung, gefolgt von einer wachstumszehrenden Deindustrialisierung klassischer Industrieregionen, wie im Piemont oder Ligurien in Italien, im Ruhrgebiet in Deutschland oder in der Steiermark in Österreich, hat Südtirol weitgehend ausgelassen.
Eine ähnliche Entwicklung haben viele andere europäische Regionen eingeschlagen: Dazu gehören mutatis mutandis das angrenzende Trentino und Tirol oder, in der näheren Umgebung, Kärnten, Gebiete im Friaul und andere mehr. Das Spezifische an Südtirol ist der noch hohe Beschäftigungsanteil der Landwirtschaft, die relative Dominanz des Fremdenverkehrs und die vergleichsweise kleine Industrie.4 In der offiziellen Deutung werden häufig die Synergien zwischen Landwirtschaft und Tourismus hervorgehoben, vermutlich zu Recht: Die Berg- und Kulturlandschaft Südtirols, gekoppelt mit leckerem Essen, bietet zweifelsohne einen komparativen Vorteil für den Fremdenverkehr, der wiederum zu einem beträchtlichen Teil den gegenwärtigen Wohlstand generiert.
5. Das Wachstumsmodell der Zukunft?
Das Problem mit dem Südtiroler Wachstumsmodell liegt höchstens in der Zukunft. Unbeschadet ihres Wachstumsbeitrages in der Vergangenheit haben Landwirtschaft und Fremdenverkehr eine vergleichsweise niedrige Produktivität, sprich das durchschnittliche Einkommen pro Beschäftigtem ist deutlich niedriger als etwa in der Industrie oder in anderen Dienstleistungssektoren. Hinzu kommt, dass in den letzten zehn Jahren die Beschäftigung besonders im Tourismus am deutlichsten zu- und die Produktivität abgenommen hat: Die Produktivität im Gastgewerbe ist von knapp 80 Prozent der gesamtwirtschaftlichen Produktivität im Jahr 2000 auf 66 Prozent im Jahr 2007 gefallen (Vgl. Castlunger 2010). Mit anderen Worten: Südtirol wird zunehmend stärker in produktivitätsschwachen Sektoren, nicht zuletzt dank einer großzügigen Zuwanderung billiger und großteils niedrig qualifizierter Arbeitskräfte.
Eine solche Entwicklung bedeutet dreierlei. Erstens, sofern nicht die Beschäftigungsquote insgesamt zunimmt und/oder andere Sektoren die Produktivitätsverluste im Tourismus nicht ausgleichen, wird das Pro-Kopf-Einkommen langsamer wachsen oder sinken. Zweitens, und natürlich mit dem ersten Punkt verknüpft, wird die Einkommensverteilung ungleicher, zumal der Beschäftigungsanteil mit niedriger Produktivität, und damit niedrigen Einkommen, steigt. Womöglich sind nur die zugewanderten Arbeitskräfte von den niedrigen Einkommen betroffen, möglicherweise auch nicht. Viele Arbeitskräfte im Fremdenverkehr und in der Landwirtschaft sind nur während der Sommer- oder Wintersaison bzw. der Erntezeit im Lande. Von daher hat ihr Einkommen keinen direkten Einfluss auf die Verteilung der heimischen Bevölkerung. Allerdings gibt es einen indirekten Effekt, weil der Anstieg des Arbeitskräfteangebots auch die Einkommen der Ansässigen in denselben Berufen drückt.5 Drittens sind die Wachstumsaussichten einer Ökonomie, die vor allem auf Jobs mit niedriger Qualifikation und Produktivität setzt, auf lange Sicht weniger rosig. An dieser Stelle sei auch mit der Vorstellung aufgeräumt, dass mehr Beschäftigung notgedrungen zu einer niedrigeren Produktivität führe. Dieser Konflikt gilt höchstens auf kurze Sicht. Auf lange Sicht hingegen können Wohlstand und Beschäftigung nur über stetige Produktivitätsgewinne gesichert werden, die die Wettbewerbsfähigkeit bestimmen.
In der einschlägigen Fachliteratur sind die Kosten eines beschäftigungsintensiven Wachstums insbesondere in Kombination mit der Zuwanderung billiger Arbeitskräfte hinlänglich bekannt. Es verdrängt alternative Aktivitäten mit höherer Produktivität und höherem Wachstumspotential.6 Welche Rolle spielt in diesem Zusammenhang die Südtiroler Wirtschaftspolitik? Unterstützt sie diesen Prozess oder versucht sie das Wachstumsmodell zu ändern? Bis vor einiger Zeit hatte man den Eindruck, sie versuchte, im Einklang mit der salomonischen Natur politischer Entscheidungsfindung, beides: Sie bevorzugte, und bevorzugt de facto immer noch, eine Wirtschaftsförderung, die nach dem Gießkannenprinzip alle Sektoren gleichermaßen fördert und von daher bestehende Strukturen eher verfestigt; sie hat dem Tourismus zusätzlichen Freiraum geschaffen (man denke z.B. an die Aufhebung des Bettenstopps); sie hat bis vor Kurzem der Zuwanderung niedrig qualifizierter Arbeitskräfte, die großteils im Tourismus und der Landwirtschaft eingesetzt werden, zugestimmt; sie ist mittels Beteiligungen selbst als Unternehmer tätig, auch im Tourismus (man nehme zum Beispiel die nicht besonderes glorreiche Erfahrung mit dem Thermenhotel in Meran); sie hält noch eine relativ starke, regulierende Hand über wichtige Bereiche wie den Handel und sie sorgt für eine der restriktivsten Raumordnungen im ganzen Alpenraum.
Demgegenüber hat die Politik auch Schritte unternommen, die zumindest in ihrer Absicht darauf abzielen, die Produktivität der Südtiroler Wirtschaft auf längere Sicht zu stärken. Initiativen, die in diesem Zusammenhang besonders hervorstechen, sind die Gründung einer Universität, die Gründung und Förderung von Einrichtungen, die die Innovationskapazität der Südtiroler Unternehmen stärken sollen, wie zum Beispiel das BIC (Business Innovation Center) und das TIS (Techno Innovation South Tyrol), demnächst der Technologiepark, der lokale Ableger des Fraunhofer-Institutes und im weiteren Sinne auch die Europäische Akademie in Bozen. Ebenfalls zu nennen wäre der Ausbau, wenngleich mit Hürden, der Verkehrsinfrastruktur inklusive des Flughafens in Bozen.
Ob diese und ähnliche Initiativen in der Lage sind, das Wachstumsmodell positiv zu beeinflussen und den relativen Wohlstand langfristig zu sichern, wird die Zeit zeigen. Sie gehen jedenfalls in die richtige Richtung. Bereits vor zwei Jahrzehnten gab es eine kleine Elite aus Wirtschaft und Verwaltung, der klar war, dass Vertrauen auf traditionelle Standortvorteile, wie die schöne Landschaft und gutes Essen, auf lange Sicht nicht reichen würden – eine Position, die damals naturgemäß nicht mehrheitsfähig war.7 Eine besonders wichtige Beobachtung für diese Elite war, dass Südtirol – abgesehen von den freien Berufen und der öffentlichen Verwaltung – wenig attraktive Arbeitsplätze für Akademiker bot. Ein großer Teil von Universitätsabgängern entschied sich Jahr für Jahr, ihr Humankapital außerhalb der Landesgrenzen einzusetzen, und viele, die nach Südtirol zurückkehrten, fühlten sich und waren vielfach überqualifiziert.
Aus der kleinen Elite mit Weitblick ist immer noch keine dominierende politische Mehrheit geworden, aber ihre Ideen überzeugen mehr und mehr; sie färben manchmal auch auf wirtschaftspolitische Entscheidungen ab.
6. Der Landeshaushalt: Wunderwaffe oder einfach nur öffentlicher Haushalt?
Das wohl sichtbarste Instrument der Wirtschaftspolitik des autonomen Südtirol ist der Landeshaushalt. Für viele ist er auch das entscheidende Instrument: Er gilt zuweilen als ein Element, das auf geradezu wundersame Weise den Wohlstand sichert. Diese Einschätzung übersteigert freilich seine tatsächliche Bedeutung. Eine üppige Dotierung des Haushalts stellt ohne jeden Zweifel eine wichtige politische Manövriermasse dar. Öffentliche Ausgaben sind nicht ausschließlich, aber eben auch dazu bestimmt, verschiedene Interessengruppen bei Laune zu halten. Nüchtern betrachtet ist Südtirol in dieser Hinsicht nicht anders als andere Regionen oder Staaten auch. Die ökonomischen Dimensionen des Haushaltes sind weitaus unspektakulärer als es die idealisierte Vorstellung der wohlwollenden Politik suggeriert.
Der öffentliche Haushalt ist zunächst nichts anderes als ein Instrument, das auf der einen Seite einen Teil der Einkommen, die von allen Erwerbstätigen erwirtschaftet werden, in Form von Steuern und Abgaben aufnimmt, um sie Zwecken zuzuführen, die von öffentlichem Interesse sind. Grob gesprochen gibt es hierfür drei Gründe: Effizienz, Stabilisierung und Umverteilung.
Mit Effizienz ist gemeint, dass in bestimmten Bereichen die öffentliche Hand bessere Ergebnisse erzielen kann als private Unternehmen oder Haushalte, wie z.B. in Bildung, Justiz und öffentlicher Sicherheit im weitesten Sinne. Ob und in welchem Ausmaß der Südtiroler Haushalt dem Effizienzziel gerecht wird, lässt sich schwer bestimmen. Umfassende Erhebungen oder Analysen, die die Qualität und Effizienz der Landesverwaltung systematisch unter die Lupe nehmen, sind dem Autor nicht bekannt. Es gibt sicherlich viele Bereiche, in denen die öffentliche Hand durchaus mit Verstand und Effizienz agiert und damit ihren Eingriff gegenüber einer privaten Lösung rechtfertigt. Gleichzeitig gibt es aber auch viele Bereiche, in denen der Vorteil für die Allgemeinheit nicht unbedingt auf der Hand liegt: Dazu gehören sicherlich die Wirtschaftsförderung, die von vielen Unternehmen mittlerweile beinahe als angestammtes Recht wahrgenommen wird und nicht als ein gezieltes wirtschaftspolitisches Instrument;8 dazu gehört aber auch die relativ starke Präsenz des Landes als Unternehmer in verschiedensten Bereichen. Diese Präsenz suggeriert, direkt oder indirekt, die öffentliche Hand wäre der bessere Unternehmer als Private. Internationale Erfahrung belegt ziemlich erdrückend das Gegenteil (Vgl. Vining/Boardman 1992).
Die Stabilisierungsfunktion des öffentlichen Haushaltes fußt im weiteren Sinne auch auf Effizienzüberlegungen. Die Politik sollte demzufolge den Haushalt nutzen, um konjunkturelle Schwankungen, einschließlich der damit verbundenen Nebenwirkungen wie Arbeitslosigkeit in einer Rezession oder Überhitzung in einer Boomphase zu mindern. Die Möglichkeiten des Südtiroler Landeshaushaltes sind in diesem Zusammenhang begrenzt. Das gewählte Prinzip eines jährlich ausgeglichenen Haushaltes mag aus Gründen der finanzpolitischen Vorsicht begründbar sein, er schließt allerdings die Stabilisierungsfunktion aus. In Südtirol nimmt die öffentliche Hand während einer Rezession keine Schulden auf, um temporäre Einnahmenverluste auszugleichen und das Ausgabenniveau auf Kurs zu halten, und sie legt auch in guten Zeiten keine Reserven für schlechte Zeiten an. Sie gibt, vereinfacht ausgedrückt, alles aus und setzt sich demnach dem Risiko der Prozyklizität aus, sprich sie könnte Konjunkturschwankungen verstärken.9 Ob dies der hiesigen Wirtschaftsentwicklung schadet, ist schwer zu sagen. Südtirol ist nicht immun gegen Konjunkturschwankungen, allerdings hält sich vor allem die klassische Nebenwirkung von Konjunkturabschwüngen, die Arbeitslosigkeit, in Südtirol ohnehin in Grenzen. Ein temporärer Anstieg der Arbeitslosenrate von, sagen wir, 2,1 Prozent auf 4 Prozent stellt kein wirkliches Problem dar. Darüber hinaus fließt ein sehr großer Teil der Landesausgaben in die Gehälter der Landesbediensteten, die unabhängig vom jeweiligen Konjunkturgeschehen ausgezahlt werden und damit einen stabilisierenden Sockel darstellen.
Mit der Umverteilungsfunktion der öffentlichen Hand werden Gerechtigkeitsaspekte angesprochen. Je nach politischer Couleur der Regierungen beinhaltet ein öffentlicher Haushalt mehr oder weniger Elemente, die insbesondere den untersten Einkommensschichten helfen sollen. Welche Verteilungswirkung hat der Südtiroler Haushalt? Leider lässt sich auch hierzu keine klare Aussage treffen. Dass es keine einschlägigen und umfassenden Studien gibt, ist nicht wirklich verwunderlich. Erstens bedarf es dazu sehr detaillierter und komplexer Datensätze und zweitens sind die möglichen Ergebnisse nicht immer sehr schmeichelhaft und politisch heikel, zumal sie häufig im Widerspruch zum öffentlichen Bekenntnis stehen können. Gewollt oder ungewollt hat jeder haushaltspolitische Eingriff, einschließlich der öffentlichen Investitionen oder der Wirtschaftsförderung, eine Verteilungswirkung, die nicht unbedingt den unteren Einkommensschichten zugute kommt. Die gilt für alle öffentlichen Haushalte, und Südtirol ist vermutlich keine Ausnahme. Besonders interessant ist hier der geförderte Wohnbau, der mit dem erklärten Ziel betrieben wird, unteren Einkommensschichten erschwinglichen Wohnraum zur Verfügung zu stellen. Unerwünschte Nebenwirkungen hiervon sind ein aufgeblähter Bausektor und, je nachdem wie die Förderung erfolgt, höhere Kauf- und Mietpreise. Ein weiteres Beispiel sind Studienstipendien.
In Südtirol kommt zu den drei klassischen Funktionen des öffentlichen Haushalts noch ein weiterer Aspekt hinzu, der in der öffentlichen Wahrnehmung besonders wichtig ist, nämlich der des öffentlichen Transfers von und zur staatlichen Ebene. Im Unterschied zu wohlhabenden italienischen Regionen mit Normalstatut erhält Südtirol einen größeren Teil der im Lande eingehobenen Steuern und Abgaben zurück: Finanzautonomie als Schutzschild vor staatlichem Zugriff. Die Frage, die sich in diesem Zusammenhang aufdrängt, ist, ob und inwiefern höhere Nettotransfers an den Zentralstaat die Wirtschaftsentwicklung tatsächlich hemmen.
Transfers haben zunächst nichts mit der Entstehungsseite der Wirtschaftsleistung zu tun; das heißt, sie mindern vorweg nicht die Wertschöpfung einer Region, sondern wirken auf der Verwendungsseite: Mittel, die in einer Region erwirtschaftet werden, stehen nicht direkt dieser Region zur Verfügung. Man könnte freilich annehmen, dass Nettotransfers in Richtung Zentralregierung die Wirtschaftsleitung auf längere Sicht negativ beeinflussen. Warum sollte man sich anstrengen, wenn ein Teil der Leistung abgeführt werden muss? Oder anders formuliert: Wären Regionen wie die Lombardei, Venetien oder die Emilia-Romagna noch stärker gewachsen und hätten ein noch höheres Pro-Kopf-Einkommen erzielt, wenn sie nicht regelmäßig einen nicht unbeträchtlichen Teil ihrer Wirtschaftsleistung nach Rom abführen hätten müssen? Schwer zu glauben.
Dass wirtschaftsstarke Regionen mit Normalstatut im Norden Italiens in den letzten drei Jahrzehnten eine zunehmende Frustration über die Transferzahlungen nach Rom entwickelt haben, die letztlich im Erfolg der Lega Nord zum Ausdruck kommt, ist vornehmlich ein politisches Problem. Es hat damit zu tun, dass nach mittlerweile 150 Jahren staatlicher Einheit, und mehr oder minder ebenso langen Transferzahlungen, der Süden immer noch nicht auf die Beine gekommen ist. Mit anderen Worten, die Investitionen in den Süden haben nicht die erwarteten Früchte getragen und das Geld hätte vermutlich mehr abgeworfen, hätte man es im eigenen Garten oder jedenfalls woanders angelegt.
Zugegebenermaßen ist es grundsätzlich vorteilhafter, wenn eine Region uneingeschränkt über ihre eigene Wertschöpfung verfügen kann. Allerdings liegt der Vorteil in erster Instanz bei denen, die über die öffentlichen Einnahmen verfügen können, sprich bei der zuständigen Regierung. Was sie damit macht, ist eine andere Sache. Theoretisch könnte die Südtiroler Landesregierung, wenn sie der Meinung wäre, dass die Einnahmenlast zu hoch sei, jedem Südtiroler Steuerzahler einen Teil der eingehobenen Steuern, deren Höhe im Wesentlichen in Rom entschieden wird, zurückzahlen, und zwar im Verhältnis zu den Steuern, die jeder Einzelne gezahlt hat. Dies wäre technisch möglich und fair, für die Politik allerdings schwer zu verdauen. Die Zuteilung und Verwendung würde nicht mehr von ihr beeinflusst; sie wäre vorgegeben.
7. Epilog
Das Wechselspiel zwischen Politik und Wirtschaft ist naturgemäß komplex. Dies gilt auch für die Umsetzung des Zweiten Autonomiestatuts in Südtirol und der hiesigen Wirtschaftsentwicklung. Kategorisch zu behaupten, die Autonomie hätte ohne den Schatten eines Zweifels die Wirtschaftsentwicklung begünstigt, wäre pure Propaganda. Zu behaupten, die Autonomie hätte als Bremsklotz gewirkt, wäre ebenso unbegründet.
Die Politik hat grundsätzlich das Potential, die Wirtschaftsentwicklung positiv zu beeinflussen, indem sie eine ganze Reihe von Unzulänglichkeiten in der Marktwirtschaft mittels regulativer oder haushaltspolitischer Instrumente angeht und/oder korrigiert. Die Lehren und Einsichten aus beidem, Wirtschaftswissenschaften und Erfahrung, lassen daran keinen Zweifel.
Erfahrung und Lehre bestätigten allerdings ebenso überzeugend, dass Politik nicht notwendigerweise das Gemeinwohl im Auge hat, nicht zuletzt, weil es in der Praxis so etwas wie das Gemeinwohl nicht gibt.10 Was es gibt, sind eine ganze Reihe unterschiedlichster Interessen, die von unterschiedlichsten politischen Gruppierungen innerhalb oder über Parteigrenzen hinweg wahrgenommen werden: Arbeitgeber vs. Arbeitnehmer, Konsumenten vs. Produzenten, Landwirtschaft vs. Industrie, Industrie vs. Fremdenverkehr, Umweltschützer vs. solche, die Umweltressourcen aufbrauchen, Bedienstete im privaten vs. öffentlichen Bereich, Einheimische vs. Zuwanderer, Steuerzahler vs. Steuerhinterzieher und vieles Ähnliche mehr. Es gibt natürlich immer Ausnahmen, auch in der Politik. Aber wenn in diesem nüchternen Ausgleich verschiedenster Interessen am Ende etwas herauskommt, das der Wirtschaft tatsächlich hilft, ist das – überspitzt formuliert – mehr eine Frage des Zufalls als Absicht.
Fakt ist, dass Südtirol seit den 70er-Jahren mit beeindruckend stetigen und großen Schritten in der Rangordnung des Wohlstands nach oben geklettert ist. Fakt ist auch, dass andere Regionen in und außerhalb Italiens mit ähnlichen, aber auch solche mit völlig anderen politischen und institutionellen Voraussetzungen einen ähnlichen Erfolg hingelegt haben.
Unbestritten ist vermutlich auch, dass das Zweite Autonomiestatut Südtirol eine politische Stabilität gegeben hat, eine Rahmenbedingung, ohne die die Wirtschaft mit ziemlicher Sicherheit nicht hätte gedeihen können. Man stelle sich einfach ein Südtirol ohne die verschiedenen institutionellen Sicherheiten und Vorkehrungen vor, die ein friedliches Zusammenleben der Sprachgruppen ermöglicht haben und weiterhin ermöglichen. Welcher lokale oder überregionale Investor möchte in einem Land investieren, in dem der ethnische und soziale Friede am sprichwörtlich seidenen Faden hängt? Wie viele qualifizierte Arbeitskräfte zögen es vor, ihr Glück außerhalb einer solchen Region zu suchen?
Stabilität ist in der Tat eine notwendige Voraussetzung für ökonomischen Erfolg. Ist sie auch eine hinreichende Bedingung? Wie steht es mit der Hingabe, dem Eifer, der Redlichkeit, dem Anstand, der Leidenschaft, der Findigkeit und der Klugheit der heimischen ArbeitnehmerInnen und ArbeitgeberInnen im privaten wie im öffentlichen Sektor? Diese Kategorien klingen in Zeiten ausgeprägter Ironie und galoppierenden Zynismus reichlich abgegriffen. Die genannten Kategorien – in der Fachsprache der Ökonomen knapp als Sozialkapital bezeichnet – wiegen indes schwer, schwerer vermutlich als viele wirtschaftspolitische Faktoren. Wirtschaftspolitik spielt häufig eher die Rolle eines Schwarzfahrers des ökonomischen Erfolgs und nicht die des Chauffeurs.
Zu guter Letzt, und aus Loyalität zur Institution, die dem Autor dieser Zeilen seit über zehn Jahren eine stimulierende berufliche und intellektuelle Heimat bietet, gibt es natürlich noch die europäische Integration. Ohne den Einigungsprozess, der vor über 60 Jahren mit der Unterzeichnung des Vertrages der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl seinen Anfang genommen hat, wäre Südtirol höchstwahrscheinlich eine mehr oder weniger abgelegene Grenzregion im Norden Italiens. Nicht nur, aber auch dank des freien Verkehrs von Menschen, Waren und Dienstleistungen, den der Einigungsprozess ermöglicht hat, liegt Südtirol im Herzen Europas.
In den frühen 70er-Jahren hat der damalige US-Außenminister Henry Kissinger mit seiner legendären Durchtriebenheit den chinesischen Premierminister Zhou Enlai um eine Einschätzung der Französischen Revolution gebeten. Darauf Zhou Enlai: „Too soon to tell“. So ähnlich verhält es sich wohl auch mit der Südtiroler Autonomie in Bezug auf die Wirtschaftsentwicklung. Es ist viel zu früh, um eine derart schwerwiegende Frage in die eine oder andere Richtung zu beantworten.
Anmerkungen
1 In der neuen Wirtschaftsgeografie nimmt seit einigen Jahrzehnten das Kern-Peripherie-Modell einen dominanten Platz ein. Dieses Modell, bestätigt durch zahlreiche empirische Untersuchungen, unterstreicht die Bedeutung geografischer Bedingungen für die Wirtschaftsleistung einer Region. Zentripetale Kräfte wie die Größe und Nähe zu starken Märkten, niedrige Transportkosten und der Zugang zu qualifizierten Arbeitskräften halten bestehende Kernregionen über die Zeit zusammen. Besonders interessante Beispiele aus der einschlägigen Literatur sind Krugman 1998 oder Venables 2008.
2 Eurostat (2009): Eurostat regionale Arbeitsmarktstatistiken (LFS): Beschäftigung nach Wirtschaftszweigen (1999-2009, NACE Rev.1.1). Die exakte sektorale Abgrenzung ist Landwirtschaft und Fischerei. Vgl. http://epp.eurostat.ec.europa.eu/portal/page/portal/statistics/themes
3 Der Anteil der Dienstleistungen in den neuen Mitgliedstaaten ist ob ihrer zurückhängenden Wirtschaftsentwicklung deutlich niedriger, nämlich 56,8 Prozent im Jahr 2007. Sie sind vor allem durch einen sehr hohen Anteil der Industrie (33,1 Prozent) und natürlich der Landwirtschaft nebst Fischerei (10 Prozent) gekennzeichnet.
4 Im Jahr 2007 lag der Beschäftigungsanteil der Südtiroler Industrie bei knapp 24 Prozent gegenüber einem EU-Durchschnitt von 27 Prozent. Im Vergleich: Die Provinz Trient liegt über dem EU-Durchschnitt.
5 Lange Zeit vernachlässigt, scheint das Thema Einkommensverteilung in der öffentlichen Debatte in Südtirol zunehmend an Bedeutung zu gewinnen. Immer mehr EinwohnerInnen haben den Eindruck, vom anhaltenden Wachstum relativ wenig abzubekommen.
6 Ökonomen sprechen in diesem Zusammenhang vom Rybczynsky-Effekt. Wenn in einer Ökonomie Vollbeschäftigung herrscht (was in Südtirol de facto der Fall ist), dann bedeutet der Anstieg eines Produktionsfaktors (z.B. die Zuwanderung von relativ niedrig qualifizierten Arbeitskräften), dass diejenige Produktion absolut ausgedehnt wird, die diesen Faktor intensiv nutzt, und jene Produktion absolut eingeschränkt wird, die diesen Faktor weniger intensiv nutzt, sprich die Produktion mit intensiver Nutzung höher qualifizierter Arbeitskräfte und im Schnitt höherer Produktivität.
7 Italien hat sich lange Zeit, und zum Teil gilt das auch heute noch, auf die komparativen Vorteile des Made in Italy in Bereichen wie Möbel, Bekleidung und anderen Produkten versteift. Diese komparativen Vorteile waren tatsächlich vorhanden und manche glaubten, dass man der zunehmenden Konkurrenz aus den aufstrebenden Ökonomien Asiens und Lateinamerikas ausweichen könnte, indem man ganze Wirtschaftszweige gewissermaßen auf Armani- oder Gucci-Niveau bringt – ein großer Irrtum. Der Wohlstand für die Masse wird auf lange Sicht von der Qualifikation und Produktivität der Beschäftigung bestimmt, und in diesen Bereichen hat Italien vieles versäumt. Heute ist die Wachstumsschwäche Italiens offenkundig und das Made in Italy vielfach eine Marke, die auf bessere Zeiten aus der Vergangenheit verweist.
8 Der größte Teil der Fördermittel wird nach wie vor für Investitionsbeihilfen ausgegeben, für eine Aktivität also, die ohne weitere Begründung, wie etwa möglichen Ineffizienzen am lokalen Kreditmarkt, von jedem Unternehmer ausschließlich auf der Grundlage betriebswirtschaftlicher Überlegungen und im Rahmen der üblichen Unsicherheiten auszuführen ist, das heißt, eine Investition wird profitabel oder nicht.
9 Aufgrund des speziellen Mechanismus des Steuerausgleiches ist es durchaus möglich, dass die Einnahmen der Autonomen Provinz Bozen nicht notwendigerweise mit dem Konjunkturzyklus synchronisiert sind, zumal für die Berechnung keine laufenden, sondern ältere Daten herangezogen werden. Völlig auszuschließen ist das Risiko der Prozyklizität deshalb nicht. Die Praxis eines ausgeglichenen Haushaltes schließt in jedem Fall eine aktive Konjunkturpolitik aus.
10 Eine Branche der Wirtschaftswissenschaften, die seit den späten 80er-Jahren einen regelrechten Boom erlebt, die sogenannte political economy, beschäftigt sich mit eben dieser Problemstellung. Eine umfassende Übersicht bietet Drazen (2000). Eine etwas anschaulichere Darstellung ausgewählter Beispiele findet sich in Shleifer/Vishny (1998).
Literaturverzeichnis
Castlunger, Ludwig (2010). Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung Südtirols/Conto economico della provincia di Bolzano1995–2009, astat tab sammlung/raccolta Nr. 3, 11/2010. http://www.provinz.bz.it/astat/de/volkswirtschaft/595.asp?GesamtrechnungPubl_action=4&GesamtrechnungPubl_article_id=158062
Drazen, Allan (2000). Political Economy in Macroeconomics, Princeton: University Press
Europäische Union (1981). Eurostat Jahrbuch der Regionen 1981, Luxemburg: Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften
Europäische Union (2010). Eurostat Jahrbuch der Regionen 2010, Luxemburg: Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften. http://www.eds-destatis.de/downloads/publ/KS-HA-10-001-DE-N.pdf
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Abstracts
L’amministrazione autonoma è veramente stata una benedizione per lo sviluppo economico della Provincia? Magari.
È oramai da quarant’anni che in Alto Adige è entrato in vigore il Secondo Statuto di Autonomia. Questo ha marcato un importante cambiamento nella storia politica e sociale della regione ed ha anche goduto d’un notevole successo economico nel corso dei passati decenni. Quanto di questo successo è legato al maggiore grado di autodeterminazione in rapporto alle regioni confinanti in Italia e fuori? Questo articolo sostiene che mentre il ruolo dell’autodeterminazione è probabilmente sovrastimato nel dibattito a livello locale, esso arriva ad identificare una serie di temi che determineranno il corso futuro dell’economia locale. In particolare, i legislatori hanno un ruolo importante da rivestire nell’impostare un programma per il lungo termine: essi devono consolidare ulteriormente un modello che, bisogna ammetterlo, ha avuto successo fino ad ora e che si basa sempre di più su manodopera relativamente a buon mercato e non qualificata, specialmente nel campo del turismo, o dovrebbero piuttosto puntare su di un nuovo modello, un modello che possa offrire migliori prospettive di crescita per il futuro? Anche senza statistiche affidabili a livello sub-nazionale è chiaro come la qualità delle istituzioni locali rappresenti per il futuro un valore importante.
É l’aministraziun autonoma stada na benedisciun por le svilup economich? Al podess ester.
Dan da carant’agn él jü en forza te Südtirol le Secundo Statut d’autonomia. Al à portè na mudaziun importanta tla storia politica y soziala dla provinzia, che à arjunt ti ultims dezenns inće n suzès economich nia da püch. Te ći mosöra é pa chësc suzès lié ala majera autonomia, respet a d’atri raiuns vijins tla Talia y foradecà? Chësc articul spliga che inće sce l’importanza dl’autonomia vëgn bunamënter suravalutada tla discusciun locala, determinëiera impò cer faturs sarà determinanć por le svilup dl’economia locala tl dagnì. En particolar à chi che definësc les regoles na pert importanta canche ara nen va de definì na strategia por n tëmp plü lunch: ô chisc consolidé chësc model che va tan bun, che é reconesciü lunc y lerch y che se tralascia tres deplü sön n laûr relativamënter bun marćé y nia cualifiché, dantadöt tl turism, o prôn de cherié n’atra sort de model, un che pîtes de mius prospetives de svilup tl dagnì? Inće zënza statistiches sigüdes a livel regional, él tler che la cualité dles istituziuns locales é na richëza che vëgn portada inant.
Was Local Self-Government a Blessing for Economic Development? Possibly.
It is now forty years ago that the Second Statute of Autonomy went into force in South Tyrol. This marked an important change in the political and social history of the region, which has also enjoyed remarkable economic success over the past several decades. How much of this success is linked to the higher degree of self-government in relation to neighbouring regions of Italy and beyond? This article argues that whilst the role of self-government is probably overrated in the local debate, it identifies a number of issues that will determine the future course of the local economy. In particular, policymakers have an important role to play when setting the course for the longer term: Should they further consolidate a model that has, admittedly, been successful thus far and that relies increasingly on relatively cheap and unqualified labour, especially in tourism? Or should they set a new goal: a model that offers better growth prospects for the future? Even without reliable statistics at the sub-national level, it is clear that the quality of local institutions represents an important asset going forward.