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Anton Pelinka

Selbstbestimmung! Ja, aber …

Das Recht auf Selbstbestimmung ist – auf den ersten Blick – so überzeugend und so unbestritten, dass eine kritische Auseinandersetzung mit diesem Recht der Aufforderung zur Verletzung universeller Grundrechte gleichgesetzt werden könnte. Es ist so ähnlich wie mit dem Prinzip der Demokratie: Diese Grundsätze haben im 20. Jahrhundert einen globalen Siegeszug angetreten. So selbstverständlich ist die Akzeptanz dieser Werte, dass eine kritische Analyse wie eine Aufforderung zur Restauration von Imperialismus und Kolonialismus und Faschismus klingen könnte.

Und doch ist gerade die Unbestrittenheit dieser Prinzipien der Grund dafür, dass die Frage zu stellen ist, was denn nun tatsächlich mit den Grundsätzen bewirkt wird und bewirkt werden kann. Da, wie einen auch schon das oberflächlichste Studium der Geschichte des 20. Jahrhunderts lehrt, das bloße Festschreiben von Selbstbestimmung und Demokratie in internationalen Verträgen und in den diversen Verfassungsordnungen weder den ewigen Frieden noch die Aufhebung der Herrschaft des Menschen über den Menschen bringt, ist es notwendig, eine kritische Differenzierung zu versuchen.

Mit einer solchen Differenzierung kann und soll nicht der Grundgedanke des Selbstbestimmungsrechtes infrage gestellt werden. Dieser Grundgedanke, der – in den Worten von Woodrow Wilson – „the right of those who submit to authority to have a voice in their own government“ beinhaltet; der das Recht ausdrückt, dass „every peace loving nation, which […] wishes to live its own life, determine its own institutions“; das Recht der Völker „to live their own lives under governments which they themselves choose to set up“ (MacMillan 2003, 11): Dieser Grundgedanke kann nicht vom Prinzip her bestritten werden; er kann und muss aber sehr wohl von seiner Konzeptualisierung her kritisch analysiert und angesichts seiner Realisierung auch punktuell kritisiert werden.

Gerade wenn man dem Grundsatz Wilsons ohne Einschränkung zustimmt, ist es unvermeidlich, daran die wesentlichen Fragen zu knüpfen: Was ist ein Volk, eine Nation? Wer bestimmt, ob die Roma in Rumänien, die Kurden in der Türkei, die Navajos in den USA ein Volk sind? Und bilden die Roma in Rumänien mit den Roma in Ungarn, in der Slowakei, in Serbien, in Bulgarien ein Volk – ein einziges Volk? Wie auch die Kurden in der Türkei mit den Kurden im Irak und im Iran? Und wenn die Navajos in den USA ein eigenes Volk sind – beinhaltet diese Erkenntnis auch, dass sie sich von den USA lossagen und einen eigenen Nationalstaat bilden sollen? Was aber, wenn die Hopis, die heute über eine eigene „Reservation“ in Arizona verfügen, eine Reservation, die aber zur Gänze von der Reservation der Navajos umgeben ist – wenn die Hopis auf einem ebenfalls voll souveränen Nationalstaat bestehen, unabhängig nicht nur von den USA, sondern auch vom Staat der Navajos?

Diesen und anderen systematischen Fragen muss man sich gerade dann stellen, wenn der Grundgedanke der Selbstbestimmung ernst genommen wird. Weicht man diesen Fragen aus, dann verursacht man die Haltung, die 1919 und 1920 die Pariser Friedensverträge bestimmt hat: Das Selbstbestimmungsrecht ist ein Recht der Sieger und der Stärkeren. Diejenigen, die zu den Verlierern gezählt werden – die Deutsch Sprechenden in Böhmen und Mähren etwa; und diejenigen, die ganz einfach politisch nicht durchsetzungsfähig sind, die Araber in Syrien und Mesopotamien, die Koreaner auf ihrer Halbinsel, die Afrikaner in Togo und Kamerun – für diese galt das Recht auf Selbstbestimmung nicht.

Um das Selbstbestimmungsrecht nicht auf den alten Satz zu reduzieren „Right Follows Might“, müssen kritische Fragen gerichtet werden – an die Umsetzung des Konzeptes und, von dort ausgehend, an das Konzept selbst.

1. Das Konzept

„Selbstbestimmung“ wird, als politisch-normatives Konzept, eng in Verbindung mit Woodrow Wilson gesehen. Der US-Präsident hatte den Eintritt der USA in den Ersten Weltkrieg mit einem ethischen Postulat verbunden: der Vorstellung, dass alle Völker sich frei entscheiden sollen, in welchem staatlichen Verband sie existieren wollen.

Wilsons Postulat richtete sich im Kontext der Jahre 1917 und 1918 vor allem gegen die drei multinationalen Reiche – Russland, Österreich-Ungarn und das Osmanische Reich. Das wichtigste, langfristig wirksame Ergebnis des Ersten Weltkriegs war auch die Zerschlagung dieser drei Reiche, auch wenn eines – Russland – in Form der UdSSR unter freilich wesentlich anderen Rahmenbedingungen eine Auferstehung erleben sollte.

Wilsons Politik gab einem Krieg, der bis 1917 im Wesentlichen ein traditioneller war, als es um territorialen und (damit verbunden) ökonomischen Gewinn oder Verlust ging, eine neue Qualität: Der Erste Weltkrieg sollte nicht nur die Welt sicher für die Demokratie machen; er sollte auch ein Krieg sein, der zum Ende aller Kriege führt. Wilson rechtfertigte den Kriegseintritt seines Landes mit dem Anspruch, ein „Ende der Geschichte“ erreichen zu können und zu wollen – ein Ende der Geschichte der traditionellen, expansions- und kriegsbereiten Politik staatlich organisierter Mächte. In Zukunft, so die Wilson’sche Vision, sollte die internationale Politik einem Regelwerk unterstellt werden, das den Frieden sichern sollte – eben auf der Grundlage der Selbstbestimmung der Völker. Der Völkerbund sollte Frieden durch Demokratie garantieren. Und Demokratie wurde weitgehend gleichgesetzt mit dem Selbstbestimmungsrecht.

Dass Wilson scheiterte, ist ein Allgemeinplatz. Allein die Distanz, die – gegen Wilsons Willen – die USA zu der Friedensordnung der Pariser Verträge entwickelten, markierte dieses Scheitern. Der Frieden war nicht garantiert. Im Gegenteil: Der Zweite Weltkrieg stellte, schon zwei Jahrzehnte später, alles in den Schatten, was an kriegerischer Zerstörung in der Geschichte der Menschheit bekannt gewesen war. Er übertraf in seiner Schrecklichkeit auch den Ersten Weltkrieg, der ja ein Krieg zur Beendigung aller Kriege sein sollte.

Die Ursache dafür wird vor allem in der Verletzung der Wilson’schen Normen gesehen. Das Selbstbestimmungsrecht wurde massiv verletzt – in den mehrheitlich Deutsch sprechenden Gebieten der Tschechoslowakei ebenso wie in den mehrheitlich Ukrainisch sprechenden Gebieten Ostpolens. Und die Siegermächte des Ersten Weltkriegs hatten von Anfang an nicht daran gedacht, dass die Wilson’sche Ethik für die nichteuropäischen Teile der Welt gelten könnte. Deshalb behielt Japan Korea und Taiwan – und sicherte sich in traditioneller Kolonialmanier vormals deutsche Gebiete in Asien. Deshalb teilten sich Frankreich und Großbritannien vormals osmanische und deutsche Gebiete, als wären die dort Lebenden rechtlose Besitztümer, über die Siegermächte einfach verfügen können.

Die Kritik richtete sich zunächst und zuallererst nicht gegen das Konzept des Selbstbestimmungsrechtes, sondern gegen die Verletzungen dieses Konzeptes, ausgelöst durch die „Realpolitik“ der Siegermächte des Ersten Weltkriegs. Wilson konnte sich nur teilweise durchsetzen. Die Interessen vor allem Großbritanniens und Frankreichs, Italiens und Japans, aber auch der Tschechoslowakei und Polens und – zunächst – Griechenlands ließen die 1919 und 1920 in den Pariser Friedensverträgen festgelegte Ordnung als einen schlechten Kompromiss erscheinen: zwischen der von den Interessen der Siegermächte bestimmten Realpolitik und den von Wilson ja ohne Rücksicht auf Sieg oder Niederlage formulierten Prinzipien (MacMillan 2003, 11f., 298 f.; Fromkin 2009, 258f., 401).

2. Die Kritik des Konzepts

Die Kritik an der Friedensordnung von 1919 / 20 liegt auf der Hand: Das hehre Ideal des Selbstbestimmungsrechtes der Völker wurde vielfach verletzt, weil die Siegermächte Frankreich, Großbritannien, Italien, Japan ihre Eigeninteressen vielfach gegen die Ethik des US-Präsidenten durchzusetzen vermochten. Dies ist festzuhalten. Es geht aber, darüber hinaus, auch und primär um eine Kritik des Konzepts:

Das Recht auf Selbstbestimmung krankte von Anfang an daran, dass es vage blieb. Wilsons Außenminister, Robert Lansing, verzweifelte intern an der Unbestimmtheit des Begriffs: „When the President talks of ‚self-determination‘ what unit has he in mind? Does he mean a race, a territorial area, or a community?“ (MacMillan 2003, 11).

Das ist nur die erste Frage, die von Wilson offengelassen werden musste – und die bis heute nicht mit Klarheit und Schlüssigkeit zu beantworten ist. Gilt das Selbstbestimmungsrecht für die sechs Republiken Jugoslawiens? Gilt es auch für den formell Autonomie innerhalb Serbiens genießenden Kosovo? Und kann es auch von der mehrheitlich serbischen Enklave in und um Mitrovica in Anspruch genommen werden? Wenn Georgien Anspruch auf nationalstaatliche Souveränität hat – kann dann nicht auch Abchasien, mit Berufung auf das Recht auf Selbstbestimmung, nationale Souveränität verlangen?

Wilson war von erstaunlicher Hilflosigkeit, wenn es um die Präzisierung seines Konzeptes ging. Er setzte sich in Paris nicht für das Selbstbestimmungsrecht Irlands ein, denn Irland war für ihn eine innere Angelegenheit Großbritanniens. Und in seinen 14 Punkten verlangte er für „die Völker Österreich-Ungarns […] die freieste Möglichkeit für eine autonome Entwicklung“ (MacMillan 2003, 496). Was aber ist eine „autonome Entwicklung“ – ist es das, was heute die Provinz Bozen in Italien genießt? Ist das Recht auf Selbstbestimmung Quebecs ein für allemal gewährleistet durch den hohen Grad an Autonomie, den diese Provinz im kanadischen Staatsverband erreicht hat?

Klarheit vermittelt das Selbstbestimmungsrecht nur unter der Voraussetzung klar trennbarer Siedlungsgebiete von sich klar definierenden Völkern. Island konnte sich – schlüssig das Selbstbestimmungsrecht in Anspruch nehmend – von Dänemark trennen. Aber diese Voraussetzung ist in der realen Welt der Politik fast nie gegeben. Das Selbstbestimmungsrecht führt nur zu oft zur Umkehrung von Mehrheits- und Minderheitsrolle – wie etwa in der Slowakei, als 1918 die größte (und politisch dominante) Nationalität des Königreichs Ungarn, die Magyaren, zu einer Minderheit in der Tschechoslowakei wurden. Und wer ist Mehrheit, wer ist Minderheit in Bosnien-Herzegowina nach dem Vertrag von Dayton, 1995? Die Antwort darauf kann mit regionalen Grenzziehungen sehr wohl gegeben werden – allerdings auch mit der sofort beobachtbaren Begleiterscheinung einer im Selbstbestimmungsrecht angelegten Konsequenz: ethnischen „Säuberungen“.

Selbstbestimmung, umgesetzt in Verbindung mit territorialer Souveränität, zieht unvermeidlich ethnische Konflikte und letztlich ethnische „Säuberungen“ nach sich. Denn nur wer die nationale Eindeutigkeit eines bestimmten Territoriums behaupten kann, hat die berechtigte Hoffnung, von der Umsetzung des Selbstbestimmungsrechtes zu profitieren. In den zahllosen Fällen mangelnder Eindeutigkeit bedeutet ein auf staatliches Territorium bezogenes Selbstbestimmungsrecht die überstarke Versuchung, dieser Eindeutigkeit durch eine Politik der Vertreibung nachzuhelfen. Im Regelfall gilt David Latins Feststellung:

“… there are not liberal principles of cartography. As we know from a long history­ of such attempts to make nations commensurate with state boundaries, going­ back to Wilson’s Fourteen Points, there is no cultural cartography divorced from politics that would satisfy such an aspiration. Populations and identities are too inter­nally varied and mixed for such romantic projects to succeed” (Laitin 2007, 126).

Der wohl entscheidende Kritikpunkt ist aber, dass Selbstbestimmung, in Verbindung mit einer territorialen und staatlichen Perspektive, die Möglichkeit voraussetzt, nachvollziehbar und eindeutig zu bestimmen, was ein Volk und was eine Nation ist. Sind die Juden ein Volk? Ein erheblicher Teil der Menschen jüdischer Identität hat um 1900 Ja gesagt – und damit die Bewegung des Zionismus begründet. Ein ebenfalls erheblicher Teil der Menschen jüdischer Identität hat diese Frage aber um 1900 verneint und ihr Judentum als religiöse und / oder kulturelle Identität ohne entsprechende territoriale, auf einen jüdischen Staat bezogene Konsequenzen definiert.

Die „Muslim League“ in Indien war, vertreten durch Ali Jinnah, der Auffassung, muslimische Identität in Britisch Indien begründe eine spezifisch nationale, moslemisch-indische Identität, die zur Gründung eines moslemischen Staates auf indischem Territorium berechtige – eben des dann 1947 gegründeten Pakistan. Diese Auffassung einer auf religiöser Identität gegründeten nationalen Identität mit staatsstiftender Wirkung war aber in Indien ebenso wenig unbestritten wie innerhalb der indischen Muslime (Bose, Jalal 1998, 165–189).

Dass der südasiatische Subkontinent mit der Verspätung einiger Jahrzehnte das von Woodrow Wilson verkündete Recht auf Selbstbestimmung in Anspruch nahm, war das eine. Dass jedoch nicht von vornherein eindeutig war, wer das Subjekt dieses Anspruches war, das war der andere Aspekt. Sollte es für alle in Britisch Indien lebenden Menschen gelten? Sollte es ein spezielles Recht auf Selbstbestimmung für die indischen Muslime geben? Sollte nicht ein analoges Recht von den indischen Sikhs ebenfalls in Anspruch genommen werden dürfen? Und was war mit den durch eigene Sprachen ausgewiesenen Gemeinschaften Indiens, von denen die größten schon 1947 Dutzende Millionen Menschen umfassten – wie etwa Bengalen oder Tamilen, die noch dazu in einem relativ klar umrissenen Siedlungsgebiet des Nordostens bzw. Südens des Subkontinents leben? Doch die Bengalen waren wiederum annähernd zu gleichen Teilen in Hindus und Muslime aufgeteilt, und deren Siedlungsgebiete waren keineswegs klar voneinander trennbar.

Am Ende der britischen Kolonialherrschaft wurde Indien zu einem Beispiel, wohin – mangels einer allgemein akzeptierten Eindeutigkeit der Begriffe von Volk und Nation, in Verbindung mit einer noch viel weniger eindeutigen Trennbarkeit der Siedlungsgebiete – das nicht näher differenzierte Recht auf Selbstbestimmung zu führen vermag: zu millionenfacher Flucht und Vertreibung (Hamid 1993, insbes. 215–240).

Das Recht auf Selbstbestimmung wird von der Möglichkeit, ja Wahrscheinlichkeit der Ethnisierung der Politik begleitet: Soziale Differenzen (Sprache, Religion, etc.) unterschiedlicher Art werden zu ethnischen, quasi naturgegebenen Unterschieden hochstilisiert und zu einem Klassifikationsmerkmal der Herkunft verfestigt – mit den besonderen nationalen (ethnischen) Narrativen, deren Aufgabe es ist, Besonderheit und Differenz tief zurück in der Geschichte begründet zu sehen. Während die Differenz gegenüber dem mehr oder weniger konstruierten „Fremden“ überbetont wird, werden Differenzen innerhalb des „Eigenen“ unterbetont. Samuel Salzborn systematisiert diese Ethnisierung der Politik in Form eines Dreischritts: „Legitimation des Separaten“, „Homogenisierung des Kollektiven“ und „Kulturalisierung des Sozialen“ (Salzborn 2005, 98–116).

Diese Betonung der Außendifferenzen und diese Vernachlässigung der Binnendifferenzen liefern die Rechtfertigung für die Behauptung der Naturgegebenheit nationaler Unterschiede – mögen diese nun an der Sprache, an der Religion, an der Geschichte oder an sonstigen Differenzmerkmalen festgemacht werden.

Die Entwicklung des jugoslawischen Raumes ist das wohl eindringlichste Beispiel der jüngsten europäischen Geschichte: Das Aufbauschen nationaler Differenz, die – vor allem in Bosnien-Herzegowina – vor allem in der Erinnerung an unterschiedliche religiöse (muslimische, orthodoxe, katholische) Wurzeln bestand, öffnete eine Pandora-Büchse, aus der als Produkte einer ethnisierten Politik die siamesischen Zwillinge stiegen: Krieg und Vertreibung.

Das Konzept der Selbstbestimmung liefert nicht Klarheit, weil es auf einer Unklarheit der Begriffe basiert. Urs Altermatt schreibt in diesem Zusammenhang von einem „Babel der Begriffe“: „Jeder Nationalismus bringt seine eigenen Theorien hervor. Die politische Macht des Nationalismus kontrastiert mit seiner philosophischen Armut […] Unklare Begriffe bringen verschwommenes Denken hervor“ (Altermatt 1996, 23).

Für Altermatt sind die Ereignisse, die in Teilen des postkommunistischen Europa und speziell im (früheren) Jugoslawien in den 1990er-Jahren als Kette von Gewalt stattfanden, Beleg für die zerstörende Kraft des ethnonationalen Wahns: „,Apartheid‘ heißt das Prinzip, das sich im 20. Jahrhundert auf dem europäischen Kontinent ausbreitet […] Aus Angst vor dem Verlust der kulturellen Identität schotten sie [die Europäer, Anm. d. Verf.] sich gegenseitig ab, bauen ethnonationalistische Festungen auf und benutzen die kulturellen Unterschiede als Vorwand, um den Fremden auszugrenzen“ (Altermann 1996, 9).

Die Angst vor dem Verlust einer eher vage gefühlten, bzw. konstruierten Identität ist die subjektive Seite dieser europäischen Apartheid. Das Selbstbestimmungsrecht sorgt für die objektive Seite dieses Phänomens: Die Sorge um die Eindeutigkeit der Dominanz in einem bestimmten Territorium, im Zusammenhang mit dem Prinzip der Selbstbestimmung eine durchaus rationale Sorge, kreiert ein handlungsleitendes Interesse an der Ausgrenzung alles dessen, was der ethnonationalen Dominanz des „eigenen“ Volkes, der „eigenen“ Nation widersprechen könnte. Das traditionell verstandene Selbstbestimmungsrecht gebiert Xenophobie und in weiterer Folge Vertreibung und Krieg.

3. Möglichkeiten der Differenzierung des Konzeptes

Versteht man das Recht auf Selbstbestimmung als Ausdruck eines bestimmten Verständnisses universaler Menschenrechte, so macht es Sinn, trotz der vielfach negativen Bilanz dieses Rechts in der Geschichte des 20. Jahrhunderts nach differenzierenden Variationen Ausschau zu halten, die von analogen Impulsen geleitet werden.

3.1. Territoriale Autonomie

Eine undifferenzierte Anwendung des Selbstbestimmungsrechtes läuft auf das Ignorieren von Minderheitenrechten hinaus. Die Mehrheit bestimmt die staatliche Zugehörigkeit. Minderheiten sind in dieser Konsequenz eigentlich gar nicht vorgesehen. Um diese Folge zu relativieren, ohne das Recht auf Selbstbestimmung in­frage zu stellen, wurde in Europa im 20. Jahrhundert die Idee territorialer Auto­nomie entwickelt und umgesetzt. Dadurch werden Gruppen, die im Gesamtstaat Minderheiten sind, in einer bestimmten Region – in der sie Mehrheitsstatus genießen – mit Rechten ausgestattet, die ihnen eine weitgehende Möglichkeit einräumen, ihre Angelegenheiten selbst zu regeln, ohne aber die staatliche Zugehörigkeit selbst infrage zu stellen: Der Föderalismus ist das Einfallstor für diese Relativierung des Selbstbestimmungsrechtes.

Der Grundgedanke der Autonomie ist die Umkehrung der Mehrheitsrolle. Eine gesamtstaatliche Minderheit übernimmt für eine bestimmte Region die Mehrheitsrolle und kann – in den von einer föderalen Verfassung vorgegebenen Grenzen – sich selbst bestimmen. Diese Variante eines relativierten Selbstbestimmungsrechtes begrenzt die Rechte der gesamtstaatlichen Mehrheit – aber auch die der zur regionalen Mehrheit gewordenen Minderheit, denn deren Selbstbestimmungsrecht schließt, jedenfalls dem Grundgedanken der Autonomie entsprechend, nicht das Recht auf Sezession ein.

Außerhalb Europas war dies die strategische Überlegung, wie die Bruchlinie zwischen der anglophonen Mehrheit und der frankophonen Minderheit Kanadas überwunden werden sollte – die besonders ausgeprägte Autonomie Quebecs. In Europa kommt der schon unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg festgelegten Autonomie der (mehrheitlich) schwedischsprachigen, zu Finnland gehörenden Åland-Inseln Modellcharakter zu. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die Autonomie Südtirols, später auch die Kataloniens und des Baskenlandes nach diesem Muster umgesetzt (Guibernau 2007, 34–56).

Der politisch-strategische Hebel regionaler Autonomie ist die Umkehrung der Mehrheits- und Minderheitsrolle: Der Status der Englisch sprechenden Minderheit in Quebec, der finnisch sprechenden auf den Åland-Inseln, der Spanier in Katalo­nien und der Italiener in Südtirol gleicht dann dem Status einer nicht besondere Autonomie­rechte genießenden Minderheit im Gesamtstaat. Das ist auch die Proble­matik der primär auf der Autonomie der Sprachgruppen beruhenden Bundesstaatlichkeit Indiens: Die Verschiebung der Hegemonie bedeutet nicht deren Aufhebung (Pelinka 2003, 219–224; Sarangi 2009). Mit anderen Worten: Die territoriale Autonomie relativiert die Mehrheits-Minderheits-Problematik, indem sie diese auf mehrere Ebenen aufteilt, aber eben nicht auflöst.

3.2. Nichtterritoriale Autonomie

Die territoriale Dimension des Selbstbestimmungsrechtes ist ursächlich für die Tendenz, aus dem Selbstbestimmungsrecht – indirekt – ethnische „Säuberungen“ abzuleiten. Die postjugoslawischen Kriege sind die eindrucksvolle Demonstration dieser Konsequenz. Die Kriegsverbrechen am Balkan sind auch Verbrechen, die einer bestimmten Interpretation des Selbstbestimmungsrechtes folgen: Um ethnische Eindeutigkeit herzustellen, damit ein bestimmtes Territorium Souveränität oder zumindest Autonomie beanspruchen kann, wurden Verbrechen in einem extremen Maße begangen, die Gegenstand eines speziell dafür eingerichteten UN-Kriegsverbrechertribunals sind (Hagan 2003).

Um diese Konsequenz zu vermeiden, wurde das Konzept einer nichtterritorialen Selbstbestimmung entwickelt; also die Vorstellung, dass bestimmte Rechte unbeschadet von territorialer Verknüpfung gelten. Bestimmte – letztlich nicht verwirklichte – Programme zur Lösung des Sprachenkonflikts in der ausgehenden österreichischen Reichshälfte der Doppelmonarchie gingen in diese Richtung; und die indische Politik im Umgang mit den Spannungen zwischen Mehrheit und Minderheit können als Beispiel für die Umsetzbarkeit dieses Politikansatzes dienen – insbesondere mit Bezug auf die Konflikte zwischen Hindu und Moslems. Die Rechte der Muslime, vor allem im Bereich der Erziehung und des Privatrechtes, sind nicht an ein bestimmtes Territorium gebunden. Indische Muslime tragen diese Rechte mit sich, unabhängig von ihrem Wohnort, also unabhängig vom Bundesstaat, in dem sie leben.

Damit hat Indien eine Antwort auf die Gründungsphilosophie Pakistans gefunden, das die Rechte der Muslime in Staatlichkeit umsetzt und (etwa mit Bezug auf Kaschmir) weiterhin umsetzen will (Pelinka 2003, 213–219). Damit wird ein Anreiz weggenommen, durch eine Politik der offenen oder versteckten An- und Umsiedlung neue ethnische oder religiöse Mehrheiten zu schaffen oder alte, bereits bestehende abzusichern. Wenn die Frage nach Mehrheit oder Minderheit keine territorialen, also staatlichen Konsequenzen nach sich zieht, wenn vielmehr Minderheitenrechte unabhängig von Mehrheitsverhältnissen eingeräumt werden, dann können Rechte zugestanden werden, ohne dass dies Teil einer fortgesetzten politischen Auseinandersetzung über Mehrheits- und Minderheitsansprüche ist.

3.3. Das Konzept des Multikulturalismus

Die Emanzipation der Verbindung ethnisch, religiös, kulturell oder sonstwie begründeter Ansprüche mit territorialen Konsequenzen ist auch das Wesen des Konzeptes des Multikulturalismus, wie es von Will Kymlicka (und anderen) entwickelt wurde.

“Liberal multiculturalism guarantees certain generic minority rights to all ethnocultural groups. […] The precise categories differ from country to country […]. The most common distinction is between ‘old’ minorities, who settled in their territory before becoming part of a larger independent country, and ‘new’ minorities, who were admitted to a country as immigrants […].” (Kymlicka 2009, 77).

Gegenüber dem Gedanken territorialer Autonomie bietet der Gedanke des Multikulturalismus den Vorteil, auch den kulturell, sprachlich, religiös oder anders definierten Minderheiten bestimmte Rechte einzuräumen, die in keiner Region Nutznießer einer „Devolution“, also einer teilweisen Verschiebung staatlicher Autorität auf die regionale Ebene wären – den Minderheiten also, die keine regionale Mehrheiten bilden. Das gilt, in Europa, insbesondere für die Roma. Und das gilt, generell, auch für die Minderheiten, die als nicht traditionelle Minderheiten im Zuge von Wanderungsbewegungen, also von Migration, in einem bestimmten Land sesshaft geworden sind. Für diese kann auch die Idee nicht territorialer Autonomie nur wenig bieten, denn um eine solche zu genießen, braucht es eine politische Durchsetzungsfähigkeit, die im Allgemeinen nur von traditionellen Minderheiten erwartet werden kann – etwa von den Muslimen Indiens.

Multikulturalismus ist nicht nur eine denkmögliche Antwort auf eine vor allem durch Zuwanderung entstandene ethnische oder andere Vielfalt; Multikulturalismus ist auch eine Realität, die sich in einer grundsätzlich pluralistisch strukturierten Gesellschaft breitmacht, ohne dass deshalb Verfassungsordnungen neu beschlossen werden müssten. Der Multikulturalismus braucht allerdings einen realen Freiraum, der durch die Toleranz der Mehrheitsgesellschaft gegenüber den sich artikulierenden „neuen“ Minderheiten bestimmt wird. Multikulturalismus ist – anders als die anderen Formen der Relativierung und Differenzierung des Selbstbestimmungsrechtes – nicht ein legalistisch umzusetzendes Konzept, sondern ein zivilgesellschaftliches.

3.4. Das Konzept der affirmative action

Die Entwicklung des Selbstbestimmungsrechtes war Ausdruck einer bestimmten Vorstellung von Gerechtigkeit. Diesem Ziel dient auch das in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts entwickelte Konzept der affirmative action (Appelt 2000, 1–20). Historisches Unrecht soll durch „positive Diskriminierung“ mit Blickrichtung auf die Zukunft bekämpft werden. Ethnisch („rassisch“) definierte Minderheiten in den USA, sozial (als „Kasten“) definierte Minderheiten in Indien sollen gefördert werden, um – durch gezielte Förderung – die vorhandenen, historisch erklärbaren Formen kollektiver sozialer Ungleichheit schrittweise zu eliminieren. Angehörige der afro-amerikanischen Minderheit oder der indischen Dalits (der „Unberührbaren“), die nach wie vor trotz rechtlicher Gleichstellung die in der Geschichte begründete faktische Diskriminierung erfahren, sollen und wollen diese als kollektive Schlechterstellung empfundene Situation nicht – wie flämische oder franko-kanadische oder baskische Separatisten – durch mit Berufung auf das Selbstbestimmungsrecht erreichte Sezession überwinden. Dieses Ziel soll durch politisch-rechtlich definierte Förderung im Bereich der Erziehung und der Karriere erreicht werden.

Dieses Konzept kann, wie im Fall Malaysias, auch als Schutz bedrohter Mehrheiten umgesetzt werden: Die malayisch-moslemische Mehrheit schützt sich durch ein die Mehrheitsverhältnisse ausdrückendes Quotensystem vor dem Aufstieg der chinesischen und der indischen Minderheit (Sowell 2004, 55–77). Dieses an die antijüdischen Quoten in Ländern wie Polen und Ungarn nach dem Ersten Weltkrieg erinnernde System zeigt nur, dass die Einordnung der Menschen nach ihrer Gruppenzugehörigkeit höchst unterschiedlichen politischen Zielen dienen kann.

Affirmative action, entstanden aus dem Bedürfnis, historisches Unrecht wie­dergutzumachen, kann sich auch auf Gruppen beziehen, die de facto mit Diskrimi­nierungen kämpfen – wie etwa MigrantInnen (Kaloianov 2008). Die Absicht ­eines entwickelten, freilich nicht umgesetzten Konzepts ist die Integration der Zuwanderer durch Förderung, ist das Verhindern von sozial explosiven Spannungen: Unrecht soll abgebaut werden, bevor es zu nicht mehr systemimmanent und friedlich lösbaren Entwicklungen kommt. Das zu schützende Gut ist die friedliche ­Zukunft.

4. Der Rückgang der Nationalstaatlichkeit

Das traditionelle Verständnis von Selbstbestimmung zielt auf Staatlichkeit – auf den Auszug aus einem Staat zugunsten der Errichtung eines neuen Staates; oder zum „Anschluss“ an einen anderen, bereits bestehenden Staat. Staatlichkeit ist aber eine Qualität, deren Wert insgesamt seinen Höhepunkt bereits überschritten hat. Selbstbestimmung in ihrer historischen, traditionellen Bedeutung bezieht sich somit auf ein Gut mit insgesamt abnehmender Gewichtigkeit.

“Denationalization […] is a historicizing categorization with the double intent of de-essentializing the national by confining it to a historically specific configuration […] What this categorization does not entail is the notion that the nation-state as a major form will disappear but rather that, in addition to being the site for key transformations, it will itself be a profoundly changed entity” (Sassen 2006, 423).

Der klassische Nationalstaat ist der Verlierer der Entwicklung, die spätestens mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs eingesetzt hat. Obwohl durch den Prozess der Entkolonisierung eine große Zahl neuer Staaten in die internationale Gemeinschaft eingetreten ist – oder vielleicht auch eben deshalb –, hat der Staat seine entscheidende Definitionsmacht über Politik und Gesellschaft schon teilweise ein­gebüßt. Die Globalisierung entzieht nationalstaatlicher Politik zunehmend die Fähigkeit, in wirtschaftliche Prozesse einzugreifen, die Kommunikation staatlich zu begrenzen und zu definieren, was Kultur ist.

Die Folge des Abstiegs von Staatlichkeit ist, dass die klassischen Definitionsmerkmale des Staates an Bedeutung verlieren: Die Souveränität, die entscheidende Qualität des Staates, wird geteilt und relativiert – etwa durch die stufenweise sich steigernde Transnationalität der Europäischen Union; etwa durch das Phänomen der Massenmigration, die dazu führt, dass eine rasch wachsende Zahl von Menschen in Staaten lebt, deren Staatsbürgerschaft sie nicht besitzen. Auch die Territorialität – das zweite Merkmal traditioneller Staatlichkeit – ist weniger eindeutig als in den Lehrbüchern des Staatsrechtes steht: Wie steht es mit der staatlichen Autorität des Vereinigten Königreiches über die Kanalinseln? Wer definiert Staatlichkeit für die West-Bank, also für Palästina? Dieser Rückgang der Eindeutigkeit staatlicher Territorialität beeinträchtigt auch das dritte Merkmal der Staatlichkeit – die Eindeutigkeit des Staatsvolkes. Ist die Zugehörigkeit der BürgerInnen der Republika Srbska zum Staat Bosnien-Herzegowina mehr als eine Fiktion, an der die Interna­tionale Gemeinschaft nur deshalb festhält, weil die Aufgabe dieser Fiktion ein schreckliches Scheitern bedeutete? Und wie ist es mit dem kroatischen Teil des Staatsvolkes von Bosnien-Herzegowina bestellt, der bei Wahlen des Parlaments und des Präsidenten Kroatiens – also eines anderen Staates – wahlberechtigt ist? Drückt dies nicht eine geteilte Loyalität aus – eine Loyalität, die sich gleichzeitig auf verschiedene, formal souveräne Staaten bezieht?

Dieser Rückzug traditioneller Staatlichkeit reibt sich mit der Lust, mit der sich neue oder sich neu definierende Staaten ungebrochenen Souveränitätsfantasien hingeben. Das gilt für ehemalige Kolonien, und das gilt für postkommunistische Staaten, die ihre Loslösung von der sowjetrussischen Hegemonie als Triumph der Nationalstaatlichkeit sehen (Brubaker 2007, 106).

Die Europäische Union ist ein Antwortversuch auf diese Entwicklung: Die Herstellung einer neuen Qualität von Staatlichkeit – eines Mehrebenensystems, das die vorhandene, ohnehin de facto relativierte Souveränität auch de jure relativiert. Die EU als Beispiel einer „postsouveränen“ Entwicklung – ein unfertiger Bundesstaat, der kein Staat im traditionellen Sinn ist, der aber auch sichtbarer Ausdruck des Endes traditioneller Staatlichkeit jedenfalls der EU-Mitgliedstaaten ist (Morgan 2005, 111–132). Die politische Realität ist nicht die der Ordnung des Westfälischen Friedens; sie ist auch nicht die der Friedensverträge, die 1919 und 1920 in den Pariser Vororten geschlossen wurden. Staat ist nicht mehr Staat. Und Staat ist heute weniger Staat als gestern.

5. Die historische Antithese: „Uti Possidetis Juris“

Aus dem Römischen Recht kommend, bedeutet dieser Grundsatz des „Uti Possidetis Juris“, dass Grenzen so akzeptiert werden, wie sie sind – und dabei auch und besonders nicht auf die Narrative der Vergangenheit zu achten. David Fromkin bemüht dazu ein biblisches Muster: „God told Lot’s wife not to look back“ (Fromkin 2009, 572). Fromkin führt die Beispiele Lateinamerikas und Afrikas an: Als Resultat der Entkolonisierung beider Kontinente wurden die von den Kolonialmächten gezogenen Grenzen als eine Voraussetzung des Friedens akzeptiert. Fromkin schreibt über dieses Prinzip, es erlaube zwar nicht Perfektion, aber es gebe Vorrang einem negativen Frieden gegenüber der Alternative mehr oder weniger permanenten Kriegs: Friede als Abwesenheit von Krieg. Hätte Lateinamerika im Zuge der Entkolonisierung nicht diesen Grundsatz akzeptiert – „bloodbaths would have been perpetual throughout South America. That would have been a Balkan path; and it would have led to a hundred Sarajevos“ (Fromkin 2009, 571).

Das Insistieren auf dem Recht auf Selbstbestimmung führt in letzter Konsequenz zu diesem Balkan-Weg: Das Beharren auf territorial, das heißt auch staatlich definierter Selbstbestimmung für Regionen und Teile von Regionen; das Ausspielen des einen gegen den anderen Anspruch; die Gewaltbereitschaft des einen moralisch argumentierten Selbstbestimmungsrechts gegen das andere. Die postjugoslawischen Kriege haben vorgeführt, wohin ein nicht relativiertes, nicht limitiertes Recht auf Selbstbestimmung führt.

Dass eine menschliche Gemeinschaft für sich in Anspruch nimmt, nicht fremdbestimmt zu werden, sondern über ihr Schicksal selbst zu bestimmen, ist als Konsequenz universaler Menschenrechte ebenso einsichtig wie zu akzeptieren. Doch dieser Grundsatz eröffnet eine Fülle von Folgeproblemen, deren Vorhandensein nicht gegen diesen Grundsatz spricht – sehr wohl aber gegen die Vorstellung von der Eindimensionalität des Selbstbestimmungsrechtes. Eindimensional ist die Annahme, dass das Subjekt des Rechtsanspruches klar und eindeutig bestimmbar ist; eindimensional ist die Annahme, dass „das Volk“ oder „die Nation“ a priori feststehen – und nicht immer wieder aufs Neue konstruiert und definiert werden; eindimensional ist die Annahme, dass die Berufung auf das Selbstbestimmungsrecht und dessen Umsetzung Probleme schlechthin löst.

Die gesellschaftliche Realität ist komplexer, ist widersprüchlicher; die Verwirklichung des Selbstbestimmungsrechtes öffnet nur ein Tor, das zu weiteren Toren führt: Wie steht es mit dem Selbstbestimmungsrecht einer Minderheit, die – wie etwa Serben im Kosovo oder Russen in Estland – durch die Anwendung dieses Rechtes zum Nutzen und im Interesse der Kosovaren und der Esten nun selbst ein solches Recht in Anspruch nehmen will? Wie steht es mit dem Selbstbestimmungsrecht der chinesischen Minderheit in Malaysia oder mit dem der Roma in der Slowakei? Die Umsetzung des Rechtes auf nationale (ethnische, religiöse, kulturelle) Selbstbestimmung gleicht dem Öffnen jener russischen Puppe, in der immer wieder eine neue, jeweils kleinere, aber analoge Puppe versteckt ist.

Das Recht auf Selbstbestimmung ist dann von zentraler Bedeutung für die Zukunft, wenn es nicht auf seine ethnisch-nationale Dimension verkürzt wird. Selbstbestimmung äußert sich zuallererst in den individuellen Freiheitsrechten. Von dort können und müssen kollektive Rechte abgeleitet werden. In der Balance zwischen Mehrheits- und Minderheitsrechten findet auch das traditionell verstandene Selbstbestimmungsrecht seinen Platz. Aber es hat seinen Platz als Sekundär- und nicht als Primärrecht; es ist abgeleitet vom Primärrecht des menschlichen Individuums. Dessen Rechte bestehen unabhängig von nationalen oder religiösen, ethnischen oder anderen Zuschreibungen. So verstanden ist das Recht auf Selbstbestimmung eine bleibende Errungenschaft – solange sie eingebettet bleibt in die Entwicklung der universellen Menschenrechte.

Literatur

Altermatt, Urs (1996). Das Fanal von Sarajevo. Ethnonationalismus in Europa, Zürich: Verlag Neue Zürcher Zeitung

Appelt, Erna (2000). Affirmative Action – a Cross-National Debate, in: Appelt, Erna / Jarosch Monika (Hg.). Combating Racial Discrimination. Affirmative Action as a Model for Europe, Oxford: Berg, 1 – 20

Bose, Sugata / Jalal, Ayesha (1998). Modern South Asia. History, Culture, Political Economy, London: Routledge

Brubaker, Rogers (2007). Nationalism Reframed. Nationhood and the national question in the New Europe, Cambridge UK: 8th pr. Cambridge University

Fromkin, David (2009). A Peace to End All Peace. The Fall of the Ottoman Empire and the Creation of the Modern Middle East, New York: 2nd ed. Holt

Guibernau, Montserrat (2007). The Identity of Nations, Cambridge UK: Polity

Hagan, John (2003). Justice in the Balkans. Prosecuting War Crimes in the Hague Tribunal, Chicago: The University of Chicago

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Abstracts

Autodeterminazione: Sì, ma …

Il contributo analizza il concetto del diritto all’autode­terminazione, non solo la sua attuazione partitica come avvenne ad esempio nei trattati di pace del 1919 e 1920. La critica riguarda anche e soprattutto l’ipotesi irrealistica che sta alla base del concetto – ovvero l’idea che etnie e nazioni siano unitarie e coincidenti. Ciò porta a adeguare una realtà complessa e almeno potenzialmente violenta – nell’espressione dei rapporti di forza dati di volta in volta – a una falsa unitarietà e coincidenza. Conseguenza di ciò sono, troppo spesso, trasferimenti forzati, violenze e guerre. Al fine di recuperare l’aspirazione di giustizia che sta dietro al diritto all’autodeterminazione, sono state sviluppate forme di differenziazione diverse, esaminate in questo saggio: autonomia territoriale e non territoriale, multiculturalismo e “affirmative action”. Il diritto­ all’autodeterminazione tradizionalmente rispon­deva al principio statale. Le forme di differenziazione qui esaminate relativizzano invece il riferimento allo stato nazionale – in accordo con la sempre minore importanza del principio statale.

Autodeterminazion: Sci, ma …

L articul trata dl cunzet de dërt de autodeterminazion, ne ti cialan nia mé coche l ie unì adurvà dala pertes, per ejëmpl ti tratac de pesc dl 1919 y 1920. La critiga va nce y dantaldut al pensier massa dalonc dala realtà che ie dovia, al’idea che etnies y nazions ie da udëi ora te na maniera tlera y che n possa les desferenzië y spartì saurì. Chësc cumporta che na realtà ngatieda vënie adateda cun la forza, che ne n’ie nia for da udëi, ma che ie esprescion dla cundizions de pudëi dates dant, a na situazion simuleda sciche tlera y da spartì. La cunseguënzes ie purtruep massa suvënz che la jënt vënie ciaceda demez y la viulënza da viera. Per ti respuender al cunzet de giustizia che ie do l dërt de autodeterminazion, iel unì svilupà formes defrëntes de desferenziazion a chëles che n ti cialerà te chësc articul: autonomia teritoriela y nia teritoriela, multiculturalism y „affirmative action“. L dërt de autodeterminazion ie aldò dla tradizion basà sun la ejistënza de n stat. La formes de desferenziazion tratedes relativea l’idea fissa che l à da vester n stat naziunel – cie che va a una cun l jì ju dl valor dl cunzet de stat tradiziunel.

Self-Determination: Yes, but …

This contribution deals with the concept of the right to self-determination in a critical way. The critique does not only and not primarily focus on the failures of implementing this right like in the peace treaties after World War I. This critique is especially directed against the concept as such because the basic assumption of the traditional understanding of self-determination is the pretence that ethnicities or nations are easily defined entities with clear borderlines. This leads to the tendency to create ethnic or national simplicities out of a much more complex reality. The consequences are too often ethnic cleansing and warfare. The motivation behind the right to self-determination is social justice. To follow this motivation, an analysis of the different forms of differentiation as it is exemplified in this essay is helpful: territorial as well as non-territorial autonomy, multiculturalism, and “affirmative action”. The focus of the concept of self-determination has traditionally been on statehood. But in times of a declining importance of the nation state, this is one more reason to look for more complex and differentiated designs to promote social justice.