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Johanna Prader

Südtirol sieht grün:
„Der Frosch“ entzweit das Volk

Über das Verhältnis von Glaube und Nicht-Glaube
in einer postsäkularen Gesellschaft

1. Vorbemerkungen

Gott ist tot, schrieb Friedrich Nietzsche vor gut hundert Jahren. Er sollte sich geirrt haben. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts finden wir eine globalisierte, pluralistische Welt vor, in der viele Götter auf Geheiß des Menschen ihre Rolle im privaten und öffentlichen Raum zu spielen haben: Kriege und Konflikte werden im Namen der Religion ausgetragen, einflussreiche religiöse Lobbys drängen zurück auf die politische und gesellschaftliche Bühne, um Gesetze nach ihrem Willen zu formen, heilige Bücher werden zitiert, um sich vor dem Fremden, vor dem anderen abzugrenzen und so die eigene Identität zu festigen. Diese globale Entwicklung macht auch vor einem scheinbar völlig säkularisierten Europa nicht halt: Die anhaltende Kopftuchdebatte, der Karikaturenstreit, die Diskussionen rund um das Auf- oder Abhängen von Kreuzen in Schulen oder anderen öffentlichen Gebäuden oder die Polemiken um den Bau von Moscheen sind nur einige wenige Hinweise, die auf diesen Trend hindeuten. Gesellschaftliche Sprengsätze mit religiösem Zünder finden sich jedoch nicht allein in den Ghettos und Vorstädten europäischer Metropolen – sie können auch in der Provinz schnell und ohne Vorwarnung explodieren. Womit wir in Südtirol angekommen wären.

Am Samstag, 24. Mai 2008, geht, wenn man so sagen will, die Bombe hoch: In der Südtiroler Landeshauptstadt Bozen wird in Anwesenheit von regionaler Politik- und Kunstwelt sowie unter großem Interesse vonseiten der Bevölkerung das neue Museum für moderne und zeitgenössische Kunst „Museion“ eingeweiht. Rund 300 Exponate umfasst die Eröffnungsausstellung „Peripherer Blick und kollektiver Körper“, konzipiert von der aus Genf stammenden Museumsdirektorin Corinne ­Diserens. Am Freitag, tags zuvor, wird die Ausstellung vorab der Presse zugänglich gemacht. Vom „Skandal“ keine Rede. Zwei Tage später, am Sonntag, macht die lokale­ Sonntagszeitung „Zett“ auf Seite eins mit der Schlagzeile „Das Museion im Kreuzfeuer“ auf (Zett am Sonntag, 25.05.2008). Auf den Seiten zwei und drei heißt es in der Dachzeile: „Erster Aufreger bei Eröffnung des Museums für moderne und zeitgenössische Kunst: Blasphemisches Werk direkt über dem Eingang“. Bei dem besagten Kunstwerk handelt es sich um eine Arbeit des 1997 verstorbenen deutschen Künstlers Martin Kippenberger; das 1990 geschaffene Werk stellt einen an ein rund ein Meter großes Holzkreuz genagelten grünen Frosch dar, der in seiner linken Hand einen Bierkrug hält, in seiner rechten ein Ei. Die Reaktionen auf das „blasphemische Werk“ (Zett am Sonntag, 25.05.2008), auf den „Kunst- und Museums­skandal“ lassen nicht lange auf sich warten: PolitikerInnen, JournalistInnen, KirchenvertreterInnen, Kunstschaffende, BürgerInnen des Landes tun ihre Meinungen rund um das Kippenberger-Kunstwerk kund. Die Sache nimmt ihren Lauf, die Aufregung um das Museumsstück weitet sich aus, es entbrennt ein Grundsatzstreit um die Freiheit der Kunst, vor allem aber folgt eine scharfe Auseinandersetzung um den Schutz religiöser Gefühle und um den Respekt von Glaubenssymbolen. Die Kippenberger-Skulptur ist in aller Munde. Allianzen sogenannter „Frosch-BefürworterInnen und -GegnerInnen“ werden geschmiedet, ein ideologischer Graben tut sich auf, quer durch alle Bevölkerungs-, Alters- und Berufsschichten. Der Streit um „den Frosch“ erfasst die deutsche Sprachgruppe ebenso wie die italienische und die ladinische. Erst vier Monate später, am Ende der Ausstellung am 21. September, klingt die Geschichte ab, nicht ohne internationale Medienaufmerksamkeit – von New York bis nach Berlin1 – auf sich gezogen zu haben.

Der vorliegende Aufsatz möchte weder auf die Chronik des Sommers 2008 Rückschau halten noch Stellung beziehen zu der rund um die Kippenberger-Arbeit mitunter stark emotional geführten Auseinandersetzung. Vielmehr sollen über die beschriebene Polemik hinaus theoretisch-religionssoziologische Überlegungen angestellt werden, denn der Streit um das Museumsstück Kippenbergers bringt vor allem eine Erkenntnis an den Tag: Religion ist nicht tot. Auch nicht in einer scheinbar säkularisierten Gesellschaft wie der europäischen, und es bedarf relativ wenig, um die Balance zwischen säkular bzw. religiös orientierten Bevölkerungsteilen zu verlieren. Wie säkular ist die europäische Wirklichkeit tatsächlich? Wie positioniert sich die säkulare Welt gegenüber einer religiösen? Und wie kann ein Zusammenleben auf gleicher Augenhöhe zwischen Gläubigen und Nicht-Gläubigen funktionieren? Denn war der Südtiroler Streit um den „Frosch“ nicht gerade auch Ausdruck dessen, wonach scheinbar ideologisch nichtkompatible Welten aufeinandergeprallt sind?

Religionssoziologen und politische Philosophen wie Peter L. Berger, Jürgen Habermas oder Alessandro Ferrara beschäftigten sich seit Jahren mit oben genannten Fragen und den daraus resultierenden gesellschaftlichen Herausforderungen. In diesen wissenschaftlichen Diskurs mit seinen Bestandsaufnahmen und Zwischenergebnissen möchte dieser Beitrag Einblick geben. Es kann nur ein Ausschnitt sein. Es geht hier weniger um das Zusammenleben unterschiedlicher Religionsgemeinschaften, nicht um die seit 9/11 aufgeflammte Diskussion der Integration von MuslimInnen in christlich geprägte Gesellschaften, sondern um die grundsätzliche Frage, wie Integration von Religion in einer säkularen Welt passieren kann. Der Fokus liegt hierbei auf der europäischen Realität.

2. Säkularisierung und Religion in Europa

Allein der Begriff „Säkularisierung“ bedürfte einer eigenen Studie, so vielschichtig und unterschiedlich sind die wissenschaftlichen Theorien und Zugänge zum Thema. Laut Hartmut Lehmann (2004, 57) sind es in erster Linie vier Varianten von Erklärungsmodellen zur Säkularisierung, die in der aktuellen Debatte dominieren:

„Das ist 1. die Vorstellung von Säkularisierung als dem Nachlassen des Wissens über Religion sowie der Ausübung von Religion in modernen westlichen Gesellschaften (Stichwort: Verweltlichung). Das ist 2. die Säkularisierung des kulturellen und geistigen Lebens als Folge der wissenschaftlichen Fortschritte speziell auf den Gebieten der Naturwissenschaften, der Medizin und der Technik (Stichwort: Rationalisierung, Entzauberung, Verwissenschaftlichung). Das ist 3. Säkularisierung als Beschreibung der Tatsache, dass die etablierten Kirchen seit der Aufklärung das Monopol bei der Bewältigung schwieriger Lebenssituationen verloren haben (Stichwort: Entkirchlichung). Und das ist schließlich 4. das Verständnis von Säkularisierung als einer sehr allgemeinen und grundlegenden Transformation der Kultur, die sich von einer transzendenten Orientierung, die bei der Beantwortung der ‚letzten Dinge‘ hilft, hin zur Orientierung an rein innerweltlichen Werten, Normen, Praktiken entwickelt hat (Stichworte: Privatisierung, Individualisierung, Ausdifferenzierung).“

Für den amerikanischen Religionssoziologen José Casanova (2008,1) entspringt das Konzept der Säkularisierung ohne Zweifel aus einem westlich – und vor allem christlich – orientierten Geschichtsumfeld, denn in keiner anderen Weltreligion existiert eine ähnliche Auffassung, was das Verhältnis von Glaube und Nicht-Glaube betrifft. Die Ursprünge reichen ins Mittelalter zurück: Christliche Bettelorden und gnostische Bewegungen waren es, die in ihrer Spiritualität den Erlösungsgedanken verweltlichten, ihn loslösten von jeglicher transzendentalen Vorstellung. Spätestens mit der Aufklärung begann der Siegeszug einer Immanenz, in der es sich die Vernunft zum Ziel gesetzt hatte, Religion zu überwinden. Und als eine Überwindung von Religion wird Säkularisierung in Europa bis heute vielfach begriffen. Auszumachen war dieser scheinbare Widerspruch zwischen zeitgemäßen, sprich säkular-liberalen, und religiös-konservativen Einstellungen nicht zuletzt auch in teils heftig geführten Diskussionen rund um das Abhängen des Kippenberger-Kunstwerkes im Bozner „Museion“.

Säkular gilt als fortschrittlich und modern, Religion scheint längst von Rationalität und Wissenschaft überholt zu sein. Im Gegensatz zu Europa finden in den Vereinigten Staaten diese strikten Zuschreibungen weit weniger statt. Dies mag, so Lehmann (2004, 20), mit der Geschichte der amerikanischen Einwanderung im 19. Jahrhundert zu tun haben, als vielfach mittellose Europäer die USA erreichten und sich in der Fremde eine neue Existenz aufbauten. Da diente die Besinnung auf die eigene religiöse Tradition als eine Art Identitätskitt. Noch heute wird die Trennung zwischen Kirche und Staat in den USA weit weniger zwingend erlebt als in Europa (vgl. Casanova 2008, 5). Außerdem wird sie eher dahingehend verstanden, wonach die institutionelle Abgrenzung der beiden Sphären ein Schutz für die vielen unterschiedlichen Religionen und Glaubensgemeinschaften ist. Ein Schutz vor einem möglichen Eingreifen des Staates.

In Europa wird dies laut Casanova eher in umgekehrter Weise wahrgenommen: Der Staat müsse den Menschen vor einer Einflussnahme der Religionen bewahren – und dies, weil der Europäer aus seinem Geschichtsverständnis heraus säkular mit demokratisch gleichsetzt. Dies ist für Casanova nichts weniger als „einer der grundlegenden Mythen der zeitgenössischen europäischen Identität“ (Casanova 2008, 8), begriffen sich für ihn doch die totalitären, völlig undemokratischen Regime des 20. Jahrhunderts dezidiert säkular. Entgegenzuhalten ist dieser Auffassung, dass sowohl Nationalsozialismus als auch Kommunismus deutliche Merkmale innerweltlicher Erlösungsreligionen aufweisen (vgl. Voegelin 1993).

Wieweit und mit welchem Erfolg das Projekt der Säkularisierung in Europa als abgeschlossen gilt, darin gehen die wissenschaftlichen Standpunkte weit auseinander. Casanova spricht von einem „Mythos europäischer Identität“ (Casanova, 2008, 8), Lehmann hingegen meint: „Insgesamt steht jedoch außer Frage, daß die europäische Geschichte des 20. Jahrhunderts zugleich die Erfolgsgeschichte der Säkularisierung ist“ (Lehmann 2004, 24), während für den deutschen Philosophen Jürgen Habermas (2001, 2) die europäische Säkularisierung immer noch mit „ambivalenten Gefühlen“ besetzt ist.

Aber wie säkular ist letztlich Europa heute, am Beginn des 21. Jahrhunderts?

2.1 Säkulares Europa?

Es ist äußerst schwierig, ein gesellschaftliches Phänomen wie das der Säkularisierung zu messen. Rolle und Einfluss der Kirchen lassen sich zwar noch eher erfassen, kompliziert wird es aber dann, wenn es darum geht, den tatsächlichen Stellenwert von Religion im Privatleben der Menschen zu eruieren. Zudem hängt es davon ab, wie man Religion definiert. Auch Detlef Pollack (2003, 6) meint dazu: „Was man unter Religion versteht, entscheidet mit darüber, als wie säkularisiert oder religiös man die Gesellschaftsverhältnisse wahrnimmt.“ Der amerikanische Soziologe Peter L. Berger (1999, 23) spricht von Secularization Falsified, von einer Moderne, die nicht durch eine Abwesenheit von Gott gekennzeichnet ist, sondern durch eine Präsenz vieler unterschiedlicher Götter, und verweist dabei auf den Islam, auf die vor allem in Süd- und Nordamerika stark präsenten evangelikalen ProtestantInnen oder die Missionierungstätigkeit der katholischen Kirche in Afrika und Asien. Was die Rolle des Religiösen in hochmodernisierten Gesellschaften wie der westlichen anbelangt, wurde und wird in der Soziologie die sogenannte Säkularisierungstheorie2 herangezogen. Doch auch diese hat in den vergangenen zwei Jahrzehnten AnhängerInnen verloren, denn eine technologisierte Gesellschaft muss nicht zwingend eine bis ins Letzte säkularisierte sein. Dies zeigt das Beispiel der Vereinigten Staaten, wo ein breites und vitales Spektrum religiösen Lebens zu beobachten ist. Mit Blick auf Europa bestätigt sich die Säkularisierungstheorie auf den ersten Blick weit mehr, vor allem, wenn man sich Umfrageergebnisse ansieht, die Aufschluss über die individuelle religiöse Bindung geben.

Aus einer im Herbst 2002 vom „Institut für Demoskopie Allensbach“ für die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ durchgeführten Umfrage (Frankfurter Allgemeine Zeitung, 21.02.2003) geht hervor, dass sich von den in Deutschland befragten KatholikInnen 19 Prozent als gläubig und mit der Kirche eng verbunden sehen. Kritisch mit der Kirche verbunden sind 35 Prozent. Zahlen des italienischen Instituts für Statistik aus dem Jahr 2006 bestätigen den rückläufigen Trend in Sachen religiöser Partizipation: Lediglich ein Drittel der befragten ItalienerInnen sucht einmal in der Woche eine Kirche oder einen sonstigen Ort der Glaubensausübung auf (Istituto Statistico Nazionale 2007, 174).

Südtirol befindet sich geografisch und kulturell gesehen zwischen dem deutschen und dem italienischen Lebensraum. Was die statistische Erfassung der Südtiroler in puncto Religion anbelangt, so zeichnet eine Untersuchung des Landesamtes für Statistik folgendes Bild (Landesinstitut für Statistik 2006, 178): „Insgesamt erklären 81,2 % der SüdtirolerInnen, einer Konfession anzugehören […] Die große Mehrheit der Bevölkerung erklärt, der katholischen Kirche anzugehören (92,7 %). Mit großem Abstand folgt die evangelische Kirche (4,6 %).“ Aus der ASTAT-Werte-Studie geht zudem hervor, dass 35,6 Prozent der Befragten regelmäßig die Kirche oder andere Glaubenseinrichtungen besuchen, 28 Prozent nur zu besonderen Anlässen, 32 Prozent der befragten SüdtirolerInnen suchen hingegen manchmal eine Kirche oder eine Glaubenseinrichtung auf. Aus der Studie geht außerdem hervor, dass „drei Viertel der Südtiroler Bevölkerung eine Anpassung der Kirche an gesellschaftliche Erfordernisse“ wünschen (Landesinstitut für Statistik 2006, 179). Mit einem relativ hohen Prozentsatz mitgetragen wird von den Befragten die offizielle Linie der Kirche zu kontroversen Themen wie Abtreibung oder Haltung der Kirche gegenüber Homosexuellen: Ja zum Nein der katholischen Kirche gegen Abtreibung: 49,8 Prozent; Zustimmung zur strengen Haltung der katholischen Kirche gegenüber Homosexuellen: 41,1 Prozent. Ablehnung erfährt die Kirche bei den Befragten der ASTAT-Studien bei persönlichen Themen wie Empfängnisverhütung: Nur 16,6 Prozent befürworten hierbei die katholische Lehre. Die Studie gibt keine Auskunft darüber, ob und inwieweit religiöses Engagement in den verschiedenen, in Südtirol lebenden Sprachgruppen unterschiedlich ist.

Trotz der immer lockerer werdenden religiösen Bindungen der europäischen Bevölkerung zu den großen Kirchen wecken heftig geführte Debatten um das Thema Religion und Glauben – wir rufen uns den Streit um das Kippenberger-Werk in Erinnerung – Zweifel am Relevanzverlust der Religion heute. Denn selbst wenn Religion, vor allem aber religiöse Praxis, im Leben eines Einzelnen an Stellenwert einbüßen mag, so muss dies nicht zwingend einen Bedeutungsverlust von Religion in der politischen Öffentlichkeit und Kultur zur Folge haben. Im Gegenteil: Religionen können ihren Sitz im Leben der Menschen behaupten – ohne Teil dessen zu sein. „Postsäkular“ nennt Habermas (2008, 36) eine solche Gesellschaft, die sich auf „das Fortbestehen religiöser Gemeinschaften in einer fortwährend säkularisierten Umgebung einstellt“.

Diese öffentliche Existenz von Religion geht mitunter so weit, dass damit auch Politik gemacht wird, man vergegenwärtige sich beispielsweise das Verhältnis von Kirche und Staat in Italien: Die katholische Kirche besitzt eine durch das Konkordat geregelte und in der italienischen Verfassung3 verankerte Sonderstellung gegenüber anderen Religionen, und immer wieder erhebt sie öffentlichkeitswirksam ihre Stimme, wenn es um gesellschaftspolitisch strittige Themen geht, zuletzt im Fall der Komapatientin Eluana Englaro4.

Eindeutige Worte, was den Einfluss der katholischen Kirche auf die italienische Politik anbelangt, findet der an der römischen Universität „Tor Vergara“ lehrende Philosoph Alessandro Ferrara (2006, 6):

„Offensichtlich leidet die katholische Kirche in diesem Land kaum unter ,übermäßiger Privatisierung‘, sie braucht keine zusätzliche etwaige Benachteiligungen ausgleichende ,öffentliche Rolle‘, im Gegenteil: Sie ist, wie seit Jahrhunderten, eine Macht ohne demokratische Legitimation, die nicht geschützt, sondern in ihre Schranken gewiesen werden muss.“

Ferrara erinnert in seinem Aufsatz „Religion und postsäkulare Vernünftigkeit“ an das im Juni 2005 gescheiterte Bioethik-Referendum, bei dem es um die Liberalisierung der Gesetzgebung zur künstlichen Befruchtung ging. Die Abstimmung scheiterte aufgrund des nicht erreichten 50-Prozent-Quorums. Lediglich 30 Prozent der Wahlberechtigten gingen zur Urne, für Ferrara auch auf „christlichen Druck hin […] die Kirche, besonders Kardinal Ruini, machte sich ihre moralische Autorität über die Gläubigen zunutze und nahm damit vehement Einfluss auf die italienische Politik“. So ist die Religion „mit Macht auf die politische Bühne zurückgekehrt“ (Ferrara 2006, 6).

Weltweit gesehen sind es für Jürgen Habermas (2008, 34) vor allem drei Phänomene, die ein Wiederaufleben der Religionen andeuten, und zwar: „ … die missionarische Ausbreitung der großen Weltreligionen (a), deren fundamentalistische Zuspitzung (b) und die politische Instrumentalisierung ihrer Gewaltpotenziale.“

Für Gilles Kepel (1991, 90) erlebte die Welt bereits Mitte der 1970er-Jahre eine Rechristianisierung, und das in erster Linie wegen einer zunehmend pessimistischen Einschätzung, was die Zukunft der Welt betrifft. Es ging die Angst um, der Mensch könne sich dem wachsenden Einfluss von Technik und Wissenschaft nicht mehr entziehen, verliere zunehmend die Kontrolle über sich selbst. Für den Soziologen geht diese Entwicklung so weit, dass er im Jahre 1975 die seit der Aufklärung übergeordnete Rolle der Vernunft gegenüber der Religion für beendet sieht. Allen voran zwei bedeutende katholische Theologen waren es laut Kepel, die für die Überwindung einer modernen säkularisierten Welt zugunsten einer „Theologie der Postmoderne“ (vgl. Kepel 1991, 90) eintraten: der damalige Erzbischof von Paris, Kardinal Jean Marie Lustiger, und Joseph Ratzinger, ehemaliger Präfekt der Glaubenskongregation und heutiger Papst Benedikt XVI. Kepel zitiert in seinem Buch „Die Rache Gottes“ Kardinal Ratzinger, der sich gegen den Rückzug der christlichen Religion ins Private ausspricht und dabei auf die Anfänge des Christentums verweist, wo Gläubige von Beginn an einen Status öffentlichen Rechts für ihre Religion eingefordert hatten. Kepel (1991, 95) dazu: „Die Rückeroberung dieses ,Status des öffentlichen Rechts‘ ist eines der wichtigsten Anliegen der zeitgenössischen Rechristianisierung. […]“.

Und dies in dem scheinbar so säkularen Europa. Auch Casanova (2008, 11) fragt sich, wie solide die Mauern sind, die Staat und Kirche in den europäischen Ländern trennen, und nennt Frankreich den einzigen europäischen Staat, der sich als säkular begreift.

3. Gläubige und Nicht-Gläubige – zwei gleichberechtigte Partner

Weitgehend einig ist man sich in der religionssoziologischen Diskussion, dass es gilt, das Verhältnis von Religion und Staat neu zu überdenken. Auch in Europa. Die wachsenden Spannungen entlang verschiedener Konfliktlinien – religiöse Gruppen versus SäkularistInnen und AnhängerInnen verschiedener Religionen und Glaubensgemeinschaften untereinander – zeigen, dass immer öfter die von der Verfassung vorgegebene Neutralität der Institutionen infrage gestellt wird.

Viele Fragezeichen tauchen in diesem Zusammenhang auf: Soll der Westen, soll Europa an seiner im Zuge der vergangenen zweihundert Jahre hart erkämpften Unabhängigkeit von Kirche und Staat rütteln? Gründet nicht liberale und demokratische Politik gerade auf diese Trennung von Staat und Kirche? Auch Ferrara (2006, 7) überlegt, „welche Gründe könnte es geben, dieses Rezept heute infrage zu stellen?“, und schließt dies angesichts der (auch in Europa) wachsenden Bedeutung von Religion in Öffentlichkeit und Politik nicht mehr aus. Damit ist er nicht allein. Auch der liberale und bereits mehrmals zitierte politische Philosoph Jürgen Habermas fragt sich, ob die Theorie einer religiösen Neutralität des Staates und dessen Trennung von der Kirche nicht allzu restriktiv ist.

Im Zuge der Säkularisierung hat sich ein Nebeneinander von weitgehend abgeschlossenen Gruppen – Menschen verschiedener Religions- und Glaubensgemeinschaften, SäkularistInnen und AtheistInnen – entwickelt. Habermas (2008, 38) kritisiert diesen modus vivendi als „unzureichend“; KatholikInnen, Angehörige evangelischer Kirchen, MuslimInnen, Juden und Jüdinnen, BuddhistInnen oder HinduistInnen sowie AtheistInnen bilden „Subkulturen“, verschanzen sich in ihren jeweiligen Welten, bleiben füreinander Fremde.

Ist nicht auch im Fall des Bozner Kippenberger-Skandals der von Habermas beschriebene modus vivendi von zwei unterschiedlich orientierten Gesellschaftsgruppen für wenige, aber intensive Wochen aus dem Gleichgewicht geraten? Standen sich nicht auch hierbei scheinbar Fremde gegenüber, in ihren Extremen unversöhnlich? Übrigens reagierten auch die politischen EntscheidungsträgerInnen weitgehend ratlos, indem sie einerseits die Freiheit der Kunst reklamierten, anderseits aber jenen Kräften ihre Unterstützung zusicherten, welche sich in ihren religiösen Gefühlen verletzt fühlten. Der Streit um den Kippenberger-Frosch nahm erst ein Ende, nachdem die Skulptur verschwunden war.

Versöhnung, wenn wir so wollen, kann nur dann erfolgen, wenn es gelingt, zwischen den Konfliktparteien einen Dialog auf selber Augenhöhe anzustoßen. Und dazu müssen sie sich aus der, wie Habermas (2008, 39) es nennt, Umklammerung der Subkulturen befreien – „damit diese sich in der Zivilgesellschaft gegenseitig als Staatsbürger, das heißt als die Träger desselben politischen Gemeinwesens anerkennen können“. Als StaatsbürgerInnen geben sie sich selbst Gesetze, unter denen sie als „private Gesellschaftsbürger ihre kulturelle und weltanschauliche Identität bewahren und gegenseitig respektieren können“. Der demokratische Staat selbst muss eine unparteiliche Anwendung der Religionsfreiheit gewähren. Hier geht es nicht nur um eine faire Anwendung der Gesetze seitens des Staates, sondern um eine gleichberechtigte. Ja, es geht um Gleichberechtigung. Und ebendiese sehen Philosophen wie Habermas oder Ferrara gefährdet. Nicht allein die gleiche Behandlung von Menschen unterschiedlichen Glaubens, sondern auch die zwischen Nicht-Gläubigen und Gläubigen. Alessandro Ferrara (2006, 7) schreibt dazu:

„Was die Balance [der Gleichheit der Bürger] in den Augen der säkular eingestellten politischen Philosophie heute belastet […] ist die Tatsache, dass in der liberalen Demokratie nur nichtreligiöse, säkulare Gründe eine legitime Basis für bindende Entscheidungen darstellen. Dies bürdet aber jenen Bürger, die ihren Glauben hingebungsvoll leben, zusätzliche Last auf, wenn sie sich im vollen Umfang am demokratischen Prozess beteiligen wollen. Wenn die einzige Währung, die in der politischen Arena im Umlauf ist, aus ,vorletzten‘ (im Gegensatz zu ,letzten‘) Gründen besteht, nämlich aus den vernünftigen ,säkularen‘ Gründen, die Gläubige und Nichtgläubige gleichermaßen teilen können, dann ist es offensichtlich, dass nicht alle Bürger völlig gleich sind.“

Auch Habermas (2008, 44) prognostiziert ein ähnliches Szenario, indem er sich fragt, inwieweit „eine säkularistische Abwertung der Religion … mit dem skizzierten Verhältnis von staatsbürgerlicher Gleichheit und kultureller Differenz überhaupt vereinbar ist“.

Wie diese Gleichheit zwischen gläubigen und nichtgläubigen Bürgern wieder herstellen? Habermas (vgl. Ferrara 2006, 8 – 9) meint zur Wiederherstellung dieser „egalitären Gleichung“, dass der gesellschaftliche Raum zweigeteilt sei in einen öffentlichen, in dem Religion keine Rolle spielen darf, und in einen ebenso öffentlichen – im Sinne von nicht auf die eigenen vier Wände beschränken – Raum, in dem die BürgerInnen ihre religiösen Vorstellungen zum Ausdruck bringen können. Wichtig ist für Habermas, dass die formellen Entscheidungsträger, Parlamente, Gerichte und Verwaltungsbehörden, frei von jeglichen religiösen Verweisen sind.

Der religiöse Bürger muss nun, um mit seinen Vorstellungen am politischen Prozess teilhaben zu können, sein religiöses Ansinnen in neutrale Begriffe fassen, wobei dieses nicht auf ein rein äußerliches Prozedere beschränkt werden kann: „[Religiöse Bürger und Religionsgemeinschaften] müssen sich die säkulare Legitimation des Gemeinwesens unter den Prämissen ihres eigenen Glauben zu eigen machen“ (Habermas 2008, 44). Eine, wie Habermas es nennt, „Mentalitätsverordnung“ an das religiöse Bewusstsein der Menschen samt ihren Religionsgemeinschaften lässt sich nicht von oben herab verordnen, politisch steuern oder rechtlich erzwingen Dieser Wandel sei bestenfalls das „Ergebnis eines Lernprozesses“ (Habermas 2008, 45). Und dies kann dauern. Die katholische Kirche hat sich erst nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil zu Liberalismus und Demokratie bekannt, dem Islam stehe dieser schmerzhafte Lernprozess noch bevor (vgl. Habermas 2008, 44).

Dazu gehört auch, dass sich eine Religion ihrer Stellung in einer pluralistischen Gesellschaft bewusst ist. Das Prädikat „vernünftig“ verdienen Religionsgemeinschaften aus der Sicht eines liberalen Staates nur dann, wenn sie bereit sind, auf eine gewaltsame Durchsetzung ihrer Glaubensvorstellungen zu verzichten. Voraussetzungen für eine solche Einsicht sind:

„Das religiöse Bewusstsein muss erstens die Begegnung mit anderen Religionen und Konfessionen kognitiv verarbeiten. Es muss sich zweitens auf die Autorität von Wissenschaften einstellen, die das gesellschaftliche Monopol am Weltwissen innehaben. Schließlich muss es sich auf Prämissen eines Verfassungsstaates einlassen, der sich aus einer profanen Moral begründet (Habermas 2001, 3).“

Was den neutralen Staat betrifft, so muss es klar sein, dass dieser nicht gleichzusetzen ist mit einem Staat, der rigoros religiöse Äußerungen aus der politischen Öffentlichkeit ausschließt.

Im Jänner 2004 findet auf Einladung der Katholischen Akademie München eine weit über den deutschen Sprachraum beachtete Diskussionsrunde statt: Der Philosoph Jürgen Habermas trifft auf Joseph Kardinal Ratzinger, heute Papst Benedikt XVI. Thema der Zusammenkunft: „Vorpolitische moralische Grundlagen eines freiheitlichen Staates“ (Habermas/Ratzinger 2005). Der sich selbst als „religiös unmusikalisch“ verstehende Jürgen Habermas fordert von einer säkularen Gesellschaft „ein neues Verständnis von religiösen Überzeugungen“ (Habermas 2005, 10). Und auch an jenem Abend beschreibt der Philosoph die Herausforderungen, die Anstrengungen, die der religiöse Bürger und der neutrale Staat auf sich nehmen sollten, damit Zusammenleben gelingen kann. Einst bestimmten die Religionen, wie das Leben als Ganzes gelebt werden sollte, sie zeigten sich für einen jeden Bereich des öffentlichen und privaten Lebens verantwortlich. Aufgrund der „Säkularisierung des Wissens, der Neutralisierung der Staatsgewalt und der verallgemeinerten Religionsfreiheit“ mussten die Religionen ihr Monopol auflassen (Habermas 2005, 34). Auch spricht Habermas wiederum von dem bereits oben zitierten Modus Vivendi, hier dahingehend zu verstehen, dass der religiöse Bürger sein religiöses Ethos im neutralen Staat eingebettet und nicht bloß angepasst sehen soll. Auch der Staat profitiert von diesem inneren (Lern-)Prozess, denn ihm wird so die Möglichkeit eröffnet, über die politische Öffentlichkeit einen eigenen Einfluss auf die Gesellschaft als Ganzes auszuüben (Habermas 2005, 35). Dies bekommt der Staat nicht umsonst, und so erwartet Habermas von diesem „einen selbstreflexiven Umgang mit den Grenzen der Aufklärung“ (Habermas 2005, 35). Darüber hinaus macht auch hier Habermas klar, dass für ihn ein neutraler Staat nicht ein säkularer Staat ist. Vielmehr wird auch den säkularen Bürgerinnen und Bürgern einiges abverlangt:

„Säkularisierte Bürger dürfen, soweit sie in ihrer Rolle als Staatbürger auftreten, weder religiösen Weltbildern grundsätzlich ein Wahrheitspotenzial absprechen, noch den gläubigen Bürgern das Recht bestreiten, in religiöser Sprache ihre Beiträge zu öffentlichen Diskussionen zu machen. Eine liberale politische Kultur kann sogar von den säkularen Bürgern erwarten, dass sie sich an Anstrengungen beteiligen, relevante Beiträge aus der religiösen in eine öffentlich zugängliche Sprache zu übersetzen“ (Habermas 2005, 36).

Aufeinander zugehen und sich wechselseitig bedingen, dies fordert auch Joseph Ratzinger in seinen Ausführungen im Rahmen des Gesprächs an der Katholischen Akademie München im Jänner 2004, nicht ohne einerseits auf die „Pathologien in der Religion“, andererseits auf die „Pathologien in der Vernunft“ hinzuweisen (Ratzinger 2004, 56).

Was das Verhältnis von Religion und Vernunft angeht, plädiert Ratzinger für eine „notwendige Korrelation von Vernunft und Glaube, Vernunft und Religion“. Für den Theologen und heutigen Papst Benedikt XVI. sind der christliche Glaube und die westliche säkulare Rationalität die, durchaus auch global gesehen, beiden „Hauptpartner“, denn beide „bestimmen die Weltsituation in einem Maße wie keine anderen kulturellen Kräfte“ (Ratzinger 2004, 57). Dies bedeute aber keineswegs, dass man die anderen Kulturen leugnen dürfe, deshalb empfiehlt der Theologe: „Es ist für beide Komponenten der westlichen Kultur wichtig, sich auf ein Hören, eine wahre Korrelation mit diesen Kulturen einzulassen.“ Dieses „Hören“ könnte eine Art reinigenden Prozess einleiten, durch den die „von allen Menschen irgendwie gekannten oder geahnten wesentlichen Werte und Normen neue Leuchtkraft gewinnen könnten […]“ (Ratzinger 2004, 57 – 58).

Es geht somit um einen Lernprozess auf beiden Seiten, Ratzinger nennt es „ein Hören“, und es zeigt sich, dass die Entwicklung der europäischen Säkularisierung noch nicht abgeschlossen ist (vgl. Habermas 2001a, 2005b, 2008c). Religionsgemeinschaften, säkulare Bürger und der Staat, sie alle müssen sich bewegen.

Auf ebendiese Dialektik geht Habermas ein, als er im Oktober 2001, wenige Wochen nach den Anschlägen von 9/11, den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels entgegennimmt. Der Preisträger wählt für seine Rede das Thema „Glauben und Wissen“ und konzentriert sich in seinen Ausführungen weniger auf den religiös-ideologischen Hintergrund der radikal-muslimischen Attentäter von 9/11, sondern richtet den Blick nach Europa: „Den Risiken einer andernorts entgleisenden Säkularisierung werden wir nur mit Augenmaß begegnen, wenn wir uns klar werden, was Säkularisierung in unserer postsäkularen Gesellschaft bedeutet“ (Habermas 2001, 3). In einer postsäkularen Gesellschaft wie der europäischen kann es nicht sein, dass Säkularisierung als ein endlich die Religion überwindender Prozess begriffen wird, aber auch nicht als ein Zustand, in dem alles Religiöse verdrängt worden ist. Es braucht eine dritte Kraft, eine „zivilisierende Rolle eines demo­kratisch aufgeklärten Commonsense“ (Habermas 2001, 3). Dieser „Commonsense“, zu Deutsch „Menschenverstand“, der uns vielleicht ein Stück weit näher an die Antwort auf die Frage bringt, wie eine Gleichberechtigung zwischen Gläubigen und Ungläubigen wieder hergestellt werden kann. Noch einmal Habermas (2001, 6):

„Der demokratisch aufgeklärte Commonsense ist kein Singular, sondern beschreibt die mentale Verfassung einer vielstimmigen Öffentlichkeit. Säkulare Mehrheiten dürfen in solchen Fragen keine Beschlüsse durchdrücken, bevor sie nicht den Einspruch von Opponenten, die sich davon in ihren Glaubensüberzeugungen verletzt fühlen, Gehör geschenkt haben; sie müssen diesen Einspruch als eine Art aufschiebendes Veto betrachten, um zu prüfen, was sie daraus lernen können. […] Die Grenze zwischen säkularen und religiösen Gründen ist ohnehin fließend. Deshalb sollte die Festlegung dieser umstrittenen Grenze als eine kooperative Aufgabe verstanden werden, die von beiden Seiten fordert, auch die Perspektive eines jeweils anderen einzunehmen.“

4. Ausblick

Welche Schlüsse lassen sich nun aus diesen theoretischen Betrachtungen ziehen? Und wo siedeln wir die „Frosch-Geschichte“ an? Denn auch wenn die Kippenberger-Skulptur längst das „Museion“ verlassen hat, vergessen wird sie in Südtirol so schnell niemand. Wir tun zwar gut daran, die Polemiken ruhen zu lassen, aber wir sollten nicht glauben, dass der Grundsatzstreit zwischen säkular und religiös eingestellten Bürgerinnen und Bürgern nicht ein zweites, ein anderes Mal aufflammen könnte. Gelegenheiten wird das Leben selbst genügend liefern – denken wir an die zunehmende Notwendigkeit der Integration von Menschen unterschiedlichen Glaubens oder an die Frage der religiösen Symbole wie das Kreuz in öffentlichen Gebäuden. Gefeit werden wir auch in Zukunft nicht sein gegen Schwarzmalerei und Schönfärberei so mancher PolitikerInnen und LobbyistInnen. Immer wieder werden wir beobachten müssen, dass Religion vor den Karren von PopulistInnen verschiedenster Couleur gespannt werden wird. Umso wichtiger ist es deshalb, sich Gedanken darüber zu machen, wie ein gleichberechtigtes, faires Zusammenleben von Gläubigen und Nicht-Gläubigen gelingen kann.

Als Jürgen Habermas im Herbst 2001 den Friedenspreis des Deutschen ­Buchhandels entgegennahm, holte er nicht zum Kampf der Kulturen aus, sondern er­innerte vielmehr an die eigene, deutsche, europäische, westliche Rolle zu Säku­la­risierung, Religion und Atheismus. Habermas sprach von Kooperation und Perspek­tiven­wechsel. Könnte der Streit um den „Frosch“ nicht auch ein Anstoß sein, um darüber nachzudenken, wie wir uns als gläubige oder nichtgläubige Menschen positionieren?

Klar muss sein, dass jegliche Form von Fundamentalismus – egal welcher Ideologie er sich bedient – keinen Platz haben darf in einer demokratischen Gesellschaft, weder ein religiöser noch ein militant säkularer. Ebenso vorausgesetzt werden muss die völlige Freiheit eines jeden, an seine Religion zu glauben und danach zu leben. Ohne Religionsfreiheit keine Demokratie.

Soll deswegen alles erlaubt sein? Wie weit geht die Toleranz? Der englische Philosoph John Locke hat vor beinahe vierhundert Jahren über Toleranz geschrieben, was bis heute gelten kann – auch wenn sich die Bedingungen radikal gewandelt haben. Locke vertritt die Meinung, dass religiöse Praktiken eines Einzelnen dann verboten gehören, wenn sie dem Gemeinwohl einer Gesellschaft abträglich sind (vgl. Locke 1996). Für Habermas (2008, 40) hingegen bedeutet Toleranz vor allem eine im Alltag praktikable Einstellung, die er wie folgt formuliert: „Toleranz heißt, dass sich Gläubige, Andersgläubige und Ungläubige gegenseitig Überzeugungen, Praktiken und Lebensformen zugestehen, die sie selber ablehnen.“ Das ist ein hartes Stück Arbeit. Es geht um die Akzeptanz jener Einstellung gegenüber, der man rein gar nichts abgewinnen kann. Und weswegen? Weil es um die Gleichheit aller BürgerInnen geht.

Allerdings gibt auch Habermas (vgl. 2008, 40) zu bedenken, dies sei leichter gesagt als getan. Um all diese gut gemeinten Theorien auch nur annähernd Wirklichkeit werden zu lassen, müssen auf vielen Ebenen Entwicklungen in Gang gesetzt werden, verbindliche Regeln müssen in den jeweiligen Religionen festgeschrieben und von der Mehrheit akzeptiert werden. Dabei hat die unter dem Deckmantel der Religionen vielfach praktizierte Unterdrückung und Ungleichbehandlung der Frau ebenso keinen Platz wie die Abwertung von Menschen anderer Glaubens- oder Wertevorstellungen.

Was die Integration von MigrantInnen betrifft, aber nicht nur, muss der Staat Voraussetzungen schaffen, damit diese eine gleichberechtigte Chance haben, am demokratischen Leben teilzuhaben und -zunehmen. Wir erinnern uns: Habermas hat hierfür das Konzept des Gesellschaftsbürgers und des Staatsbürgers erarbeitet: Die Staatsbürger begegnen sich in der Zivilgesellschaft nicht nur als gleichberechtigte Träger des Gemeinwesens, sondern auch als Gesetzgeber. Dies ist aber erst möglich, sobald sie sich aus der „Umklammerung ihrer Subkulturen“ gelöst haben (vgl. Habermas 2008, 39). Diese von ihnen mitgetragenen Gesetze sollen es ermöglichen, dass sie ihre jeweilige kulturelle, politische und weltanschauliche Identität bewahren können. Freilich nicht ohne den gegenseitigen Respekt. Auf dieser Ebene treffen sich die Bürger nicht als Staats-, sondern als Gesellschaftsbürger. Habermas (2008, 39) dazu:

„Dieses neue Verhältnis von demokratischem Staat, Zivilgesellschaft und subkultureller Eigenständigkeit ist der Schlüssel zum richtigen Verständnis der beiden Motive [Staats- und Gesellschaftsbürger], die heute miteinander konkurrieren, obwohl sie sich ergänzen sollten.“

Zurück zum Spannungsfeld von Religion, Säkularisation und neutralem Staat und der Forderung nach Gleichberechtigung. Damit diese gelingen kann, müssen die unterschiedlichen Positionen voneinander lernen. Dieser Lernprozess sollte aus einer Kooperation bestehen, die auf Prinzipien fußt, welche sowohl Gläubige, Andersgläubige wie Nicht-Gläubige teilen können (vgl. Ferrara 2006, 9). Der Staat selbst muss Neutralität bewahren, nicht ohne jedoch um die Vorstellungen seiner Bürger zu wissen. Umgesetzt können diese aber erst dann werden, sobald sie in eine neutrale Sprache übersetzt worden sind. So meint Habermas (2001, 7) in seiner Dankesrede: „Eine Säkularisierung, die nicht vernichtet, vollzieht sich in der Übersetzung.“

Noch ein Wort zur Gleichberechtigung. Dazu gehört auch, Menschen in ihren religiösen und nichtreligiösen Ansichten und Gefühlen zu respektieren, gläubige Bürger nicht als Ewiggestrige, Unmoderne abzustempeln und Nicht-Gläubige als „gottlose“. Beide Welten haben ihre Daseinsberechtigung. Und: Gegen eine Gleichberechtigung spricht auch die Monopolstellung einer einzigen Religion.

Es wäre wohl ratsam, sich diese demokratischen Spielregeln anzueignen. Die Welt wird immer bunter, Menschen bewegen sich in unterschiedlichsten Lebenswelten, Globalisierung und Pluralismus haben auch in Südtirol Einzug gehalten. Und wir sollten uns klar sein, dass auch im postsäkularen Europa Religion immer noch – und immer mehr – eine Rolle spielt. Diese sollte aber nicht darin bestehen, sich von den anderen abzugrenzen, indem wir irgendwelche Mauern aufbauen. Dies ist nicht der Sinn von Religion.

Der „Skandal“ um die Kippenberger-Arbeit hat gezeigt, wie schnell sich die Fronten – zumindest für wenige Monate – verhärten können, freilich nicht ohne ein gehöriges Zutun der Medien und einzelner exponierter Personen. Neben der Frage nach der Freiheit der Kunst, hat der „Museion“-Sommer 2008 an den Tag gebracht, wie sehr Glaube und Nicht-Glaube Menschen entzweien können, wie fragil das Zusammenleben ist. Die hier präsentierten Ergebnisse und Zwischenergebnisse der philosophischen und religionssoziologischen Forschung hinterfragen nicht nur die Gegenwart, sondern können Anstoß sein, die Zukunft in ein neues Licht zu tauchen. Nur eine moderate, faire Kooperation zwischen den Welten, vor allem aber zwischen den Menschen mit ihren vielen unterschiedlichen Werten und Lebensformen hat wirklich Zukunft. Auch wenn dies, wie der amerikanische Soziologe Peter L. Berger (vgl.1999, 27) es formuliert, eine schwierige Aufgabe ist. Aber keine unmögliche.

5. Anhang

Chronik einer Kontroverse

23. Mai: Einen Tag vor der offiziellen Einweihung öffnet das „Museion“ für die lokale Presse seine Tore.

24. Mai: Eröffnung des Museums für moderne und zeitgenössische Kunst „Museion“ in Bozen. Eines der rund 300 ausgestellten Exponate zeigt eine aus dem Jahr 1990 stammende Arbeit des deutschen Künstlers Martin Kippenberger (*1953, †1997). Die gut einen Meter große Skulptur mit dem Titel „Zuerst die Füße“ ist eine Leihgabe der Sammlung Tirala und zeigt einen grünen an ein Holzkreuz genagelten Frosch, der in seiner Linken einen Bierkrug, in seiner Rechten ein Ei hält.

25. Mai: Erste Pressereaktionen auf den „Kippenberger-Frosch“, Titelseite der Sonntagszeitung „Zett“.

Stellungnahme von Diözesanbischof Wilhelm Egger zum ausgestellten Kippenberger-Werk, in der es unter anderem heißt: „Die im Museion ausgestellte Darstellung eines ans Kreuz genagelten Frosches hat viele Besucher verwundert und in ihren religiösen Gefühlen verletzt. Mögen der Künstler und das Museion dies auch nicht beabsichtigt haben, so gibt es doch ein Recht des Menschen auf Respekt vor religiösen Gefühlen. […] Unsere Zeit braucht Respekt vor religiösen Symbolen und religiösen Gefühlen. Die Ausstellung solcher Werke ist kein Beitrag zum Frieden zwischen Kulturen und Religionen.“

26. Mai: Landeshauptmann Luis Durnwalder spricht im Zusammenhang mit dem Kippenberger-Werk von einer „Respekt- und Geschmacklosigkeit“. Die Kulturlandesrätin Sabina Kasslatter-Mur äußert sich zu dem Kippenberger-Frosch dahin­gehend, dass es eine „Wesensart zeitgenössischer Kunst sei, die Menschen zu irritieren“. Sie verstehe aber, dass dies die Gefühle der Gläubigen verletzen könnte.

27. Mai: Ein wochenlanger medialer Schlagabtausch zwischen Befürworter­Innen der Kippenberger-Skulptur und deren GegnerInnen beginnt. Die Diskussion sorgt auch außerhalb der Provinz für Schlagzeilen.

Der Pastoralrat der Diözese Bozen-Brixen bezieht Stellung zu der ausgestellten Arbeit und nennt das Werk „verletzend und entwürdigend“.

1. Juni: „Museion“-Direktorin Corinne Diserens nimmt in einem Zeitungsinterview erstmals seit der Eröffnung der Ausstellung öffentlich Stellung: „Keine Selbstzensur für Tradition“.

Eine Gruppe von „Frosch-Gegnern“ veranstaltet einen Protestmarsch zum „Museion“. Über die tatsächliche Zahl der anwesenden Protestierer gehen die Medienberichte weit auseinander.

3. Juni: Kulturlandesrätin Kasslatter-Mur, „Museion“-Präsident Alois Lageder und der Stiftungsrat beschließen ein Maßnahmenpaket rund um das umstrittene Kippenberger-Werk.

Solidaritätsbekundungen mit der „Museion“-Leitung auf der einen Seite, zornige und empörte Frosch-Gegner auf der anderen Seite: Die Diskussion spaltet die politische Führung ebenso wie Kunst- und Kulturschaffende und die restlichen Menschen im Land; Leserbriefe füllen viele Seiten der deutsch- und italienischsprachigen Zeitungen.

4. Juni: In einer Aussendung schreibt das „Museion“, man sei zu einem Dialog und zu einer Diskussion auf inhaltlicher Ebene bereit, spricht sich aber gegen eine Entfernung des Kunstwerkes aus. In Meran findet eine Podiumsdiskussion zum Thema „Die Kunst der Freiheit“ statt.

5. Juni: Der Verwaltungsrat des „Museions“ und Kuratorin Letizia Ragaglia vereinbaren ein Maßnahmenpaket rund um das Kippenberger-Werk. Die Vorschläge werden der Landesrätin Kasslatter-Mur übergeben. Dabei soll es sich um didaktische Ideen handeln, wie dem Museumsbesucher die Skulptur „Zuerst die Füße“ zugänglich gemacht werden kann, indem man etwa die künstlerische Intention des Künstlers Martin Kippenberger und die Alkoholproblematik thematisiert.

Die Union für Südtirol sammelt Unterschriften für die Entfernung der Kippenberger-Arbeit aus dem „Museion“.

Eine Gebetsgruppe kündet Mitte Juni an, bis zur Entfernung des Frosches an jedem Samstagnachmittag vor dem Museum eine Mahnwache halten und für die Abnahme der Skulptur beten zu wollen.

19. Juni: Das Werk Kippenbergers „Zuerst die Füße“ wird verdeckt. Zeitungsberichte und Briefe rund um die Frosch-Affäre werden an eine Wand geklebt, die die Kippenberger-Skulptur in den Hintergrund treten lässt.

25. Juni: Regionalratspräsident Franz Pahl zeigt sich empört über scheinbare verbale Beleidigungen der Gebetsgruppe seitens einer „Museion“-Angestellten.

26. Juni: Das Pressebüro des „Museions“ teilt in einer Erklärung mit, dass „kein Mitarbeiter des ,Museions‘ die Gebetsgruppe weder gestört, noch beleidigt hat“.

28. Juni: Franz Pahl kündigt einen Hungerstreik an, falls der Kippenberger-Frosch nicht bis zum 23. Juli, eine Woche vor Antritt des Südtirolurlaubs des Papstes, entfernt wird.

30. Juni: Kontroverse Meinungen zur Frosch-Affäre innerhalb der Regierungspartei SVP treten an die Öffentlichkeit; Parteiobmann Elmar Pichler-Rolle wünscht laut Medienberichten eine Entfernung der Skulptur; Kulturlandesrätin Kasslatter-Mur spricht sich dagegen aus, fordert aber bessere Vermittlungsarbeit.

3. Juli: In einer Aussendung schreibt der Stiftungsrat des „Museions“, die Auseinandersetzung um das Frosch-Werk von Martin Kippenberger sei inzwischen nur mehr ein „Akt der Instrumentalisierung“.

8. Juli: An der Freien Universität Bozen findet auf Einladung des Stiftungsrates des „Museions“ eine Podiumsdiskussion von Kunstexperten zum Thema „Die Macht der Bilder“ statt.

Internationale Medienberichte (u.a. „FAZ“, „Der Standard“) um die Frosch-Affäre klingen nicht ab.

14. Juli: Der Stiftungsrat des „Museions“ diskutiert über das weitere Vorgehen in der Frosch-Affäre. Man beschließt, die Skulptur nicht abzunehmen.

19. Juli: Eröffnung der europäischen Biennale „Manifesta 7“ in Südtirol.

23. Juli: Franz Pahl beginnt vor dem „Museion“ seinen Hungerstreik.

26. Juli: Medienberichten zufolge hat sich Franz Pahl in einem Schreiben an Papst Benedikt XVI. gewandt und darin seinen Unmut über das ausgestellte Kippenberger-Werk zum Ausdruck gebracht.

28. Juli: Papst Benedikt XVI. tritt in Brixen seinen Sommerurlaub an. Spekulationen zufolge sprechen Bischof Wilhelm Egger und der Papst während der Autofahrt von Bozen nach Brixen auch über die Polemiken rund um die Kippenberger-Arbeit.

Bei der Montagspressekonferenz sagt Landeshauptmann Durnwalder, es sei an der Zeit, „eine Lösung zu finden“.

30. Juli: Landeshauptmann Durnwalder, Landesrätin Kasslatter-Mur und die Landesvertreter der „Museion“-Stiftung fordern „klare Maßnahmen“ vonseiten des „Museions“.

Das im Foyer des „Museions“ ausgestellte Kippenberger-Werk wechselt den Standort und wird in den dritten Stock des Museums zu weiteren Arbeiten des deutschen Künstlers gehängt.

31. Juli: Franz Pahl erleidet in der Nacht von Mittwoch auf Donnerstag einen Schwächeanfall und wird in das Krankenhaus eingeliefert.

26. August: Die fünf Vertreter des Landes im aus neun Räten bestehenden Stiftungsrat des „Museions“ treffen mit Landeshauptmann Durnwalder und Landesrätin Kasslatter-Mur zusammen und wollen sich im Stiftungsrat dafür starkmachen, dass das Kippenberger-Werk vorzeitig, am 1. September, aus der Ausstellung entfernt werden soll. Die Ausstellung „Peripherer Blick und kollektiver Körper“ dauert bis zum 21. September.

27. August: „Museion“-Direktorin Diserens erklärt laut Medienberichten, dass es bis zum Ende der laufenden Ausstellung keine Veränderungen geben wird.

28. August: Der Stiftungsrat des „Museions“ tagt, nachdem sich die fünf Landesvertreter im Rat öffentlich für eine vorzeitige Abnahme des Werkes ausgesprochen hatten. Sechs Räte stimmen für den Verbleib des Frosches bis zum Ende der Ausstellung, drei Stiftungsratsmitglieder für eine vorzeitige Entfernung.

Der italienische Kulturminister Sandro Bondi äußert sich in den Medien zu der Frosch-Affäre: „Ich glaube, dass das in Bozen ausgestellte Werk nicht nur die religiösen Gefühle vieler Gläubiger verletzt, sondern auch den guten Geschmack und die Sensibilität jener, die sich in dem Symbol selbst nicht erkennen.“

29. August: Nationales und internationales Medienecho (u.a. „New York Times“, „Guardian“, „Bild-Zeitung“) auf die Entscheidung des Stiftungsrates, nicht zuletzt weil bekannt wird, dass der Vatikan Anfang August den Regionalratspräsidenten Franz Pahl wissen ließ, man verurteile die im „Museion“ ausgestellte Skulptur.

Pahl gibt bekannt, bei den bevorstehenden Landtagswahlen am 28. September nicht mehr antreten zu wollen. Er habe, so Pahl, seine Bereitschaft, auf der SVP-Liste zu kandidieren, vom Eingreifen der Landesregierung gegen das Museum abhängig gemacht.

31. August: Das Schreiben, welches Pahl im August von Papst erhalten haben soll, hat nicht Benedikt XVI. selbst verfasst. Vatikansprecher Federico Lombardi teilte mit, dass der Brief von einem der Papst-Sekretäre verfasst worden sei. Die ganze Diskussion um den gekreuzigten Frosch sei lediglich von lokalem Interesse. Das Thema verdiene vonseiten des Vatikans keine weitere Aufmerksamkeit.

3. September: Im Berliner „Tagesspiegel“ meldet sich die Schwester des 1997 verstorbenen Martin Kippenberger, Susanne Kippenberger, zu Wort.

Seit Eröffnung des „Museions“ haben bisher 27.353 Personen das Museum für moderne und zeitgenössische Kunst „Museion“ besucht.

15. September: In einer Aussendung schreibt das „Museion“: „Letzte Gelegenheit: Die Eröffnungsausstellung ,Peripherer Blick und kollektiver Körper‘ ist im ,Museion‘ nur noch bis zum 21. September zu sehen“.

16. September: Drei Trentiner Regionalräte, Pino Morandini, Flavio Mosconi (beide Polo della Libertà) und Nerio Giovanazzi (Ammi­ni­stra­re il Trentino), bringen im Regionalrat einen Antrag gegen den Kippenberger-Frosch ein und verlangen bei zukünftigen finanziellen Zuschüssen eine Prüfung hinsichtlich der Verletzung religiöser Gefühle. 16 Abgeordnete stimmen dafür, 31 dagegen.

Anmerkungen

1 Die amerikanische Tageszeitung „New York Times“ titelt in ihrer Onlineausgabe „Italian Museum Defies Pope“. (29.08.2008); Die deutsche „Bild-Zeitung“ schreibt „Kunst oder Frevel? Papst will gekreuzigten Frosch aus dem Museum verbannen“, in „Bild“ (29.08.2008).

2 Die Säkularisierungsthese geht davon aus, dass zwischen Modernisierung der Gesellschaft und der Säkularisierung der Bevölkerung ein enger Zusammenhang besteht. Die These stützt sich auf drei Überlegungen (Habermas 2008, 34): „Der wissenschaftlich-technische Fortschritt fördert erstens ein anthropozentrisches Verständnis der ,entzauberten‘, weil kausal erklärbaren Weltzusammenhänge; und ein wissenschaftlich aufgeklärtes Bewusstsein lässt sich nicht ohne Weiteres mit theozentrischen oder metaphysischen Weltbildern vereinbaren. Zweitens verlieren die Kirchen und Religionsgemeinschaften im Zuge der funktionalen Ausdifferenzierung gesellschaftlicher Subsysteme den Zugriff auf Recht, Politik und öffentliche Wohlfahrt, Kultur, Erziehung und Wissenschaft; sie beschränken sich auf ihre genuine Funktion der Verwaltung von Heilsgütern, machen die Religionsausübung mehr oder weniger zur Privatsache und büßen generell an öffentlicher Bedeutung ein. Schließlich hat die Entwicklung von agrarischen zu industriellen und postindustriellen Gesellschaften allgemein ein höheres Wohlstandsniveau und zunehmende soziale Sicherheit zur Folge; mit der Entlastung von Lebensrisiken und wachsender existenzieller Sicherheit schwindet für den Einzelnen das Bedürfnis nach einer Praxis, die unbeherrschte Kontingenzen durch die Kommunikation mit einer ,jenseitigen‘ bzw. kosmischen Macht zu bewältigen verspricht.“

3 Im Artikel 7 der italienischen Verfassung heißt es: Der Staat und die katholische Kirche sind, je im ­eigenen Ordnungsbereich, unabhängig und souverän. Ihre Beziehungen sind durch die Lateran-Ver­träge geregelt. Die Abänderung dieser Verträge, sofern sie von beiden Seiten angenommen werden, bedürfen nicht des für die Verfassungsänderung vorgesehenen Verfahrens.

4 Der Vatikan und ihm nahestehende Politiker machten gegen ein Urteil des Mailänder Berufungs­gerichtes mobil, das dem Wunsch der Angehörigen entsprochen hat, Eluana Englaro nach 16 Jahren irreversiblem Koma sterben zu lassen. Kurienkardinal Ruini nannte die Entscheidung der Richter im staatlichen Fernsehen „ein tragisches Fehlurteil“ (vgl. Brandl 2008).

Literaturverzeichnis

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Voegelin, Eric (1993, Original; 1938). Die politischen Religionen, Paderborn: Wilhelm Fink Verlag

Abstracts

Il Sudtirolo diviso dalla
“rana ­crocifissa”

Punto di partenza del seguente saggio sono i forti con­trasti nella società sudtirolese, che si sono verificati nell’estate del 2008 in seguito all’esposizione dell’opera “Zuerst die Füße” di Martin Kippenberger. La scultura, una rana crocifissa, era stata inserita nella mostra inau­gurale del museo per l’arte moderna e contemporanea “Museion” a Bolzano. Il dibattito sulla “rana” ha visto contrapposti più che altro quelli, credenti, che vedevano nell’opera la violazione dei loro sentimenti e quelli, che consideravano la “rana” solamente e esclusivamente un espressione dell’arte contemporanea. La polemica si è placata soltanto dopo quattro mesi, quanto l’opera ha lasciato il “Museion”.

L’episodio della “rana crocifissa” mostra chiaramente che la religione non è affatto morta, come diceva Friedrich Nietzsche già un secolo fa. Tema centrale di questo saggio è la relazione tra persone credenti e non, in una società che sembra del tutto secolarizzata. Come possono convivere credenti e non-credenti e che posizione hanno in una società “postsecolare” come la definisce il filosofo Jürgen Habermas? Queste e altre domande di carattere socio­logico stanno, al di là della cronaca della “rana crocifissa”, al centro dell’attenzione di questo saggio.

Südtirol despartì dal „arosch söla crusc“

Te chësc articul vëgnel pié ia dai gragn contrasc´ tla sozieté südtiroleja che é saltà fora d’isté dl 2008 do l’esposiziun dl’opera „Zuerst die Füsse“ de Martin Kippenberger. La scoltöra, n arosch söla crusc, ê gnüda metüda fora tla mostra de inauguraziun dl museum por l’ert moderna y contemporana „Museion“ a Balsan. La discusciun söl „arosch“ à odü un cuntra l’ater plü co ater chi, i credënc´, che odô te chëst’opera na violaziun de sü sentimënc´ y chi che conscidrâ l’arosch ma y estlusivamënter na espresciun dl’ert contemporana. La polemica s’à impormò apajè ia do da cater mëisc, canche l’opera à arbandonè le „Museion“.

L’episoda dl „arosch söla crusc“ desmostra tlermënter che la religiun n’é daldöt nia morta, c´i che Friedrich Nietzsche dijô bele dan da n secul. Le tema zentral de chësc articul é la relaziun danter porsones credëntes y nia, te na sozieté che pê daldöt secolarisada. Co po pa vire adöm credënc´ y nia credënc´ y c´i posiziun toli pa ite te na sozieté „postsecolara“, sciöche le filosof Jürgen Habermas la definësc? Chëstes y d’atres domandes de carater soziologich sta, defora dla cronica dl „arosch söla crusc“, al zënter dl’atenziun de chësc articul.

The great South Tyrolean Croak:
The Frog scandal

In summer 2008 a contemporary sculpture by Martin Kippen­berger triggered a fierce discussion throughout the province, transcending language as well as ethnic barriers. The piece of art with the title “Zuerst die Füße” showed a Frog nailed to a wooden crucifix holding a beer mug in one hand and an egg in the other. Only after the exhibition in the Museum of Modern and Contemporary Art, the “Museion” in Bozen, had ended, did the turmoil slowly die down. Meanwhile Pro-Frogs and Anti-Frogs have taken their irrevocable positions. Rather than artistic freedom, the question whether “The Frog” hurts religious feelings or not was at the heart of the controversy. The heated argument about the Kippenberger-Frog has shown that religion as such and religious feelings do play an important role in what seems to be a secular European society. This essay sets out to examine the tense relation between believers and non-believers in view of Jürgen Habermas‘ “postsecular” society. It attempts to point out optional ways of social existence by means of socio-religious analysis, leaving aside polemical discussions about Kippenberger’s work.