Peter Hilpold
20 Jahre Streitbeilegungserklärung – Gedankensplitter aus völkerrechtlicher Sicht
1. Einführung1
Seit bald einem Jahrhundert beschäftigt die Südtirolfrage die völkerrechtliche und die minderheitenrechtliche Diskussion. Diese Diskussion war geprägt von historischen Marksteinen, wozu beispielsweise zählen:
1918 die Begründung der Südtirolproblematik mit dem Ende des Ersten Weltkrieges und dem für die österreichisch-ungarische Monarchie ungünstigen Kriegsverlauf;
1920 die Annexion Südtirols;
1939 das Optionsabkommen zwischen Deutschland und Italien, das bestimmt gewesen wäre, das Südtirolproblem durch einen Bevölkerungstransfer zu lösen;
1945 das Ende des Zweiten Weltkrieges und das Ende des Faschismus mit der damit verbundenen Hoffnung der deutsch- und ladinischsprachigen Bevölkerung einer möglichen Rückgliederung Südtirols zu Österreich;
1946 das Gruber-De Gasperi-Abkommen, das stattdessen eine Autonomielösung vorsah;
1948 der Erlass des Ersten Autonomiestatuts, das sich als völlig unzureichend erwiesen hat;
1972 das Inkrafttreten des im Vergleich dazu geradezu revolutionären Zweiten Autonomiestatuts, das nun eine echte Autonomie für Südtirol vorsah, die in den Folgejahren sukzessive auch umgesetzt worden ist;
1992 die Abgabe der Streitbeilegungserklärung.
Nach Maßgabe einer solchen Chronologie stellt sich die Rechtsgeschichte Südtirols wie eine biblische Abfolge von Ereignissen dar, die mit einer schweren Versuchung für ein Volk beginnt, durch ein Tal der Tränen führt und letztlich zur Erlösung geleitet, die zwar nicht mit Selbstständigkeit verknüpft ist, aber dennoch – ganz im Sinne der modernen Relativierung der Staatlichkeit – den Weg zu einem friedlichen Zusammenleben sprachlich verschiedener Volksgruppen eröffnet. Angesichts der Vielzahl an ethnischen Konflikten weltweit muss eine solche Erfolgsgeschichte geradezu dazu verleiten, nach den Erfolgsfaktoren für diese Entwicklung Ausschau zu halten. Was waren die Determinanten dieses Erfolges? Sind diese reproduzierbar und auf andere Konfliktgebiete übertragbar? In welche Richtung bewegt sich Südtirol selbst? Sowohl innerhalb Südtirols (und in den benachbarten Regionen) als auch international werden diese Themen diskutiert, weshalb es durchaus angebracht erscheint, diese Fragen in einen breiteren politisch-rechtlichen Kontext zu stellen.
2. Südtirol eine Frage des Völkerrechts?
Eine Reihe von maßgeblichen Ereignissen des 20. Jahrhunderts haben auch Südtirol gestreift, beginnend mit der Begründung der Problematik selbst. So ist bekannt, dass diese Problemstellung häufig im Kontext eines verweigerten Selbstbestimmungsanspruchs dargestellt wird. Tatsächlich hat die Proklamation des 14-Punkte-Programms durch Wilson und das darin enthaltene Selbstbestimmungsprinzip der Hoffnung Nahrung gegeben, dass die Bevölkerung Südtirols ihren Status selbst bestimmen können würde. In der Realität ist dies bekanntlich nicht der Fall gewesen. Das Selbstbestimmungsprinzip ist in völlig uneinheitlicher Form angewandt worden, wobei in der Nachkriegsrealität sehr rasch deutlich geworden ist, dass eine Grenzziehung „entlang klar erkennbarer ethnischer Siedlungslinien“, so wie sie Wilson für Italien vorgeschwebt war, niemals realisierbar war.2 Aber selbst in Bezug auf Südtirol, wo dieses Prinzip nach Maßgabe der erwähnten Regel anwendbar gewesen wäre, ist es tatsächlich unangewendet geblieben, da man anderen Gesichtspunkten den Vorrang eingeräumt hat – und zwar insbesondere dem Wunsch, den Bündnispartner Italien zufriedenzustellen, der nun seine Gegenleistung für den Kriegseintritt 1915 verlangte (Vgl. Hilpold 2009).
Selbst Minderheitenschutz ist der Südtiroler Bevölkerung verweigert worden, was auf den ersten Blick verblüffen muss, da im Rahmen des Völkerbundsystems in der Nachkriegszeit ein historisch einzigartiges Schutzsystem heranreifte (Vgl. Hilpold 2006, 2009, Azcárate 1945). Die positiven Errungenschaften des Völkerrechts blieben Südtirol in der Nachkriegszeit somit – wie es schien – verwehrt. Dafür fand ein anderes Instrument Anwendung: die Umsiedlung, die in der Zwischenkriegszeit, aber auch während des Zweiten Weltkrieges und selbst nach dem Zweiten Weltkrieg in eklatanter Verletzung der Prinzipien, für welche die Alliierten den Zweiten Weltkrieg geführt hatten, auf breiter Ebene zur Anwendung gekommen ist. Das Optionsabkommen, der Hitler-Mussolini-Pakt aus dem Jahr 1939, steht heute für eine menschenverachtende Politik, die – aus einem pathologischen nationalistischen Geist heraus geboren – bereit war, unsägliches Leid über ganze Völkergruppen kommen zu lassen, nur um ethnisch reine Siedlungsgebiete zu schaffen. Das Optionsabkommen war aber bei Weitem nicht das grausamste dieser Zeit. Dafür steht viel eher das Abkommen von Lausanne 1923, das im Übrigen eine nationalistische Politik exemplifiziert, deren Wunden immer noch nicht geheilt sind, und das Potsdamer Abkommen 1945, das unter dem Schlagwort einer ordnungsgemäßen und humanen Überführung Vertreibungsaktionen zutiefst inhumaner Natur legitimierte.3
Südtirol stand also in dieser Zeit abseits des Anwendungsbereichs der maßgeblichen Schutzmechanismen. Dass Südtirol Unrecht widerfahren ist, war der Weltöffentlichkeit bewusst. Es ist auffallend, welche Aufmerksamkeit die Südtirol-Problematik in der einschlägigen international rechtlichen und politischen Diskussion der Zwischenkriegszeit auf sich gezogen hat.4 Dabei wird in der minderheitenrechtlichen Literatur darauf hingewiesen, wie sehr sich Südtirol als Negativbeispiel eines völlig verweigerten Schutzes darstellt (Vgl. Mayr 1928, 207ff).
1945 zeigt sich allerdings, wie wenig der Schutzmechanismus des Völkerbundes das Überleben einer Minderheit garantieren konnte. Es ist auffallend, dass gerade die Minderheiten, die zuvor in den Anwendungsbereich dieser Vorkehrungen gefallen waren, nunmehr Opfer grausamster Verfolgung und Vertreibung geworden sind. Man kann nur spekulieren, was das Los Südtirols 1945 gewesen wäre, wenn in der Zwischenkriegszeit dort eine Völkerbundregelung Anwendung gefunden hätte.
Die Zeit nach 1945 war grundsätzlich keine besonders vorteilhafte für Minderheiten. Minderheiten aber, die sprachlich-ethnisch einer der Verlierernationen des Zweiten Weltkrieges angehörten, mussten sich auf das Schlimmste gefasst machen, wobei die humanistisch geprägten Prinzipien des Sozialismus in Mittel- und Osteuropa in ihr Gegenteil verkehrt wurden. Diese leidvolle Erfahrung musste gerade die italienische Minderheit in Jugoslawien machen, deren weitgehende Auslöschung Italien nichts entgegensetzen konnte und die Alliierten nichts entgegensetzen wollten.
Südtirol stellte sich diesbezüglich wieder als Sonderfall dar – diesmal zum Vorteil des Landes und seiner Bevölkerung.
Der Pariser Vertrag folgte nicht gerade der damals vorherrschenden nationalistischen Logik und der Problemlösung durch Grenz- oder Bevölkerungsverschiebung. Es wurde vielmehr der genau gegenteilige Ansatz verfolgt, der auf eine Logik zurückgriff, die gerade für Vielvölkerstaaten der Vergangenheit typisch war. Es sollte nach Wegen und Instrumenten gesucht werden, die das Zusammenleben von Völkern auf demselben Territorium erlauben sollten. Ein fremdnationaler Staat wurde verpflichtet, das Überleben einer Minderheit zu garantieren.
Dass eine solche Lösung möglich wurde, ist nur aus dem Gesamtkontext der unmittelbaren Nachkriegszeit zu erklären, mit einem Staat Italien, dem die Alliierten nichts schuldig waren, den man aber trotzdem nicht schwächen wollte, und mit Österreich, dessen Schicksal noch ungewiss war, das man aber geneigt war, nicht dem Deutschen Reich gleichzusetzen, sondern das als erstes Opfer der nationalsozialistischen Aggression qualifiziert wurde. Gleichzeitig war Südtirol auch zu einer Frage des internationalen bzw. europäischen Gewissens geworden (Vgl. Huter 1965).
3. Die Umsetzung des Pariser Vertrages vom 5. September 1946
Gilt schon für jede nationale Rechtsnorm, dass ihre Wirksamkeit von der Bereitschaft abhängt, diese sachgerecht auszulegen und anzuwenden, so trifft dieser Umstand für völkerrechtliche Normen in noch stärkerem Maße zu. Völkerrechtliche Normen sind nämlich regelmäßig viel allgemeiner gehalten als innerstaatliche Bestimmungen und sie bedürfen – zumindest in der überwiegenden Zahl der Fälle – einer innerstaatlichen Umsetzung. Dies bedeutet keineswegs, dass völkerrechtliche Normen weniger wirksam wären als nationales Recht (Vgl. Akehurst 1988), doch bedarf es zur Sicherstellung dieser Wirksamkeit gesonderter Mechanismen. Wird der Umsetzungsauftrag nicht im Geiste der Vertragstreue wahrgenommen, so bleiben die betreffenden Verpflichtungen leere Worthülsen. Dies war in den ersten Jahren der Umsetzung des Pariser Vertrages der Fall. Formell ist Italien mit dem Ersten Autonomiestatut des Jahres 1948 seinen Verpflichtungen in diesem Vertrag zwar nachgekommen, weshalb man diesem Staat – zumindest prima facie – auch keinen Vertragsbruch vorwerfen konnte. Dem Geiste eines Instruments, das dazu bestimmt war, das Überleben und die weitere Entfaltung einer Minderheit zu ermöglichen, wurde das innerstaatliche Recht aber bei Weitem nicht gerecht.5
Dabei führte die italienische Regierung nur fort, was dem italienischen Staat seit seiner Gründung 1861 für sein Selbstverständnis in die Wiege gelegt worden war: Die sprachlich-ethnische Vielfalt der italienischen Nation war ein Einigungshindernis und es musste alles daran gesetzt werden, eine einheitliche italienische Nation formend zu schaffen. Für die Existenz, den Fortbestand oder gar die weitere Förderung bestand aus dieser Perspektive ganz grundsätzlich kein Verständnis. Nunmehr gab es zwar ein internationales Abkommen, das eine minderheitenfreundliche, minderheitenfördernde Haltung gefordert hätte. Getreu der in Italien vorherrschenden dualistischen Sichtweise in Bezug auf das Verhältnis zwischen Völkerrecht und Landesrecht6 wurde aber ausschließlich die innerstaatliche Umsetzungsnorm der völkerrechtlichen Verpflichtung herangezogen, diese wurde wiederum ganz im Sinne der italienischen Einheitsidee interpretiert.
Damit das Pariser Abkommen voll wirksam werden konnte, mussten also erst geeignete völkerrechtliche Verfahren aktiviert werden, die Italien an seine Pflicht zur Vertragstreue (pacta sunt servanda) erinnern sollte.
Von entscheidender Bedeutung dafür waren die beiden Resolutionen der Generalversammlung 1960 und 19617, wodurch Österreich und Italien „nachdrücklich“ aufgefordert wurden, „wieder Verhandlungen aufzunehmen, um eine Lösung aller Differenzen hinsichtlich der Durchführung des Pariser Vertrages vom 5. September 1946 zu finden“ (Vgl. Egen 1997).
Damit wurde die internationale Aufmerksamkeit auf das Südtirol-Problem gelenkt und ein Mechanismus in Gang gesetzt, der sich im Völkerrecht regelmäßig als sehr wirksam erwiesen hat. Staaten sind durchgehend bemüht, ihre internationale Reputation zu verteidigen. Ein völkerrechtsfreundliches Verhalten, Vertragstreue und – zumindest für einen Teil der Staatenwelt – die Einhaltung von Menschenrechten sind wesentliche Elemente, die diese Reputation ausmachen.
Besonders hervorgetan hat sich auf österreichischer Seite der damalige Außenminister Bruno Kreisky, dem Südtirol zum Herzensanliegen geworden war und dessen Einsatz für menschenrechtliche Anliegen breite internationale Anerkennung fand.
Die 1961 eingesetzte sogenannte Neunzehnerkommission sollte innerstaatlich einen Problemlösungsprozess in Gang bringen. Diese innerstaatlichen Bemühungen wurden aber immer wieder unterstützt von bilateralen Verhandlungen zwischen Österreich und Italien. Österreich hat seine auf den Pariser Vertrag begründete Schutzfunktion in den 60er-Jahren intensiv wahrgenommen.8
Am Ende dieser Verhandlungen standen das Paket und der sogenannte Operationskalender. Das Paket bestand aus 137 Maßnahmenvorschlägen, wovon 97 durch Abänderung des bestehenden Autonomiestatuts, acht mit Durchführungsbestimmungen und neun mit Verwaltungsverordnungen durchgeführt werden sollten.9 Nach sehr kontrovers geführten Diskussionen auch innerhalb der Südtiroler Volksgruppe – nach wie vor wurde von einigen maßgeblichen politischen Exponenten das Ergebnis als unzureichend angesehen, da die Selbstbestimmung vorenthalten wurde – wurde schließlich innerhalb der Sammelpartei SVP im Jahr 1969 eine Mehrheit für diese Lösung gefunden. Nun konnte die Umsetzung beginnen.
Die Umsetzung erfolgte auf der Grundlage des sogenannten Operationskalenders, der die einzelnen – in erster Linie von Italien – zu setzenden Schritte vorsah.10 Am Ende dieses Prozesses sollte aber eine sogenannte Streitbeilegungserklärung – abgegeben von Österreich und gerichtet an die Vereinten Nationen – stehen, durch welche der seit 1960 bestehende Streit für beendet erklärt werden sollte. Zumindest auf italienischer Seite wurde die Auffassung vertreten, dass mit dem Abschluss des Pakets und der Abgabe der Streitbeilegungserklärung durch Österreich die Südtirol-Frage wieder völlig auf die innerstaatliche Ebene zurückgeführt würde. Ein unmittelbarer Zusammenhang des Paketumsetzungsprozesses mit dem Pariser Vertrag wurde geleugnet. Die Erweiterung und Vertiefung der Autonomie wäre damit eine reine ex gratia-Leistung Italiens gewesen. Umgekehrt wurde in Österreich behauptet, die Einhaltung der Autonomie-Bestimmungen sei international einklagbar (was konkret wohl vor dem Internationalen Gerichtshof hätte geschehen müssen) (Vgl. Minar 1980, Zeller 1989). Beide Positionen ließen aber Zweifel offen: Was die italienische Sichtweise anbelangte, so war nicht zu übersehen, dass die beiden Resolutionen der UN-Generalversammlung mit der Aufforderung, weitere Verhandlungen aufzunehmen, sich auf den Pariser Vertrag stützten. Der nachfolgende Verhandlungsprozess – mag er auch durch den starken Druck vonseiten Österreichs und im Besonderen der Südtiroler Bevölkerung weiter forciert worden sein – ist sicherlich in diesem Gesamtkontext zu sehen. Umgekehrt konnte Österreich aber auch nicht ignorieren, dass Italien konsequent und hartnäckig seinen Rechtsstandpunkt vertreten hat, weshalb auf völkerrechtlicher Ebene zumindest nicht gesichert war, ob ein gegebenenfalls angerufenes Gericht sich einfach darüber hinweggesetzt hätte.
4. Die Umsetzung des Pakets auf der Grundlage des Operationskalenders
Ein erster bedeutender Schritt zur Umsetzung des Pakets wurde mit dem Verfassungsgesetz Nr. 1 vom 10. November 1971 getan, auf dessen Grundlage11 das Autonomiestatut grundlegend reformiert worden ist. Im Ergebnis führte dies zum sogenannten Zweiten Autonomiestatut, enthalten im Einheitstext Nr. 670 vom 31. August 1972. Den beiden Provinzen Bozen und Trient wurde de facto der Status einer Region mit Sonderstatut zuerkannt.12
Der weitere Umsetzungsprozess der Autonomie, der ganz maßgeblich über Durchführungsbestimmungen erfolgte, erwies sich als äußerst mühsam. Abgeschlossen wurde er am 11. Juni 1992 mit der Abgabe der Streitbeilegungserklärung durch Österreich. Der Text dieser Erklärung war schon 1969 festgelegt worden und er schien dem italienischen Rechtsstandpunkt am nächsten zu sein. Von einer völkerrechtlichen Verankerung der Südtirol-Autonomie war keine Rede, und es schien auch kein Platz zu verbleiben, um eine solche noch zu integrieren.
Letztlich hat sich aber gezeigt, dass selbst das, was in Stein gemeißelt zu sein scheint, mit etwas gutem Willen auch weiterentwickelt werden kann. Italien hat nun seinen Rechtsstandpunkt nicht völlig aufgegeben, doch dem österreichischen Standpunkt wurde doch weitgehend Rechnung getragen. So wurden der Note vom 22. April 1992, mit welcher Italien die vollständige Umsetzung des Paketes bekannt gab, zwei Anhänge beigefügt, die den italienischen Sinneswandel indirekt verdeutlichen. Im Einzelnen war dies einmal das Protokoll der Erklärungen des italienischen Ministerpräsidenten Andreotti zur Südtirol-Frage vom 30. Januar 1992 in der Abgeordnetenkammer. Dabei hat Andreotti die einzelnen vom italienischen Parlament beschlossenen Paketumsetzungsmaßnahmen seit 1969 aufgelistet, womit diese in unmittelbaren Zusammenhang mit dem italienisch-österreichischen Streitfall gestellt wurden und als weitere Umsetzungsmaßnahmen zum Pariser Vertrag interpretiert werden können. Des Weiteren wurde der Text des Autonomiestatuts der Region Trentino-Südtirol angefügt. Dabei ist besonders hervorzuheben, dass die italienische Regierung auf den Umstand verweist, wonach die Südtirol-Autonomie als Minderheitenschutzmaßnahme im Sinne des Pariser Vertrages zu interpretieren sei. Dabei wird die Autonomieregelung in Zusammenhang gebracht mit der im Gruber-De Gasperi-Abkommen erwähnten autonomen Gesetzgebungs- und Verwaltungsbefugnis. Die italienische Regierung hat die Internationalisierung der Südtirol-Autonomie aber noch weiter betont, und zwar durch einen Verweis auf die entsprechenden Entwicklungen im Rahmen der KSZE. Damit erklärt die italienische Regierung diese Regelung zum einen zum Referenzpunkt für die Fortentwicklung des entsprechenden Rahmenwerkes, zum anderen verweist die Note auf die KSZE-Kontrollmechanismen für die Prüfung der Frage, ob das Autonomierecht den sich herausbildenden Standards entspricht. Nun ist zwar bekannt, dass die KSZE/OSZE-Standards im Minderheitenrecht weniger weitreichend sind als die Rechtsverbürgungen und Schutzmechanismen, die sich aus dem Autonomiestatut ergeben. In materieller Hinsicht kann der Verweis auf die KSZE/OSZE-Bestimmungen also kaum ein Mehr ergeben. Von eigentlicher Relevanz ist hier aber vielmehr die formale Verknüpfung der Südtiroler Autonomiebestimmungen mit der KSZE/OSZE-Rechtsmasse. Damit wird nämlich in einem zentralen Bereich der minderheitenrechtlichen Verpflichtungen Italiens mit der oben schon angedeuteten, nicht nur für Italien geltenden Praxis gebrochen, wonach einmal übernommene völkerrechtliche Minderheitenschutzverpflichtungen regelmäßig renationalisiert werden, wobei sowohl ihre Verpflichtungsgrundlage relativiert wird als auch Anstrengungen unternommen werden, Interventionsmöglichkeiten auszuschließen. Man mag nun einwenden, diese zusätzliche Internationalisierung des Südtiroler Autonomierechts sei für Italien ungefährlich gewesen, eben weil in absehbarer Zeit kein diesbezüglicher Anpassungsbedarf für die Schutzvorkehrungen auf diesem Gebiet besteht – die Schutzvorkehrungen in Südtirol sind ja weit intensiver und stärker. Dieser Aspekt ist hier aber nicht von zentraler Bedeutung. Weit wichtiger ist der Umstand, dass die italienische Regierung sich grundsätzlich offen gegenüber einer internationalen Absicherung des Südtiroler Autonomierechts gezeigt hat. Das Südtiroler Autonomierecht – und die darin verwobene, zentrale Aufgabenstellung, der Schutz der Minderheiten – können nicht mehr einseitig aufgehoben werden. Italien erkennt an, dass mit dem Paket und mit den dazu folgenden Umsetzungsmaßnahmen ein international verankerter Auftrag erfüllt worden ist.
Auf österreichischer Seite wurde die internationale Absicherung der Südtiroler Autonomie noch deutlicher herausgestrichen. Österreich hat nämlich die Streitbeilegungserklärung in eine umfangreiche Verbalnote eingebaut, in der auf die italienische Note Bezug genommen wird, wobei Österreich die internationale Verankerung der Autonomiebestimmungen noch weit stärker herausgestrichen hat als Italien (Vgl. Hilpold 2001, 167; Fenet 1993).13
5. Schlussfolgerungen
Die zweifache internationale Absicherung des Südtiroler Autonomiestatuts – zum einen durch die erweiterte Fassung der Streitbeilegungserklärung im Vergleich zur ursprünglichen Version laut Operationskalender, zum anderen durch die Anbindung des Südtiroler Autonomierechts an aktuelle Entwicklungen im Minderheitenrecht – kann rechtlich kaum mehr in Zweifel gezogen werden, wenngleich in der politischen Diskussion dieser Umstand nicht immer genügend gewürdigt wird. Die Streitbeilegungserklärung war somit kein definitives Ende eines Prozesses, sondern eher eine Episode in einer Entwicklung, die nicht auf Abschluss, sondern auf Festigung von Errungenschaften durch dauernde Fortbewegung und Adaptierung gerichtet ist. Im Umsetzungsprozess zur Südtirol-Autonomie schaute man über viele Jahre wie gebannt auf den letzten Schritt, auf die Abgabe der Streitbeilegungserklärung und fragte sich, was dann kommen würde. Wer Minderheitenschutz und das Südtiroler Autonomiemodell befürwortete, der war zu Recht in diesem Zusammenhang besorgt, ist doch ein Minderheitenschutzauftrag niemals definitiv erledigt, außer die betreffende Minderheit verzichtet von sich aus auf den Schutzanspruch. Die starre Formel der Streitbeilegungserklärung wurde glücklicherweise dynamisiert und somit stellt sich dieses Problem nicht mehr.
Diese Ausführungen haben aber auch gezeigt, dass minderheitenschutzrechtliche Vorkehrungen stets Teil eines breiteren Kontextes sind. Die Herausbildung der Südtirol-Autonomie war nicht Ergebnis eines geradlinigen Prozesses, der 1918 begonnen hat, sondern die heutige Rechtslage ist nur als Produkt viel weiter reichender historischer Entwicklungen zu verstehen, auf welche die unmittelbar involvierten Staaten nur einen geringen Einfluss hatten, von der Südtiroler Bevölkerung ganz zu schweigen. Europäische und globale Entwicklungen wirken weiter auf die Südtiroler Realität ein (Hilpold 2011). Die Finanz- und Wirtschaftskrise hat die europäischen Staaten vor beispiellose Herausforderungen gestellt, die auch nicht ohne Auswirkungen auf die Südtiroler Autonomierealität bleiben. Welche Folgen wird diese Entwicklung auf die Struktur des italienischen Staates, seine Wirtschaft, seinen Haushalt, seine Kohäsion haben? Allein die Verwirklichung eines umfassenden Steuerföderalismus hätte nachhaltige Auswirkungen auf das Südtiroler Autonomiemodell.14 Nach 1992 ist also keineswegs ein Stillstand eingetreten. Vielmehr sprach man in der Folge von der dynamischen Autonomie, mittlerweile spricht man – sicherlich unter dem Eindruck der Krise des staatlichen Gesamtsystems – von der Vollautonomie. Gerade unter dem Eindruck der turbulenten Entwicklungen in Europa und weltweit wird deutlich, wie wichtig es ist, dass die Südtirol-Autonomie in einen internationalen Kontext eingebunden werden konnte, wobei mit Österreich ein Staat die Schutzfunktion über dieses Land wahrnimmt, der international zahlreiche Beiträge zur Friedenssicherung leistet (Vgl. Hilpold 2010). Die Dürftigkeit des Pariser Vertrages war lange Zeit ein Kritikpunkt. Heute stellt sich diese als Vorteil dar: So sehr sich das internationale Gesamtbild kontinuierlich wandelt und so sehr die Südtirol-Autonomie diesem Wandel auch Rechnung zu tragen hat, so bleibt das Fundament der Südtirol-Autonomie, aus welchem sich die Schutzfunktion ableiten lässt, doch konstant. Und auf dieses Fundament kann auch in Zukunft weitergebaut werden. Wie schon eingangs erwähnt, wird Südtirol international häufig Modellcharakter zugeschrieben. Dies ist in Grenzen zutreffend, wobei der Erfolg eines Autonomiemodells – wie hier mehrfach angedeutet wurde – von einer Vielzahl an Faktoren abhängt, die von den unmittelbar betroffenen Parteien oft nicht direkt beeinflussbar sind. Von ganz entscheidender Bedeutung ist aber eine grundsätzlich positive Haltung zu Fragen des Minderheitenschutzes. Diese war im vorliegenden Fall, spätestens ab 1961, gegeben und konnte insbesondere durch den langen Verhandlungsprozess, der die Umsetzung des Autonomiestatuts gekennzeichnet hat, weiter verstärkt werden. In diesem Sinne kann festgehalten werden, dass den mühsamen Verhandlungen auch Positives abgewonnen werden kann, da sie dazu beigetragen haben, die Parteien einander näher zu bringen. Dieser Geist, der den Verhandlungsprozess gekennzeichnet hat, hat auch nach Abschluss des Pakets fortgewirkt und kann auch gegenwärtig noch für die weitere Entwicklung der Autonomie genutzt werden.
Anmerkungen
1 Der vorliegende Beitrag greift zurück auf verschiedene andere Arbeiten dieses Autors, die die Südtirol-Thematik bzw. Minderheitenfragen zum Gegenstand haben. Primär sind dabei zu erwähnen Hilpold 2001 und 2003.
2 Vgl. Pkt. 9 des Wilsonschen 14-Punkte-Programms: „A readjustment of the frontiers of Italy should be effected along clearly recognizable lines of nationality.“
3 Vgl. Artikel XIII des Protokolls der Potsdamer Konferenz 1945: „Die drei Regierungen haben die Frage unter allen Gesichtspunkten beraten und erkennen an, dass die Überführung der deutschen Bevölkerung oder Bestandteile derselben, die in Polen, Tschechoslowakei und Ungarn zurückgeblieben sind, nach Deutschland durchgeführt werden muss. Sie stimmen darin überein, dass jede derartige Überführung, die stattfinden wird, in ordnungsgemäßer und humaner Weise erfolgen soll.“
4 Dazu haben beispielsweise auch die Veröffentlichungen von Eduard Reut-Nicolussi wie „Tirol unterm Beil“ (1928), englisch „Tyrol under the Axe of Italian Fascism“ (1930) beigetragen.
5 Vgl. zur Entwicklung der Südtirol-Autonomie die profunde historische Analyse von Alcock 1970. Für eine völkerrechtliche Analyse der Entwicklung bis zur zweiten Hälfte der 1960er-Jahre vgl. die ausgezeichnete Studie von Fenet 1968.
6 Nach der dualistischen Sichtweise, die für Italien ganz maßgeblich von Dionisio Anzilotti begründet worden ist, stellen Völkerrecht und nationales Recht zwei unabhängige Rechtskreise dar, die sich allenfalls berühren, niemals aber überlagern können. Die nationale Rechtsanwendung hat sich strikt auf das nationale Recht zu berufen. Völkerrecht ist also insofern und insoweit maßgeblich, als es innerstaatlich eine Umsetzung erfahren hat. Vgl. dazu Anzilotti 1905.
7 Vgl. Res. 1497 (XV) vom 31. Oktober 1960 sowie Res. 1661 (XVI) vom 28. November 1961.
8 Zur Schutzfunktion im Völkerrecht im Allgemeinen sowie in Bezug auf den Südtiroler Kontext im Besonderen vgl. Hilpold/Perathoner 2006.
9 Zum Entwicklungsprozess der Südtirol-Autonomie aus zeitgeschichtlicher Perspektive vgl. Steininger 1999.
10 In diesem Operationskalender wurde ein „ingeniöses System von 18 Zug um Zug durchzuführenden Maßnahmen zur Beilegung des Südtirol-Konflikts“ gesehen. Vgl. Simma 1972, 79.
11 Siehe auch das Verfassungsgesetz Nr. 1 vom 23. Februar 1972.
12 Der Region verblieben nur geringfügige Zuständigkeiten, weshalb in der Folge immer wieder eine Abschaffung – die bislang nicht erfolgte – dieser Einrichtung diskutiert worden ist.
13 Die entscheidende Ergänzung ist in Punkt 6 der österreichischen Verbalnote enthalten und hat folgenden Wortlaut: „Die österreichische Regierung geht unter Beibehaltung ihrer Verantwortung als Unterzeichner des Pariser Abkommens davon aus, dass die von der italienischen Regierung im Interesse der Volksgruppen Südtirols durchgeführten Maßnahmen und somit das Autonomiestatut 1972 mit seinen Durchführungsbestimmungen, ordentlichen Gesetzen und Verwaltungsakten, wie es aus dem Anhang zur Note vom 22. April 1992 hervorgeht, nicht einseitig abgeändert werden, sondern, wie der italienische Ministerpräsident in seinen Parlamentserklärungen vom 30. Jänner 1992, welche der österreichischen Note vom 22. April übermittelt wurden, festgestellt hat, nur im Rahmen der gemeinsamen Verantwortung und des bereits bisher erreichten politischen Konsenses, welche auch für den Fall fortdauern müssen, dass normative Änderungen erforderlich werden sollten.“
14 Vgl. als erste Vorstudie zu den Kräften, denen das italienische Steuersystem im internationalen Kontext ausgesetzt ist, Hilpold, Peter/Steinmair, Walter/Rier, Klaus (2009). Italien im internationalen Wettbewerb der Steuerstandorte, Wien: Linde et al.
Literaturverzeichnis
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Abstracts
20 anni dalla quietanza liberatoria –
Riflessioni dal punto di vista del Diritto Internazionale
La quietanza liberatoria dell’anno 1992 (che pose fine alla vertenza tra Austria ed Italia sulla questione dell’Alto Adige) costituisce un importante punto di riferimento per lo sviluppo dell’autonomia dell’Alto Adige. Secondo l’opinione di molti fino alla quietanza liberatoria l’autonomia si sarebbe ancora potuta sviluppare e migliorare; dopo di essa sarebbe venuto a mancare il ruolo protettore dell’Austria e l’autonomia avrebbe soltanto potuto essere conservata. Questo concetto però finì per dimostrarsi inappropriato. Anche dopo il 1992 l’autonomia continuò a svilupparsi ed il ruolo protettore dell’Austria è presente come prima. Questo è stato reso possibile soltanto grazie alla tempestiva modifica dei termini dell’accordo nel momento in cui il problema dell’autonomia dell’Alto Adige venne portata ad un livello di discussione di Diritto Internazionale. Inoltre il processo di mediazione che ha accompagnato l’introduzione dell’autonomia altoatesina ha anche portato ad un avvicinamento delle parti coinvolte. L’Alto Adige può servire da modello per altre situazioni di minoranze etniche? Nel quadro di questo contributo si vuole far notare come questo sia possibile soltanto in maniera parziale. Il modello altoatesino è stato pesantemente influenzato da particolarità e coincidenze di carattere storico.
20 agn dala Detlaraziun de stlüta dl strit danter l’Austria y la Talia – Reflesciuns dal punt d’odüda dl dërt internazional
La Detlaraziun de stlüta dl strit danter l’Austria y la Talia dl 1992 é n punt de referimënt important por le svilup dl’autonomia de Südtirol. Denant ch’ara gniss dada jö sciafiâ l’autonomia da gnì ampliada y miorada, dedô – insciö aratâ tröc – foss la funziun de sconanza dl’Austria tomada demez y l’autonomia ess ma plü podü gnì conservada. Mo an s’à intenü che chësta interpretaziun n’ê nia dërta. Inće do le 1992 é l’autonomia de Südtirol gnüda laurada fora inant y la funziun de sconanza dl’Austria se mantëgn tres ćiamò inant. Chësc é stè poscibl do ch’al é gnü mudé por tëmp y ora le modus de apajè ia le strit, olache l’autonomia de Südtirol é incö gnüda metüda tlermënter sön le livel dl dërt internazional. Implü à le prozès dles tratatives, che à acompagné la realisaziun dl’autonomia de Südtirol, inće fat rové plü daimprò danter ëi i partis interessà. Pò Südtirol gnì tut ca sciöche model por d’atres situaziuns de mendranza? Tl cheder de chësc articul vëgnel splighé che chësc é ma en pert poscibl. Le model de Südtirol é gnü influenzè cotan da coinzidënzes y da particolaritês storiches.
Twenty Years After the Declaration of Peace –
Thoughts from the Standpoint
of International Law
The 1992 declaration ending the conflict between Austria and Italy, which was in regard to the problem of South Tyrol, is an important reference point for the development of autonomy in the province. Many believed at the time that after the declaration was made, it would not be possible to further strengthen and improve autonomy in South Tyrol, Austria would give up its role as protector, and the province would only just manage to preserve its autonomous status. These fears have proved to be unfounded. South Tyrol’s autonomous rights continued to develop, even after 1992, and Austria continues to exercise its protective power. This was made possible only through a timely modification of the procedural rules for the termination of the conflict, and South Tyrol’s autonomous status achieved international relevance as a result. In addition, the negotiation process that accompanied the implementation of autonomy in the province has clearly brought the parties together. Could South Tyrol be a model for other conflicts between minorities? According to the author, the case of South Tyrol can serve as a model only to a limited extent. In fact, many historical particularities and accidents set South Tyrol markedly apart.