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Philipp Frener

Visionen von Demokratie
in einer gespaltenen Gesellschaft

Die Volksabstimmung vom Oktober 2009

1. Einleitung

Politik in Südtirol zeichnet sich durch zwei extreme Merkmale aus: eine weit ausgreifende Autonomie und eine nach Sprachgruppen getrennte Gesellschaft.1 Trotz einer gewissen Dissonanz schließen sich diese nicht aus, sondern bestärken sich gegenseitig. Zu den Folgen dieser Realität gehört ein wuchtiger Beamtenapparat genauso wie ein impliziter Konsens über das Verständnis von Autonomie innerhalb und zwischen den regierenden Parteien. Doch obwohl das Wort „Autonomie“ in Südtirol Alltagsqualität besitzt, ist das Wissen über die eigentlichen Inhalte derselben recht begrenzt. Überlagert von Debatten über Wiens Schutzmachtfunktion, Roms finanziellem Gebaren und Brüssels Landwirtschaftspolitik erscheint die innere Verfasstheit der Südtiroler Autonomie als nicht diskussionswürdig.

Aber diese Wirklichkeit verkompliziert sich zusehends. Das Autonomiestatut hat sich nicht aus der Südtiroler Bevölkerung entwickelt, sondern ist ein Produkt der Parteipolitik. Die Streitbeilegungserklärung 1992 führte zwar zu einer Verankerung der Südtiroler Autonomie auf (inter)nationaler Ebene, aber gleichzeitig (und vielleicht unbeabsichtigt von den regierenden Parteien) ermöglichte sie auch Kritik an ihr von innen.

Am 25. Oktober 2009 war die wahlberechtigte Bevölkerung Südtirols aufgerufen, über fünf Gesetzesvorschläge abzustimmen. Es ging erstens um den Vorrang der Einheimischen bei der Wohnbauförderung, zweitens um die Erweiterung der direkten Demokratie und die Zulassung von Volksabstimmungen über Großprojekte, drittens um Maßnahmen gegen den Ausverkauf der Heimat, Zersiedelung und Spekulation, viertens um die Neufassung des Landesgesetzes zur direkten Demokratie und fünftens um die Aufgabe jeglichen finanziellen Engagements vonseiten des Landes im Zusammenhang mit dem Flugverkehr.

Es war die erste Volksabstimmung in Südtirol. Als solche kann sie als ein Versuch gewertet werden, die dominante Stoßrichtung in der Südtiroler Politik umzudrehen und die Deutungs- und Gestaltungshoheit von „Autonomie“ den Politikern, Rechtsexperten und – in einem übertragenen Sinne – auch den Vätern der Autonomie, nämlich Karl Gruber und Alcide Degasperi als Unterzeichner des Pariser Vertrags von 1946, zu entziehen, um sie dem Südtiroler Volk zu übertragen. Es bleibt bislang bei diesem Versuch, und zwar aus zwei Gründen: Die Volksabstimmung ist, wenn auch knapp, gescheitert. Und Parolen wie „Meine Erste“, „Wir Bürger“, „Adesso decidiamo noi!“ und „Unsere Entscheidung!“ suggerierten die Existenz einer Südtiroler Öffentlichkeit, die als solche nicht existiert.

Davon ausgehend wird sich dieser Beitrag auf zwei Themen konzentrieren. Zum einen werden sich die folgenden Ausführungen mit der Volksabstimmung als Projektionsfläche von Visionen von Demokratie in Südtirol beschäftigen, zum anderen mit der Volksabstimmung als scheinbar einendem demokratischen Prozess, hinter dem aber divergierende Interessen, ja Weltanschauungen zum Vorschein kommen. Ein kritischer Blick auf die im Vorfeld zum ersten Südtiroler Referendumstag verwendeten Plakate, Inserate und Werbematerialien offenbart nicht nur Hoffnungen auf eine vermeintlich demokratischere Zukunft, sondern auch Wesenszüge derzeitiger politischer Kultur und Praxis.

2. Bürgersinn und Öffentlichkeit

Ein Deutscher, ein Italiener und ein Ladiner lebten einmal auf einer abgelegenen Almhütte ohne Telefon, Handy und Internet. Ins Tal gingen sie nur, wenn die Lebensmittel auf der Hütte knapp wurden, vielleicht alle vier bis sechs Wochen. Als im Laufe des Sommers Südtirol zu Österreich kommt, vergehen fast sechs Wochen, bis die drei Almbewohner davon hören. Für mehr als einen Monat also waren sie im Glauben, italienische Staatsbürger zu sein, obwohl sie in Wirklichkeit Österreicher waren.

Die Geschichte ist natürlich erfunden, aber sie ist nicht neu. Walter Lippmann (1922) beginnt sein Buch „Public Opinion“ mit einer ähnlichen Erzählung: Ein Engländer, ein Franzose und ein Deutscher leben friedlich auf einer abgeschiedenen Insel, während andernorts der Erste Weltkrieg ausbricht. Lippmann geht es darum zu zeigen, dass Menschen die Welt nicht direkt wahrnehmen, sondern durch Bilder in ihren Köpfen, das „pseudo-environment“. Menschen agieren somit nicht in Antwort auf die „reale“ Welt, sondern auf ihre Bilder. Dieser Freiraum zwischen der Welt und den Bildern, so Lippmann, ist enorm anfällig für Verzerrungen und Täuschungen. Mehr noch: Wie soll aus dieser wilden Ansammlung subjektiver Perzeptionen ein Gemeinwille, ein Volkswille entstehen?

Im krassen Gegensatz zu traditionellen Demokratietheorien argumentiert Lippmann, dass Regieren nichts anderes sei als das Resultat eines konstruierten Konsenses – konstruiert durch die Anwendung von Symbolen, welche einen illusorischen, aber funktionierenden Gemeinwillen erzeugen. Ein effizientes Symbol, egal ob materiell oder nicht, zeichnet sich somit dadurch aus, dass es produktiv ist: Zwar trägt es für jeden Menschen eine andere Bedeutung, aber gerade weil es viele Meinungen um sich scharen kann, erzeugt es die Illusion von Solidarität bei gleichzeitiger Vernachlässigung rationaler Analyse. Wenn es nach Lippmann geht, kann es bei Demokratie deshalb nicht darum gehen, Individuen ein Recht auf Selbstbestimmung einzuräumen. Auch stehen eine aktive Bürgerschaft und entsprechende Formen der Entscheidungsfindung nicht im Mittelpunkt. Bei Demokratie geht es einzig und allein um die Ergebnisse des Regierens. Lippmann deklariert Demokratie zur Wissenschaft, welche nur von Experten ausgeführt werden kann und soll (vgl. Lippmanns „The Phantom Public“ von 1930).

Lippmanns Argumentation bleibt nicht ohne Widersprüche und einer davon betrifft die „Natur“ der Wahrheit. Wahrheit ist für Lippmann einmal eine empirische, objektive Realität, ein andermal aber eine Konstruktion des Verstandes. Seine Präferenz für Erstere führt ihn zwar zu einem tieferen Verständnis der symbolischen Dimension von Politik, hindert ihn jedoch, wissenschaftliche Autorität genauso kritisch zu hinterfragen wie öffentliche Meinung.

Lippmanns Zeitgenosse John Dewey (1927) teilte in „The Public and its Problems“ Lippmanns Einschätzung, dass die Konstruktion von Konsens ein Problem darstellt, aber nicht einen Lösungsansatz. Demokratie ist keine mechanische Form des Regierens, sondern Ausdruck der tiefen sozialen und interdependenten Natur menschlicher Existenz. Eine unabhängige Presse ist die notwendige Verbindung zwischen Regierung und Regierten. Die Formierung einflussreicher Machtblöcke zwischen Eliten wird dadurch verhindert und der demokratische Prozess bleibt erhalten. Demokratie soll deshalb nicht nur an Resultaten gemessen werden, sondern auch am vorhergehenden Entscheidungsprozess. Demokratie ist dann in Gefahr, wenn der Entscheidungsprozess nicht mehr öffentlich ist. Bürgersinn braucht Öffentlichkeit. Öffentlichkeit, nicht Freiheit, so Peter Alexander Meyers (2008, 11), ist der grundlegende Mechanismus, um ein ausgewogenes Gleichgewicht zwischen den konstituierenden Elementen eines politischen Systems, inklusive der BürgerInnen, zu garantieren.

Die Betrachtung der Lippmann-Dewey-Debatte in den Vereinigten Staaten der 1920er-Jahre bringt zwei wesentliche Aspekte der Volksabstimmung 2009 zum Vorschein: einerseits die Kritik an der derzeitigen demokratischen Praxis und deren Reform im Rahmen der Autonomie; andererseits die Volksabstimmung als Symbol, welches nicht nur für das Erwachen des Bürgersinns steht, sondern auch andere, sehr viel konkretere Interessen hinter sich vereint. Die Mobilisierung und Nichtmobilisierung bestimmter gesellschaftlicher Segmente war somit das Ergebnis widersprüchlicher Tendenzen im Namen der ersten Südtiroler Volksabstimmung.

3. Demokratie in Südtirol und Demokratie für Südtirol

Die Plakataktion „Meine Erste“ bzw. „In prima linea“ (Abbildungen 1 bis 3) der Initiative für mehr Demokratie ist Wahlkampftestimonials nachempfunden. Prominente SüdtirolerInnen wurden gebeten, ein kurzes Statement zur ersten landesweiten Volksabstimmung abzugeben. Cuno Tarfusser, langjähriger Leitender Staatsanwalt in Bozen und seit 2009 Richter am Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag, sagt in seinem Statement: „MEINE ERSTE Gerichtsverhandlung, ob in ­Bozen als Staatsanwalt oder in Den Haag als Richter, war etwas Besonderes. Meine Erste Südtiroler Volksabstimmung wird es auch.“ Maria Mayr-Kusstatscher, ehemalige Vorsitzende des Katholischen Verbandes der Werktätigen (KVW), ruft mit folgendem Satz zur Teilnahme auf: „MEINE ERSTE Lebenserfahrung war, dass wir füreinander Verantwortung übernehmen müssen. Auch deshalb nehme ich an der ersten Südtiroler Volksabstimmung teil, denn gemeinsam entscheiden wir ­besser.“ Und für den Prodekan der Philosophisch-Theologischen Hochschule in Brixen, Don Paolo Renner, steht die Volksabstimmung in Einklang mit Menschenliebe: „MEINE ERSTE Liebe ist das Himmelreich, stets verbunden mit der Stadt des Menschen. Meine erste Südtiroler Volksabstimmung ist daher Ausdruck dieser meiner Liebe.“ Die Aktion vermeidet Aussagen zu den einzelnen Gesetzesvorschlägen und zielt darauf ab, die wahlberechtigte Bevölkerung zum Urnengang zu motivieren. Der Fokus verlagert sich dadurch von der Formulierung politischer Standpunkte zum generellen Appell, eine demokratische Haltung an den Tag zu legen und von der Möglichkeit der Meinungsäußerung im Rahmen der Volksabstimmung Gebrauch zu machen.

Abbildungen 1, 2 und 3: Die Plakataktion „Meine Erste“ der Initiative für mehr Demokratie (von links nach rechts: Cuno Tarfusser, Maria Mayr-Kusstatscher und Don Paolo Renner).

Die Plakate beschränken sich nicht nur darauf, den/die BetrachterIn zu mobilisieren. Sie interpretieren Öffentlichkeit auch auf eine für Südtirol neuartige Weise. Die Volksabstimmung als „etwas Besonderes“ (Tarfusser), „Verantwortung“ (Kusstatscher), „Liebe“ (Renner), „ein gutes Gefühl“ (Karikaturist Jochen Gasser) oder mit dem Prädikat „wunderbar“ (Sänger Norbert Rier) versehen, entzieht sich dem Versuch, ihre TrägerInnen (die Gesetzeseinbringer genauso wie die stillen Unterstützer und tatsächlichen Wähler) nach Sprachgruppen zuzuordnen. Mehr noch: Jede einzelne Aussage macht deutlich, dass die Volksabstimmung ein freiwilliger Akt ist, welcher von einer persönlichen Überzeugung und einer emotionalen Bindung an den Mitmenschen motiviert wird. Anstatt Politik als ein von „oben“ gesteuertes Regelwerk zu verstehen, tritt Politik hier in einen Dialog mit einer sich freiwillig konstituierenden Öffentlichkeit. Ein öffentlicher Diskurs, der diesen Namen auch verdient, muss „zirkulieren können, nicht nur aus einer Richtung ausgesandt werden“ (Warner 2002, 71). „Meine Erste“ ist somit der Aufruf an jede/n, sich von der eingefahrenen Praxis und Kultur gegenwärtiger Politik zu emanzipieren und sich seiner/ihrer Rolle in einer Gemeinschaft eigenmächtiger Individuen bewusst zu werden.

Der Weg der Emanzipation und Eigenverantwortung ist gepflastert mit Kritik, Gegenrede und Ablehnung. Das Plakat der Grünen wirbt für das „Hingehen statt hinfliegen!“ bzw. „Votare non volare!“ (Abbildung 4) – eine klare Anspielung auf die Schwierigkeiten des Flugplatzes Bozen-Dolomiten und der Fluglinie Air Alps, jetzt Teil der Welcome Air. Mit dem Logo der Partei in der oberen rechten Ecke des Plakats wird die Aussage eindeutig zuordenbar, aber der politische Standpunkt gegen das Hinfliegen – untermauert durch die dargestellte Bruchlandung eines Flugzeuges – erfährt eine eindeutige Abmilderung durch die Priorität des Hingehens.

Abbildungen 4 und 5: Der Flugplatz Bozen-Dolomiten als Landesinteresse in Plakaten der Grünen (links) und der Initiative für mehr Demokratie und dem Dachverband für Natur- und Umweltschutz (rechts).

Der Flugplatz wird auch im Plakat der Initiative für mehr Demokratie und des Dachverbandes für Natur- und Umweltschutz (Abbildung 5) thematisiert. Das Plakat ist eine offene Aufforderung für den Gesetzesvorschlag Nr. 5 („Ja zum Flugplatzstopp“ bzw. „Sì allo stop dell’aeroporto“) zu stimmen. Eingebettet in einem Stoppschild sind die Umrisse eines abhebenden Flugzeugs zu erkennen. Rechts unten befindet sich ein stenografisch gehaltener Ausruf, welcher zugleich als Begründung für die obige Positionierung steht: „Unser Geld! Unsere Entscheidung!“ bzw. „I nostri soldi! La nostra decisione!“ Die zahlreichen Polemiken um den Flugplatz Bozen-Dolomiten, allen voran sein möglicher Ausbau und seine Förderung im Rahmen des Landeshaushalts (siehe das Euro-Symbol in „Stop“), haben nicht nur im Unterland Widerstand geweckt, sondern überall im Land. Die PromotorInnen hinter dem Gesetzesvorschlag gegen den Ausbau des Flugplatzes (Dachverband für Natur- und Umweltschutz, Heimatpflegeverband, Alpenverein Südtirol und Arbeitsgemeinschaft Lebenswertes Unterland) sind somit imstande, das Argument der Landesregierung, wonach der Flugplatz und die Strecke Bozen–Rom von Landesinteresse seien, aufzugreifen und darüber landesweit abzustimmen. Aus diesem Blickwinkel betrachtet, geht es hier weniger um den Flugplatz selber als um die Frage der Deutungs- und Gestaltungshoheit innerhalb der Südtiroler Autonomie. Gleichzeitig verdeutlicht das Plakat auch, wie sehr die Polemik um den Flugplatz von einer Umweltfrage zu einer Geldfrage wurde. Die 2009 viel diskutierten landschaftlichen Eingriffe auf der Seiser Alm und im Skigebiet Kronplatz fanden zwar Eingang in die mediale Berichterstattung, erreichten aber nicht den ikonischen Status des Flugplatzes Bozen-Dolomiten – und selbst dieser Status scheint nur dann landesweit vermittelbar, wenn er im Zusammenhang mit dem Landeshaushalt, nicht einer lokal begrenzten Lärmbelästigung, betrachtet wird.

4. Symbolik und Interpretation

Es spricht für die Symbolkraft der Volksabstimmung, dass sowohl Regierungsparteien als auch regierungskritische Gruppierungen darin ein Mittel zur Volksmobilisierung erkennen. Gleichzeitig ist sie auch Ausdruck einer gewissen Interpretationsbreite, welche erst mit Inhalten gefüllt werden muss. Genau an diesem Punkt zerrinnt die Volksabstimmung in mehrere Strömungen. Die Volksabstimmung als Ausdruck direkter Demokratie, als Chance, Politik auf neuartige Weise gestalten zu können, trifft plötzlich auf Forderungen, welche weit über ein auf Bürgersinn basierendes Demokratieverständnis hinausgehen.

Ein zweiter, zweisprachiger Plakatreigen der Initiative für mehr Demokratie (Abbildungen 6–8) steht in starkem Kontrast zur Aktion „Meine Erste“. Die Plakate zielen darauf ab, den/die BetrachterIn dazu zu bewegen, bei dem Gesetzentwurf zur direkten Demokratie („hellblauer Stimmzettel“) mit Ja zu stimmen. Verbunden wird dieser Aufruf aber nicht mit der Mobilisierung eines demokratischen Bürgersinns, sondern mit dem klaren Vorwurf, dass die derzeitigen politischen Konstellationen nicht das Gemeinwohl, sondern Interessen einer privilegierten Minderheit voranstellen. Neben Aussagen wie „Sul nostro futuro decidiamo noi cittadini“ bzw. „Wir Bürger wollen mitentscheiden mit dem besseren Gesetz zur direkten Demokratie!“ finden sich auch „Basta privilegi!“ (Schluss mit Privilegien!), „Basta lobbies!“ (Schluss mit Lobbies!) und „Dove vanno i nostri soldi?“ (Wohin verschwindet unser Geld?), untermauert mit dem Zusatz „Adesso decidiamo noi!“ (Jetzt entscheiden wir!).

Abbildungen 6, 7 und 8: Die Südtiroler Öffentlichkeit zwischen Wir-Gefühl und Statusängsten in einer Plakatserie der Initiative für mehr Demokratie.

Im Unterschied zur Plakataktion „Meine Erste“ wird Öffentlichkeit hier auf eine andere Weise herzustellen versucht. Der wiederholte Rückgriff auf das „wir“ bzw. „noi“ („nostro futuro“, „Wir Bürger“, „nostri soldi“) kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass Frustration über Privilegien, Lobbys und Geld als gesellschaftliches Bindeglied fungiert. Dies kann eine bewusst gewählte Strategie sein, welche bestenfalls der Wahrheit entspricht und schlechtestenfalls wohlgemeinter Populismus ist. Dennoch drängt sich die Frage auf, ob ein solcher Appell mit der zuvor angeworbenen freiwilligen Konstitution von Öffentlichkeit zusammenpasst. Trotz des unguten Gefühls, welches diese Überlegung hervorruft, ist es nicht abwegig zu argumentieren, dass Debatten über Geld und Privilegien inzwischen zu sprachübergreifenden Identitätsstiftern in Südtirol avanciert sind. In einer Arbeits-, Konsum- und Erlebniswelt, welche sich zunehmends beschleunigt und sich über weite Strecken der Kontrolle des Einzelnen entzieht, und in einem Territorium, in dem die Vergangenheit die Gegenwart so sehr determiniert, dass Einsprachigkeit immer noch die Messlatte des Anspruches auf Zugehörigkeit ist, erzeugt die Frustration über Privilegien und „Spitzengehälter“ eine Art Solidarität mit dem (italienisch-, ladisch- bzw. deutschsprachigen) „Anderen“. Gleichzeitig erlaubt dieser geteilte Frust die Mobilisierung einer sprachübergreifenden Öffentlichkeit, allerdings einer, welche nicht aus einem gewachsenen Bürgersinn, sondern aus einer perzepierten Klassenidentität (der Nicht-Privilegierten, der Wenig-Verdiener, welche keine Lobbys hinter sich wissen) heraus agiert (vgl. Stewart 2007, 27 – 8). Die Volksabstimmung wandelt sich zu einem Instrument, mit welchem reale und wahrgenommene Statusängste Gehör finden.

Es verwundert deshalb kaum, dass die Plakate der Parteien Union für Südtirol und Süd-Tiroler Freiheit nicht einmal den Versuch unternehmen, sich mit der direktdemokratischen Seite der Volksabstimmung auseinanderzusetzen (Abbildung 9). Die Union für Südtirol, welche die ersten drei Gesetzesvorschläge der Volksabstimmung eingebracht hat, scheint in der Volksabstimmung nichts anderes zu erkennen als eine politische Wahl. Mit dem Schriftzug „5x Ja“ wird die eindeutige Aufforderung verbunden, die fünf Fragen der Volksabstimmung mit Ja zu beantworten. Das Parteisymbol und die orange Farbe machen unmissverständlich klar, wer hinter dem Plakat steht. Der Schwerpunkt des Plakats liegt eindeutig auf dem Wahlverhalten des Betrachters/der Betrachterin. Zwar setzt das voraus, dass er und sie auch tatsächlich zur Wahl gehen, aber explizit formuliert wird das nicht. Stattdessen ist der Tenor derselbe wie bei politischen Wahlen, wo der Fokus der Plakate und Inserate ebenfalls auf der „richtigen“ Wahl liegt, nicht auf der Partizipation, die stillschweigend vorausgesetzt wird.

Eine krasse Besonderheit stellt letztendlich das Plakat der Süd-Tiroler Freiheit dar. Hier geht es nicht um die Volksabstimmung. Es wird nicht einmal der Versuch unternommen, eine politische Meinungsbildung zu einem der Gesetzentwürfe zu fördern. Stattdessen wird die Volksabstimmung als willkommener, aber unzureichender Schritt wahrgenommen, im derzeitigen politischen System eine Entscheidung herbeizuführen. In großen Lettern wird angekündigt, um was es wirklich geht: „Heute Volksabstimmung. Morgen Selbstbestimmung“. Das Kalenderblatt vom 25. Oktober ist umgeschlagen, der nächste Tag – der „Tag der Selbstbestimmung“ – ist schon angebrochen, selbst wenn dieser derzeit nur mit „XX“ vage angedeutet werden kann. Die Aussagekraft des Plakats ist ganz im Stil der Süd-Tiroler Freiheit: Die Volksabstimmung wird zwar unterstützt, aber das Thema der Selbstbestimmung Südtirols – die zentrale Botschaft der noch jungen Bewegung – wird in den Vordergrund gestellt und in eine Genealogie der Meilensteine (Volksabstimmung heute, Selbstbestimmung morgen) integriert.

5. Vision und Fassade

Die Volksabstimmung 2009 war somit Vision und Fassade zugleich. Als Vision projizierte sie eine Form der Demokratie, welche sich unterscheiden sollte von derzeit­ gängigen, aber dennoch fragwürdigen Praktiken in der Südtiroler Politik. Deweys­ Argument, dass Demokratie vor allem ein Prozess und nicht bloß Ergebnis einer politisch erfahrenen Expertenrunde sei, fand sein deutlichstes Echo in der Plakatserie „Meine Erste“ der Initiative für mehr Demokratie. Ihr Appell richtet sich an die Eigenverantwortung aller Südtirolerinnen und Südtiroler – an den noch labilen Bürgersinn im Land –, um eine Rekalibrierung des Verhältnisses zwischen BürgerInnen und Land herbeizuführen. Damit ist natürlich auch die Hoffnung verbunden, dass ein erstarkter Bürgersinn die sprachübergreifende, primäre Selbst­iden­tifi­kation als SüdtirolerInnen fördert und die instabilen sprachlichen Kategorien überwindet. Interethnische Spannungen innerhalb von Politik und Gesellschaft würden in der Folge von Konflikten zwischen Regierten und Regierenden, BürgerInnen und Land überlagert, wenn nicht sogar aufgehoben werden. Da diese Vision einer neuen, integrativen Demokratie in Südtirol von den regierenden Parteien nicht öffentlich artikuliert wird (in privaten Gesprächen mit PolitikerInnen zeigt sich doch etwas Vorstellungsvermögen), stellen die Plakate der Initiative für mehr Demokratie eine Art visuellen Gegenentwurf da, welcher derzeitige politische Praktiken anprangert und die Emanzipation der Südtiroler BürgerInnen einfordert. Was in der Realität der Südtiroler Politik oft als unsagbar gilt, wird hier in Bildern öffentlich auszudrücken versucht (vgl. Masco 2005).

Gleichzeitig ist die Volksabstimmung aber auch eine Fassade, weil sich hinter ihrer Symbolik verschiedenste (partei)politische Interessen scharten. Tatsächlich lassen sich einige Aufrufe in den Plakaten so interpretieren, als ob die Volksab­stimmung nicht (nur) ein Instrument direkter Demokratie sei, sondern (auch) ein Mittel, um die hegemoniale Entscheidungsgewalt der SVP herauszufordern. Mit Hinblick auf die unterschiedliche Mobilisierungsrate von deutsch- und italienischsprachigen BürgerInnen muss die Frage gestellt werden, mit welchem Hintergedanken die rein einsprachigen Plakate der Union für Südtirol und der Süd-Tiroler Freiheit zu rechtfertigen sind. „5 x Ja“ und „Heute Volksabstimmung. Morgen Selbstbestimmung“ hätten auch unter der italienischsprachigen Bevölkerung Anklang finden können.

Aber gerade die zweite Plakatserie der Initiative für mehr Demokratie wirft die unangenehme Frage auf, ob die Volksabstimmung ein freiwilliger Akt einer demokratisch gesinnten Öffentlichkeit ist oder nicht doch dazu dient, eine gewünschte Öffentlichkeit herzustellen. Die ständig in Erinnerung gerufenen Privilegien, Lobbys und Landesgelder lassen durchaus die Vermutung zu, dass selbst die Vertre­terInnen der Initiative für mehr Demokratie der Reife des Südtiroler Bürgersinns nicht recht trauen wollen und stattdessen andere Mobilisierungsstrategien bemühen.

Wie sind diese Praktiken der Volksmobilisierung mit jeder Form direkter Demokratie zu vereinen? Sie sind es nicht. (Direkte) Demokratie steht in einem symbiotischen Verhältnis zu Öffentlichkeit. Egal ob jemand „Öffentlichkeit“ als Treffpunkt, an dem Individuen ihre Meinungen zu politischen, sozialen und anderen Themen frei äußern und austauschen können, versteht (Habermas 1989) oder als virtuelle Einheit, welche von der aktiven Teilnahme des Einzelnen abhängt (Warner 2002), Südtirol hat nicht eine, sondern drei voneinander unabhängige, nach Sprachgruppen getrennte Öffentlichkeiten. Die Menschen und die Medien kommunizieren selten miteinander, aber oft nebeneinander. In der Folge werden gewisse politische und soziale Fragen oft sakralisiert, tabuisiert und als autonomiefeindlich gebrandmarkt. Nirgends ist Deweys Hoffnung, dass die Presse Öffentlichkeit und Bürgersinn in einer politischen Gemeinschaft herstellt, so fehl am Platz wie in Südtirol.

Die Folgen dieses Ungleichgewichts zwischen direkter Demokratie und Öffentlichkeit wurden 2009 ersichtlich: Statt erwartungsvoller Freude herrschte blanke Panik. Die Volksabstimmung wurde von vielen italienischsprachigen SüdtirolerInnen nicht als demokratisches Mittel, sondern als diktatorisches Instrument wahrgenommen, mit welchem die deutschsprachige Mehrheit ihren Willen durchsetzen könne. Die italienischsprachigen Medien waren durchaus behilflich bei dieser Meinungsbildung. Andererseits wurde die Volksabstimmung vor allem von deutschsprachigen Oppositionsparteien als Symbol missbraucht, um entsprechende Wählerschichten für ihre politischen Agenden zu mobilisieren. Die Volksabstimmung wurde zu einem Konsumprodukt herabgestuft, einem abstrakten Bild ohne Untertitel, einem Symbol, das für alles und nichts zugleich steht (vgl. Groys 2006, 24). Gerade weil die Volksabstimmung so undefiniert, so neu war, überraschte die Reaktion der SVP nicht: Im Inneren zerrissen, tat sie sich schwer, eine einheitliche Meinung zu bilden. Während sich die Partei noch von der Hetzjagd der „Lex Egartner“ (eines präzisierenden Gesetzes, welches die umstrittene Wählbarkeit des SVP-Landtagsabgeordneten Christian Egartner im Nachhinein absichern sollte) durch den Landtag erholen musste, deklarierte die Landesregierung die Volksabstimmung zu einem systemfeindlichen Fremdkörper, welchen es aufzuhalten gelte. Was an institutionellen Grenzen zwischen Partei, Fraktion und Landesregierung noch übrig war, wurde nun endgültig aus dem Weg geräumt. Im Angesicht der direkten Demokratie zeigte sich Südtirols repräsentative Demokratie von ihrer hässlichsten Seite.

Ohne Öffentlichkeit bleibt der Bürgersinn aus und ohne Südtiroler BürgerInnen verkommt die Autonomie zusehends zur Kulisse, zu einer Ansammlung von Rechten und Privilegien ohne gewachsenes Verantwortungsgefühl für derzeitige und zukünftige Generationen. Wenn Landeshauptmann Luis Durnwalder vor übertriebener Freude im Zusammenhang mit der Aussicht auf eine Finanzautonomie warnt, weiß er um die Schwächen des Volkes und seiner Vertreter. Nur wenn Bürgersinn von innen heraus wächst, als Zeichen der gegenseitigen Verantwortung, hat die direkte Demokratie in Südtirol eine Chance, Teil des Südtiroler Selbstverständnisses zu werden.

Anmerkungen

1 Der Autor bedankt sich bei Giulia Bistagnino, Ingo Dejaco, Silvia Di Siena, Judith Egger, Andreas Franzelin, Thomas Kager, Georg Mair, Günther Pallaver, Andreas Pichler, Werner Thaler und Paolo Valente.

Literaturverzeichnis

Dewey, John (1927). The Public and its Problems, New York: H. Holt and Company

Groys, Boris (2006). Ilya Kabakov: The Man Who Flew into Space from his Apartment, London: Afterall Books

Habermas, Jürgen (1989). The Structural Transformation of the Public Sphere: An Inquiry into a Category of Bourgeois Society, Cambridge MA: MIT Press

Lippmann, Walter (1922). Public Opinion, New York: Harcourt, Brace and Company

Lippmann, Walter (1930). The Phantom Public, New York: Macmillan

Masco, Joseph (2005). The Billboard Campaign: The Los Alamos Study Group and the Nuclear Public Sphere, in: Public Culture 17(3), 487 – 496

Meyers, Peter Alexander (2008). Civic War and the Corruption of the Citizen, Chicago: University of Chicago Press

Stewart, Kathleen (2007). Ordinary Affects, Durham NC: Duke University Press

Warner, Michael (2002). Publics and Counterpublics, in: Public Culture 14 (1), 49 – 90

Abbildung 9:
Die Volksabstimmung als Mittel zum Zweck. Die Plakate der Süd-Tiroler Freiheit (links) und der Union für Südtirol (rechts).

Abstracts

Visioni di democrazia in
una società divisa

Il referendum del 2009 non soltanto ha suscitato alcune riflessioni in merito al futuro della democrazia in Sudti­rolo, ma ha anche mostrato con chiarezza l’attuale situazione politica e ideologica: una società divisa da confini linguistici ha dovuto fare i conti con un Sudtirolo apparentemente più democratico. Da questo confronto, si sono verificate alcune tensioni che hanno trovato espressione anche nelle immagini usate nella campagna elettorale organizzata per il referendum. Questo capitolo offre un’analisi critica delle tensioni sopra citate, volta a intrecciare la teoria politica e le arti visive.

Vijions de democrazia te na cumenanza spartida

L referendum dl 2009 ne n’à nia mé lascià pro speculazions sun la situazion democratica per l daunì de Sudtirol, ma l à nce mustrà su coche la forzes pulitiches ie spartides su al mumënt y ciuna che l ie la weltanschauung, che se spidlea pona nce tla vijions per l daunì. Na populazion spartida su per grupes de rujeneda ie frida adum cun n Sudtirol ratà democratich. Na tenscion che se spidlea nce n maniera visuela ti materiai de prupaganda dla singula grupes. Na analisa critica danter teoria pulitica y visual culture.

Images of Democracy in

a Segregated Public Sphere

South Tyrol’s first referendum in 2009 not only gave rise to speculation about future forms of democracy, but also reflected practices of contemporary policy making. A general public segregated along linguistic lines thus met images of a seemingly more democratic South Tyrol, generating a tension that found its continuation in visual images used in the campaign leading up to the referendum. This chapter traces this tension through a critical analysis at the crossroads of political theory and visual culture.