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Carolin Zwilling

Die Autonome Provinz Bozen in der ­Europäischen Union

The Autonomous Province of Bolzano in the European Union

Abstract The Autonomous Province of South Tyrol is still facing difficulties in playing an ­active role in the process of European Integration with regard to its legislative process. But on a political scale it seems to be more efficient, especially since the foundation of the EGTC ­European Region Tirol-South Tyrol-Trentino. This contribution shows that, apart from many impediments of the European Union’s legal-political system, the EU serves as an advantage rather than a threat to South Tyrol and its autonomy.

1. Südtirol als Akteur im europäischen Integrationsprozess

Südtirol übt schon seit Beginn des europäischen Integrationsprozesses geografisch eine bedeutende Brückenfunktion zwischen Italien und anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Union (EU) aus. Insbesondere hat die Autonome Provinz Bozen trotz oder vielleicht dank ihrer peripheren Lage eine wichtige kulturelle Rolle über­nommen (Zwilling 2019).1 Die jahrzehntelange Orientierung über die Staatsgrenzen hinweg und die tief verwurzelte Zusammenarbeit und kulturelle Anbindung an Nordtirol hat bereits vor dem EU-Beitritt Österreichs im Jahr 1995 einen Integra­tionsprozess in Gang gesetzt, der durch den Einfluss der EU noch beschleunigt und vertieft werden konnte. Gerade die Sonderstellung als Region mit sprachlichen Minderheiten war zugleich Motor als auch Begründung der Notwendigkeit zu engerer Kooperation innerhalb Europas.

Die EU ist geleitet von dem Selbstanspruch, ein pluralistisches, demokratisches und bürgernahes Europa zu sein. Deshalb soll der Integrationsprozess nicht allein in den Händen der Mitgliedstaaten liegen. Vielmehr gelten die Gebietskörperschaften unterhalb der staatlichen Ebene als Garanten für Effizienz und Subsidiarität. Die anfängliche Einbahnstraße, die nur die reine Umsetzung und Durchführung von Unionsrecht erlaubte, wurde zunehmend zu einer mehrspurigen Allee ausgebaut, die unter anderem die Beteiligung der Gebietskörperschaften bei der Entstehung des Unionsrechts auf verschiedenste Arten vorsieht. Damit betrifft Unionsrecht heute in zweierlei Hinsicht die Beziehung Südtirols zur EU: zum einen definiert es die Art und Weise, wie Südtirol die eigenen Kompetenzen ausüben kann, während gleichzeitig eine unionsweite Harmonie zu garantieren ist, und zum anderen bestimmt es den Handlungsrahmen innerhalb dieser regionalen Zuständigkeiten. Mit anderen Worten: Die EU stellt die Prinzipien auf, die auch die Regionen zu befolgen haben, und kann sogar die verfassungsmäßige Kompetenzverteilung in den Mitgliedstaaten ändern2. Dies wird besonders interessant, da die Autonome Provinz Bozen durch ihre Autonomie eine Sonderstellung innerhalb des Verfassungssystems einnimmt. Parallel zu dem innerstaatlichen Prozess von wachsender Autonomie auch der Sonderregionen (Happacher/Palermo/Parolari 2015, 45) schreitet der europäische Integrationsprozess nämlich auch in Italien mit großen Schritten voran. Erstmals schreibt die 2001 umfassend reformierte Verfassung ausdrücklich den Vorrang des Europarechts fest, was zunächst eher als Schranke denn als Chance in Südtirol wahrgenommen wurde. Art. 117 Abs. 1 Verf. verpflichtet den nationalen wie den regionalen Gesetzgeber zur Wahrung der europäischen und völkerrechtlichen Vereinbarungen, die Italien unterzeichnet hat. Als Ausgleich schreibt dieselbe Verfassung dem nationalen Gesetzgeber vor, die Regionen und autonomen Provinzen am europäischen Willensbildungsprozess teilhaben zu lassen. Die Rolle Südtirols in der EU und damit speziell die Frage, ob Südtirol als Akteur im europäischen Integra­tions­prozess mitwirkt, muss dementsprechend aus zwei Blickwinkeln hinterfragt werden: Erschöpfen sich die Beziehungen bereits in der Umsetzung bzw. dem autonomen Vollzug von Unionsrecht? Oder verfügt Südtirol über echte Möglichkeiten, am Willensbildungsprozess mitzuwirken und eigene Vorstellungen in der euro­päischen Gesetzgebung einfließen zu lassen? Welche aktive Rolle kann Südtirol im europäischen Integrationsprozess übernehmen und wie effizient schafft es die Autonome Provinz Bozen, ihre Interessen zu vertreten?

2. Ein Blick auf die aktuelle Rechtslage

Südtirol kann bereits seit 1987 und damit weit früher als die übrigen Regionen gemäß DPR Nr. 526/1987 in den ausschließlichen und geteilten Kompetenzbereichen EU-Verordnungen unmittelbar anwenden sowie EU-Richtlinien und Empfehlungen in den ausschließlichen Kompetenzbereichen unmittelbar und sogar zeitlich vor dem Staat umsetzen, jedoch unter der Bedingung einer nachträglichen Anpassung an möglicherweise entgegenstehende staatliche Umsetzungsakte (Haller 2021, 264 – 265). Die Umsetzung der von der Verfassungsreform 2001 neu eingeführten Einbeziehung auch der Regionen in die Beziehungen zur EU erfolgten mittels ordentlichen Ge­setzen: das sog. La-Loggia-Gesetz Nr. 131/2003 formuliert die Grundsätze für die Umsetzung der Reform allgemein und dementsprechend auch die Formen regionaler Mitwirkung auf EU-Ebene, sowie das Gesetz Nr. 234/2012, welches das sog. Buttiglione-Gesetz Nr. 11/2005 ersetzt hat, beschreibt die innerstaatliche Koordinierung und Informationsweitergabe zwischen Regierung, Parlament und Regionen. Die Regionen gelten seitdem unbestritten als legitime Akteure im europäischen Integrations­prozess, in deutlicher Abkehr zu ihrer bis 2001 eher marginalen Rolle, die beinahe ausschließlich auf unmittelbare Anwendung von Unionsrecht beschränkt geblieben war.

Der anfängliche Vorwurf an die EU „regionenblind“ zu sein, kann bis heute in abgeschwächter Form bestehen bleiben. Auch Südtirol ist davon betroffen. Ausgehend von einem in der Struktur der Europäischen Gemeinschaften und später der Europäischen Union angelegten absichtlichen Ausblendung der substaatlichen Ebene können drei Stufen die Entwicklung eines europäischen Regionalismus am besten nachzeichnen: auf das euphorische „Europa der Regionen“ der 1980er Jahre ist ­zunächst ein nüchterneres „Europa mit den Regionen“ gefolgt, um inzwischen zu einem enttäuschten „Weder mit ihnen noch ohne sie“ zu tendieren (Zwilling 2019, 5). Sogar der für die Regionen als Meilenstein gepriesene Vertrag von Lissabon hat 2009 kein gemeinsames Grundmodell der Regionalmitwirkung in EU-Fragen eingeführt, auch wenn unstreitig die Einbindung in das Subsidiaritätsprüfungsver­fahren die regionale Legislative gestärkt hat (Art. 5 Abs. 3 EUV). Indirekte Betei­ligungsmöglichkeiten für die Regionen können nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Mitgliedstaaten diese bislang kaum aufgegriffen haben (Gamper 2013, 153). Der Vertrag von Lissabon wollte gerade nicht ein Recht der Regionen auf Teilhabe an der Rechtsetzung im Unionsrecht schaffen, was nämlich einer Regionalisierung der EU geglichen hätte (Van Nuffel 2012, 193). In der Folge ist die institutionelle und politische Rolle der Gebietskörperschaften und demzufolge deren regionale Autonomie so heterogen in den einzelnen Mitgliedstaaten geblieben, dass sich ein Europa der unterschiedlichen regionalen Geschwindigkeiten entwickelt hat (Bengoetxea 2012, 232). Das Unionsrecht ist heute von dem Paradox gekennzeichnet, dass die institutionelle Struktur der EU auf ein Mehrebenensystem inklusiv einer dritten Ebene ausdrücklich hinweist und diese im Sinne einer positiven Integrationsschranke zum Schutz der Mitgliedstaaten anerkennt, jedoch keinerlei Vorgaben für eine angemessene Beteiligung am europäischen Integrationsprozess bereit stellt. Diese Pattsituation findet seinen Ausdruck im „Weder mit ihnen noch ohne sie“. Die Dynamik von Integration und Europäisierung verschiebt die Schwerpunkte regionaler Handlungsspielräume weg von eigener Gestaltungskompetenz und Entscheidung hin zu formeller und informeller Lobbytätigkeit (z. B. im Ausschuss der Regionen oder mittels der Verbindungsbüros in Brüssel) jeweils mit ungewissem Ausgang. Statt gezielter Beteiligung im Erarbeitungsprozess bleibt damit auch Südtirol meist nur die Möglichkeit zu kreativer Implementation von europäischer Gesetzgebung.

3. Südtirols holpriger Weg innerhalb der EU

Anlässlich des 50. Jahrestages des Inkrafttretens des geltenden Autonomiestatuts darf der Hinweis darauf, dass es die Beziehungen Südtirols zur EU nicht regelt, zwar nicht fehlen, doch auch nicht verwundern angesichts des 1972 unangefochten geltenden Alleinvertretungsanspruchs des Staates. Nur im Rahmen von Verfassungsstreitigkeiten konnte die Autonome Provinz Bozen ihre Rolle im Integrationsprozess behaupten (Palermo 1998, 108). Zunehmend empfand sie die Erstarkung der Europäischen Gemeinschaften als Bedrohung für den Minderheitenschutz und die Einführung des Binnenmarktes 1992 schien gerade durch das Ende jeglicher Abschottung auch einem territorialen Sonderschutz entgegen zu stehen (Toggenburg 2005, 449). Langsam wurde der europäische Integrationsprozess aber vor allem als Möglichkeit verstanden, die Idee einer Europaregion Tirol umzusetzen, was im Wege einer intensiven grenzüberschreitenden Zusammenarbeit zu einer sanften Über­windung der Staatsgrenze zu Nordtirol führen sollte (Pallaver 2005, 493). Die Eröffnung des gemeinsamen Verbindungsbüros in Brüssel 1995 und die anschließende Bestätigung durch das Verfassungsgericht im Urteil Nr. 428 von 1997 waren Meilensteine auf dem Weg Südtirols. Trotzdem ist Südtirol – wie auch die übrigen Regionen – von einer effektiven Beteiligung an der Erarbeitung von Unionsrecht bis heute ausgeschlossen (Zwilling 2019, 23; Woelk 2009, 56). Lediglich in der Umsetzungsphase hat Italien die Regionen im Bereich der Regionalpolitik anerkannt und sie bei der Projektauswahl innerhalb der Strukturfonds, deren Durchführung und Überwachung beteiligt.

Ausdrücklich erhielt die Autonome Provinz Bozen die konkurrierende Gesetzgebungskompetenz zur Teilnahme an der europäischen Integrationen wie die übrigen Regionen erst durch die Verfassungsreform von 2001. Gemäß Art. 117 Abs. 3 in Verbindung mit der Günstigkeitsklausel des Art. 10 VerfG. Nr. 3/2001 kann Südtirol in seinen Zuständigkeitsbereichen eigene Beziehungen zur EU unterhalten. Doch welchen konkreten Vorteil hat Südtirol damit erhalten? Mit den eigenen „Beziehungen zur EU“ sind im Sinne einer Residualkompetenz nur jene direkten Beziehungen gemeint, die nicht bereits ausschließlich dem Staat zugeordnet sind. In anderen Worten: Südtirol darf nur jene Beziehungen unterhalten, die keine rechtliche Relevanz in Bezug auf die Erzeugung oder die Umsetzung von Unionsrecht aufweisen oder aber die unionsrechtliche Position Italiens betreffen. Das bedeutet in der Folge aber, dass Südtirol nur der informelle und somit nicht rechtlich relevante Rahmen vor­behalten bleibt. Trotzdem böte sich ein Weg zu einer effizienteren Teilnahme und eigenen rechtlich relevanten Beziehungen über eine Durchführungsbestimmung, die eine abweichende Regelungen für Südtirols Beziehungen zur EU festschreiben könnte (Art. 11, Abs. 3 G, Nr. 131/2003) (Happacher 2012, 264). Bis dahin muss Südtirol die derzeit vorhandenen Möglichkeiten, um die eigenen Interessen in der EU zu vertreten, ausschöpfen. Eine Teilnahme der Regionen an der Ausarbeitung des Sekundärrechts kann auf europäischer Ebene entweder direkt zum Beispiel über regionale Verbindungsbüros in Brüssel als die nachhaltigste Form erfolgen oder über einen eigenen in der Region gewählten Abgeordneten zum Europaparlament. Der Weg über den Ausschuss der Regionen erscheint nur politisch als wirksam im Sinne der Öffentlichkeits- und Lobbyarbeit, kann jedoch nicht die Rechtsetzung beeinflussen. Eine andere Möglichkeit wäre die innerstaatliche Beeinflussung der italienischen Position durch die nationalen Delegationen, etwa durch die Ernennung eines regionalen Vertreters für die ständige Vertretung Italiens bei der EU. Die Einflussmöglichkeiten der Ständigen Konferenz von Staat und Regionen sollte hier aber keinesfalls überbewertet werden (Zwilling 2019, 18). Die Autonome Provinz Bozen hat vor dem Verfassungsgericht die zu geringe Berücksichtigung der Sonderstellung angefochten und eine Mindestteilnehmerzahl in der Delegation für die Sonderautono­mien gefordert. Die Klage wurde jedoch unter Hinweis auf die zu treffende Kooperationsvereinbarung3 zwischen Regierung, Regionen und Sonderautonomien als rechtmäßige Regelung abgewiesen, in der lediglich ein gemeinsamer Vertreter aller Sonderautonomien verpflichtend sei.4 Dieses Urteil war für Südtirols Stellung innerhalb der EU wegweisend: zum einen stellt es klar, dass eine Gleichbehandlung der autonomen mit den ordentlichen Regionen im Bereich der residualen bzw. primären Kompetenzen erlaubt sei, und zum anderen hat es dazu geführt, dass derartige Entscheidungen seitdem noch kritikloser in den politischen Raum verschoben werden, ohne dass eine judikative Kontrollfunktion ausgeübt wird. In der nationalen Delegation wird zwischen Südtiroler Anliegen und anderen Interessen nicht unterschieden, so dass etwa Spezifika des Minderheitenschutzes nur dann eingebracht werden können, wenn vorab dank politischer Überzeugungsarbeit auch andere Sonderautonomien als Partner gefunden wurden. Eine Möglichkeit bestünde für Süd­tirol hingegen in bilateralen Verhandlungen durch die Sechserkommission, um eine Durchführungsbestimmung zu erarbeiten, die Südtirol eine effizientere Interessensvertretung garantieren würde. Wie schon das sog. La-Loggia-Gesetz Nr. 131/2003 wiederholt auch das Kooperationsabkommen ausdrücklich diese Möglichkeit ­(Happacher 2012, 421).

Vom formalen Rechtsetzungsprozess zu unterscheiden ist der für Südtirol nicht weniger bedeutsame Prozess der Planung der Europäischen Politiken und die konkrete Ausarbeitung der Jahresprogramme der Kommission. Diese zeitlich voraus­gehende Phase dient zur Information aller EU Organe und Institutionen über die beabsichtigten Gesetzesinitiativen der Kommission, inklusiv der Rechtsgrundlagen und beabsichtigten Ziele. Ausgehend vom Weißbuch zur Europäischen Governance von 2001 sind auch die substaatlichen Gebietskörperschaften gezielt in den Konsultationsprozess einbezogen worden, insbesonders im Weißbuch zur Multi-level-governance von 2009 sowie die Charta der Multi-Level-Governance in Europa von 2014. Der vom Ausschuss der Regionen durchgeführte sogenannte „strukturierte Dialog“ erlaubt es der Europäischen Kommission, die Verbände der lokalen und regionalen Gebietskörperschaften sowohl in allgemeinen als auch speziellen Fragen bereits in der prälegislativen Phase zu konsultieren. Dieser politische Dialog hilft auch Südtirol in zentralen Politikfeldern, sich bereits im Vorfeld mit den europäischen Politiken abzustimmen und die eigenen mittelfristigen Gesetzesvorhaben vorzubereiten. Die Autonome Provinz Bozen hat bislang kein eigenes Gesetz zur Regelung der Angelegenheiten der Europäischen Integration erlassen. Themenbezogene Vorschriften finden sich in der Ämterordnung oder in einzelnen Gesetzen zur Umsetzung von Unionsrecht in bestimmten Bereichen. Ebenso wenig ist in der Geschäftsordnung des Südtiroler Landtages eine Regelung zur Beteiligung an der aszendierenden Phase zu finden.

4. Fazit und Ausblick: Mehr Chance als Bremse!

Südtirol ist zweifelsfrei als managing authority von Italien anerkannt worden und verfügt in der Umsetzung von Unionsrecht über eine zentrale Rolle. Wie dargelegt bleibt hingegen der Wunsch, effizient schon im zeitlich vorhergehenden Entscheidungsprozess für neues Unionsrecht mitzuwirken, für Südtirol aus rechtlicher Sicht unerfüllt. Die Südtiroler Sonderstellung spiegelt sich auf europäischer Ebene nicht wider. Der politische Gestaltungsspielraum wurde aber erkannt und zunehmend zu nutzen gewusst. Bilaterale Verhandlungen in der Sechser- und Zwölferkommission scheinen grundsätzlich mehr Aussicht auf Erfolg zu bieten als die nationale Arena in der Ständigen Staat-Regionen-Konferenz.

Seit 2011 hat Südtirol erfolgreich einen neuen europäischen Weg beschritten. Die Autonome Provinz Bozen hat zusammen mit seinen angrenzenden Nachbarn, der Autonomen Provinz Trient und dem Bundesland Tirol, das europäische Rechtsinstrument der Kohäsionspolitik (Verordnung 1082/2006) zu nutzen gewusst, das die grenzüberschreitende Zusammenarbeit und die europäische Integration in der Grenzregion nördlich und südlich des Brenners weiter vorantreibt. Der Europäische Verbund zur territorialen Zusammenarbeit (EVTZ) „Europaregion Tirol-Südtirol-Trentino“ dient laut Statut vor allem der Kooperation in den Bereichen Bildung, ­Kultur, Energie, Nachhaltige Mobilität, Gesundheit, Forschung und Innovation, Wirtschaft und Umweltschutz (Engl/Zwilling 2013, 133). Die unionsrechtliche Verordnung gibt den substaatlichen Gebietskörperschaften einen Anspruch auf die Gründung oder den Beitritt zu einem EVTZ, was deren Stellung im europäischen Integrationsprozess deutlich gegenüber ihren Zentralstaaten verbessert hat. Die bis dahin zentrale Rolle des Mitgliedstaates Italien hat sich deutlich zu Gunsten Süd­tirols verschoben. Der EVTZ Europaregion Tirol-Südtirol-Trentino garantiert nicht nur Synergieeffekte für die drei im Vergleich zu anderen Regionen eher kleinen Gebietskörperschaften, um mit vereinten Ressourcen gemeinsamen Herausforderungen besser entgegenzutreten, sondern steht auch mit dem gemeinsamen Verbindungs­büro in Brüssel in engem Austauschverhältnis. Gemeinsam sind sie in der Lage, auch weitergehende Bereiche außerhalb des EVTZ-Statuts zu beeinflussen. Südtirol könnte diesen Weg noch ausbauen, auch um sich gegen die zentralistischen Dynamiken in Italien erfolgversprechender zur Wehr zu setzen. Ein erster Schritt wäre es, mit einem Europa-Artikel im Autonomiestatut das Selbstverständnis als aktiver Teilnehmer am europäischen Integrationsprozess sichtbar zu machen. Mit dem jüngsten Europagesetz des Landes von 2021 (LG vom 23.12.2021 Nr. 14)5 hat die Autonome Provinz Bozen die Bestimmungen zur Erfüllung der Verpflichtungen, die sich aus der Zugehörigkeit Italiens zur europäischen Union ergeben, ausdrücklich geregelt und somit diesem Thema die gebührende Aufmerksamkeit gewidmet.

Der Blick auf den heutigen Stand der Autonomie, 50 Jahre nach Inkrafttreten des II. Statuts, darf allgemein nicht außer Acht lassen, wie viel Nutzen auch Süd­tirol durch den europäischen Integrationsprozess erfahren hat (Toggenburg 2022a, 14). „Letztlich war und ist es der EU-Binnenmarkt, der den Brenner von einer bleiernen Unrechtsgrenze in den zarten Schatten einer Landkartenlinie verwandelt“ (Toggen­burg 2022b, 89). Deutlich sichtbar wird dies auch an den umfangreichen finan­ziellen Förderungen durch die EU, die zusätzlich noch die Befriedungsfunktion des Statuts beschleunigt haben. Unionsrecht ist bewiesenermaßen keine Gefahr für den Minderheitenschutz, wie es noch in den 1980er und 1990er Jahren angenommen wurde. Es könnte sogar im Gegenteil zu einem zukünftigen Garanten werden, da im Zuge der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes6 ein innerstaatlicher Rückbau von Schutzvorschriften auch dann europarechtswidrig ist, wenn die Vorschriften, wie etwa der Minderheitenschutz, gar nicht in den Zuständigkeitsbereich der EU fällt. Unbestritten ist ebenfalls, dass vom Unionsrecht ein ständiger Anpassungsdruck ausgeht, dem Südtirol sich stellen muss, auch wenn es nicht immer in die eigenen Vorstellungen der Politikgestaltung passen mag. Das ist aber keine Systembedrohung, sondern die Möglichkeit zur permanenten Verbesserung, wie auch Gabriel Toggenburg unterstreicht: „Das Europarecht ist keine in der Geburtstags­torte der Südtiroler Autonomie versteckte Briefbombe. Vielmehr bieten verschie­dene EU-Politiken eine geldwerte Glasurschicht auf der Torte, die die Geburtstagsfeier durchaus versüßt“ (ebda, 89).

Anmerkungen

1 Teile dieses Beitrages beruhen auf Zwilling 2019.

2 EuGH 27.3.1984, Rs C-169/82, Kommission/Italien, Slg 1984 I-1603 aufgrund eines gemeinschaftswidrigen Gesetzes der Region Sizilien.

3 Allgemeines Übereinkommen vom 16.3.2006, GA Nr. 75/2006.

4 Verfassungsgerichtsurteil Nr. 239/2004.

5 Einsehbar unter https://www.provinz.bz.it/politik-recht-aussenbeziehungen/recht/landesgesetzgebung-auf-initiative-der-landesregierung.asp?publ_action=300&publ_image_id=593788 (aufgerufen am 1.6.2022) (aufgerufen am 1.6.2022)

6 EuGH Urteil C-896/19 “Repubblika“ vom 20.4.2021, abrufbar unter https://curia.europa.eu/juris/liste.jsf?num=C-896/19 (aufgerufen am 1.6.2022) (aufgerufen am 1.6.2022)

Literaturverzeichnis

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