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Thomas Benedikter

Ehrenamt im Bereich Politik und ­bürgerschaftliches Engagement in Südtirol unterbewertet

1. Einleitung

Südtirol weist eine ausgeprägte Kultur des freiwilligen Engagements und der ehrenamtlichen Tätigkeit auf, verfügt über eine Vielzahl von Vereinen und Einrichtungen fürs Ehrenamt und eine breit gefächerte Förderung durch die öffentliche Hand. 2011 zählte das Landesverzeichnis 1.954 ehrenamtlich tätige Organisationen. Daneben gibt es ein eigenes Verzeichnis von Non-Profit-Organisationen, das seit 2004 aufgrund eines Staatsgesetzes Organisationen zur Förderung des Gemeinwesens registriert. Im Jahr 2011 waren dies in Südtirol 44 Organisationen. Vereinigungen im Bereich Politik und bürgerschaftliches Engagement sind in diesen Verzeichnissen mit entsprechender Förderung und Steuererleichterung nicht zugelassen, zumal die traditionellen Großorganisationen in Politik und gesellschaftlicher Interessenvertretung andere Finanzierungsmöglichkeiten haben. Dabei wird aber zu schnell vergessen, dass auch Parteien, Gewerkschaften und politische Vereinigungen in vielerlei Hinsicht durch Freiwilligentätigkeit und Ehrenamt getragen werden.

Mit dem etwas angestaubten Begriff Ehrenamt soll vor allem die Unentgeltlichkeit der freiwilligen Arbeit hervorgehoben werden, indirekt aber auch ihr moralischer Anspruch. Sie dient zur Abgrenzung von Hauptamtlichkeit. In vielen Freiwilligenvereinen arbeiten Haupt- und Ehrenamtliche zusammen. Heute wählen die meisten Freiwilligenvereine nicht mehr den Begriff Ehrenamtlichkeit, betonen vielmehr den Charakter des bürgerschaftlichen Engagements. Auch im politischen Bereich muss fürs Ehrenamt das grundlegende Qualifikationsmerkmal der freiwilligen Arbeitsleistung gelten, die ohne vertragliche Verpflichtung und monetäre Gegenleistung erbracht wird und deren Ergebnis Personen außerhalb des eigenen Haushalts zugute kommt. Dies schließt reine Aufwandsentschädigungen nicht aus. Der geleistete Zeitaufwand eines einfachen Partei- oder Gewerkschaftsmitglieds oder Mitglieds eines politischen Vereins oder einer Bürgerinitiative darf in diesem Sinne nicht vergütet werden. In den traditionellen Großorganisationen spielt das ehrenamtliche Engagement eine geringere Rolle als in den Bürgerinitiativen und Freiwilligenvereinen. Geradezu typisch ist bei ersteren der zahlenmäßig deutliche Unterschied zwischen aktiver und passiver Mitgliedschaft.

2. Politisches Engagement

In den letzten zwei, drei Jahrzehnten haben sich zu Parteien und Gewerkschaften verschiedenste neue Organisationsformen gesellt, von der losen Bürgerinitiative und Aktionsgruppe über Vereine mit politischer Ausrichtung bis hin zu Netzwerken mit politischem Schwerpunkt, die als Ableger internationaler Organisationen oder auch eigenständig tätig sind. Diese fast immer ehrenamtlich tätigen Gruppen werden im Bericht zum Ehrenamt 2011 des Landes im Unterschied zu Sport-, Kultur- und Sozialvereinen nicht als eigener Bereich vorgestellt (Schnock, Brigitte/Atz, Hermann 2011; dasselbe gilt für den Vorgänger-Bericht von 2001: vgl. Autonome Provinz Bozen – Südtirol 2001 sowie ASTAT 2005). Zu Unrecht, findet doch freiwilliges und gemeinwohlorientiertes Engagement genauso in solchen Vereinen statt. Man gewinnt somit den Eindruck, dass – nach offizieller Lesart – ehrenamtliche Beteiligung an der Politik in Südtirol nicht den Stellenwert und die Förderung beanspruchen kann wie eine Tätigkeit in der sozialen Betreuung, in Sportclubs und Heimatpflegevereinen. Damit folgt die offizielle Darstellung der Freiwilligentätigkeit den engen Bahnen der gesetzlichen Regelung mit ihren zwei amtlichen Verzeichnissen, stellt aber nicht die ganze Bandbreite bürgerschaftlichen Engagements dar (Autonome Provinz Bozen 2003).

In Österreich ist das anders, denn neben den Bereichen Kultur, Umwelt, Reli­gion, Soziales, Bildung und Sport stellt der Freiwilligenbericht der Bundesregierung auch den Bereich Politik und Gemeinwesen als eigenes Tätigkeitsfeld vor (Bundesministerium für Arbeit, Soziales und Konsumentenschutz 2010). Mit 242.000 Freiwilligen liegt dieser Bereich im Mittelfeld der freiwilligen Betätigungsfelder, ist also alles andere als unbedeutend. So gehören 40 Nichtregierungsorganisationen zur Dachorganisation Globale Verantwortung, die für nachhaltige, globale, wirtschaftliche, soziale und ökologische Entwicklung tätig ist. Überschneidungen zu Bildung, Religion, Umwelt, Soziales liegen in der Natur dieses Engagements, doch im Wesentlichen wollen solche Vereine auf politischer Ebene tätig sein und Einfluss auf die Politik nehmen.

Im Bereich Gemeinwesenarbeit sind laut österreichischem Freiwilligenbericht 146.000 Personen als Freiwillige tätig. Dieser bezieht sich vor allem auf politische Tätigkeiten für den Wohnort und das unmittelbare Wohnumfeld (Gemeinde, Stadtviertel). Dazu gehören etwa Bürgerinitiativen für mehr Wohnqualität und lokalen Umweltschutz. In Österreich beteiligen sich 3,5 Prozent der Bevölkerung als Freiwillige im Bereich Politik und 2,1 Prozent in der Gemeinwesenarbeit. Auch in Deutschland sind laut Freiwilligensurvey 2009 2,7 Prozent der BürgerInnen in der Politik und Interessenvertretung engagiert, 1,9 Prozent im lokalen Bürgerengagement (Gemeinwesenarbeit), 1,8 Prozent in der beruflichen Interessenvertretung (Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugendliche 2010, 7). Der Anteil der tatsächlich Engagierten liegt seit 1999 stabil bei 36 Prozent, doch die Zahl der eventuell zum Engagement bereiten Menschen hat bis 2009 zugenommen (Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugendliche 2010, 32).

In den allermeisten Freiwilligenvereinen spiegeln sich drei Grundmotive menschlicher Tätigkeit, die sich je nach Funktion verschränken und mischen: der Einsatz fürs Gemeinwohl, die Geselligkeit und die Pflege eigener Interessen. Beim Sport sind legitimerweise die beiden letzteren Motive stärker betont; beim bürgerschaftlichen Engagement steht das Wohl des Gemeinwesens und anderer Menschen im Vordergrund, auch wenn es nicht immer das Selbstverständnis der Engagierten prägt. Die Tätigkeit dieser Freiwilligen ist eigentlich genuin politisch, gerichtet auf öffentliche Anliegen größerer oder kleinerer Gemeinschaften. Wie freiwilliges Engagement allgemein hat es überpersönlichen Charakter. Wo hingegen das Individuelle im Vordergrund steht, löst sich die Besonderheit auf. Die Gemeinwohlorientierung ist bei Engagierten in Kirchen und Religionsgemeinschaften, Parteien und Bürgerinitiativen besonders hoch. Der in Deutschland geprägte Begriff des bürgerschaftlichen Engagements schließt traditionelle Formen der politischen Beteiligung und Mitbestimmung (Parteien, Gewerkschaften, Interessengruppen) und neue Formen (Bürgerinitiativen, Aktionsgruppen, transnationale Vereinigungen mit lokalen Ablegern) ein.1

Egal, ob jemand in der SVP-Ortsgruppe oder in einem Arbeitskreis der Grünen mitarbeitet, Petitionen ausarbeitet und Volksbegehren unterstützt, an Demonstrationen teilnimmt und bei Bürgerinitiativen mitwirkt: Bürgerschaftliches Engagement zielt darauf ab, mittelbar oder unmittelbar Einfluss auf politische Entscheidungsprozesse auszuüben oder als engagierter Bürger oder Bürgerin etwas fürs Gemeinwohl, für Grund- und Bürgerrechte bestimmter Gruppen der Gesellschaft, für einzelne öffentliche Projekte und für die Verbesserung der Lebensbedingungen im Rahmen eines erweiterten Politikverständnisses zu tun. Diese BürgerInnen begreifen Politik nicht nur als Aufgabe von gewählten, professionellen Politikern, sondern als Bereich bürgerschaftlichen Handelns allgemein. Politisches Engagement in diesem Sinne ist Tätigkeit und Einsatz für als allgemein empfundene, öffentliche Interessen in mehr oder weniger strukturierten Gruppen unter Berufung auf halbwegs verbindliche und handlungsverpflichtende Werte. Der österreichische Freiwilligenbericht geht weiter und stellt fest: „Politische Partizipation als ehrenamtliche Tätigkeit ist ein grundlegender Pfeiler in der Wahrung und Nutzung von Demokratie“ (Bundesministerium für Arbeit, Soziales und Konsumentenschutz 2010, 3).

Auch die EU schließt das bürgerschaftliche Engagement in der Politik explizit in die Freiwilligentätigkeit ein und sieht diese als notwendiges Element zur Stärkung der EU-Bürgerschaft: „Die Freiwilligentätigkeit ist eng mit dem allgemeinen politischen Ziel der Kommission verbunden, das auf die Stärkung der EU-Bürgerschaft abzielt und mit dem die Bürger in den Mittelpunkt der Gestaltung der EU-Politik gerückt werden sollen. Freiwilligentätigkeit kann die Ausübung der Bürgerrechte und die aktive Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger an der Gesellschaft fördern“ (Europäische Kommission 2011a, 6; European Commission 2010). Mit einem eigenen Programm Europa für Bürgerinnen und Bürger 2014–2020 beabsichtigt die EU, diese Tätigkeit systematisch zu fördern (Europäische Kommission 2011b).

Politisches Engagement geht somit über die Mitarbeit in Gewerkschaften und Parteien hinaus und wird erweitert zum Konzept der aktiven Bürgerschaft (active citizenship) als Anteilnahme am gesellschaftlichen Leben und Mitarbeit an der Verbesserung des demokratischen Gemeinwesens, jenseits aller möglichen Differenzen. Giovanni Moro von Cittadinanzattiva versteht darunter „die Vielfalt der Formen, in welchen sich Bürger zusammenschließen, Ressourcen mobilisieren und in die öffentliche Politik eingreifen, Verantwortung übernehmen und Aufgaben ausführen, um Bürgerrechte zu schützen, Allgemeinheit zu pflegen und Personen in Problemlagen zu unterstützen“ (Moro 2011). Evers benennt die aktive Bürgerschaft folgendermaßen: „Die Dimension der Bürgerschaftlichkeit ermöglicht und erfordert Anteilnahme zwischen den Mitgliedern eines republikanisch-demokratischen Gemeinwesens, trotz sonstiger wirtschaftlicher, kultureller und sozialer Differenzen. Sie zielt auf eine lebendige Debatte, aber auch auf praktisch solidarische Beiträge zur Erhaltung von Rechten und zur Wahrnehmung von Pflichten ab“ (Evers 2000, 235). Freiwilliges politisches Engagement kann als Tätigkeit zugunsten einer umfassenden Gemeinschaft oder der gesamten Gesellschaft verstanden werden, die von der Ebene des Dorfs oder Stadtteils (Bürgerinitiative zur Rettung eines baulichen Ensembles) über die Region (Verein zum Ausbau der demokratischen Mitbestimmungsrechte) und über den Staat (Promotorenkomitee zur Verhinderung der Privatisierung der Wasserversorgung) bis zur globalen Ebene (Menschenrechte, Schutz des Weltklimas, Frauenrechte usw.) reicht. Verschiedene Organisationen lassen sich aber thematisch nicht so leicht einordnen oder auf ein einziges Politikfeld eingrenzen, sondern arbeiten querbeet nach der Devise Global denken, lokal handeln.

3. Sinkendes Interesse für traditionelle Formen politischen ­Engagements

In Gewerkschaften und beruflichen Interessenverbänden leisten professionelle Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen sowie für diese Arbeit von ArbeitgeberInnen freigestellte ArbeitnehmerInnen die Hauptarbeit, während einfache Delegierte an der Basis in beschränktem Umfang im Rahmen der in Tarifverträgen und Arbeitsschutzgesetzen geregelten Auszeiten ehrenamtliche Gewerkschafts- bzw. Verbandsarbeit leisten. Ähnliches gilt für die nicht vergütete Mitarbeit bei beruflichen Interessenverbänden der Unternehmer, Bauern und freien Berufe. Genauso wie in Parteien arbeiten in solchen Organisationen professionelle, entlohnte MitarbeiterInnen mit den freiwilligen, ehrenamtlichen MitarbeiterInnen zusammen.

In Südtirol waren laut ASTAT im Jahre 2006 insgesamt rund 40 Prozent der Bevölkerung sehr oder ziemlich politisch interessiert, wobei das Interesse deutlich mit dem Bildungsgrad korreliert (ASTAT 2007, Teil 3, 81–104). Gegenüber 1986 hat sich dieses Bild kaum verändert, denn 1986 interessierten sich knapp 8 Prozent stark oder sehr stark für Politik, weitere 35 Prozent bezeichneten ihr Interesse als mittel (ASTAT, 1987, 128). Im Vordergrund stehen dabei politische Themen, die einen direkt betreffen, wie z. B. die Gemeindepolitik (sehr interessiert: 12,1 Prozent; sehr und sehr stark interessiert: 54,4 Prozent).

Wie eine aktuelle Stichprobenuntersuchung nachweist (ASTAT 2011a), ist das politische Interesse der Bevölkerung Südtirols keinesfalls überwältigend. 80,3 Prozent der Bevölkerung informieren sich über die italienische Politik, davon 60,9 Prozent mindestens einmal in der Woche und 19,4 Prozent mindestens einmal im Jahr. 43,9 Prozent sprechen regelmäßig über Politik, 34,9 Prozent tun dies mindestens einmal im Jahr und 21,2 Prozent nie. Vergleicht man diese Werte mit den Ergebnissen der Mehrzweckerhebung 2006, wird deutlich, dass das politische Interesse damals höher war. 82,3 Prozent der Bevölkerung haben über Politik gesprochen, 86,2 Prozent haben sich darüber informiert (ASTAT 2011a, 2–3). Im Umkehrschluss zu den 44 Prozent, die regelmäßig über Politik sprechen, kann festgestellt werden: Für 56 Prozent der Bevölkerung ist Politik absolute Nebensache.2

Bei der Freiwilligentätigkeit im Bereich Politik und bürgerschaftliches Engagement ist die Unterscheidung zwischen passiver und aktiver Mitgliedschaft höchst relevant. Sowohl bei Parteien wie bei Gewerkschaften und Unternehmerverbänden ist der überwiegende Teil der Mitglieder nicht aktiv engagiert, sondern beschränkt sich auf die Entrichtung des Mitgliedsbeitrags. Nur ein geringer Teil von Aktivisten leistet in nennenswertem Umfang regelmäßig unbezahlte Arbeit. Typisch für die politischen Großorganisationen ist der deutliche Unterschied zwischen aktiver und passiver Mitgliedschaft.

Tabelle 1: Passive und aktive Mitgliedschaft 2006 (in Prozent bezogen auf die ­Bevölkerung ab 15 Jahren)

Aktives Mitglied (über passive Mitgliedschaft hinaus)

Passives Mitglied

Politische Partei

6,3

12,8

Gewerkschaft

10,3

24,8

Soziale-religiöse Organisation

11,0

8,3

Umweltschutz

2,6

4,0

Quelle: ASTAT 2007, Teil 3, 91

Nur etwa die Hälfte der Parteimitglieder stuft sich selbst als aktives Mitglied ein, während bei den Gewerkschaften die aktive Beteiligung noch deutlich geringer ist. Allerdings finden sich in diesen ASTAT-Ergebnissen auch Unschärfen, denn auf die regelmäßig für das Statistische Jahrbuch gestellte Frage der Ausübung einer solchen Tätigkeit antworten nochmals wesentlich weniger BürgerInnen mit Ja.

Tabelle 2: Haben Sie in den vergangenen 12 Monaten eine der folgenden Tätigkeiten ausgeübt? (in Prozent bezogen auf die Bevölkerung ab 15 Jahren)

2006

2007

2008

2009

2010

Politische Partei

2,4

1,8

1,9

2,2

1,5

Gewerkschaft

1,7

1,7

1,4

0,9

0,8

Freiwilligen-Organisation

21,6

18,5

19,7

19,4

21,9

Verein/Organisation (nicht-Freiwillige)

19,2

17,2

19,3

15,8

16,9

Quelle: ASTAT Jahrbuch 2007, 231; ASTAT Jahrbuch 2008, 227; ASTAT Jahrbuch 2009, 235; ASTAT Jahrbuch 2010, 235; ASTAT Jahrbuch 2011, 235

Die Zahl der Mitglieder vor allem bei Parteien, Unternehmerverbänden, politisch aktiven Sozialverbänden und Gewerkschaften liegt beträchtlich höher als die durchschnittliche Mitgliederzahl von Freiwilligenvereinen. Bei Parteien und Gewerkschaften sind allerdings nur maximal die Hälfte der Mitglieder in irgendeiner Weise aktiv beteiligt, also über die Entrichtung des jährlichen Mitgliedsbeitrags oder des monatlichen Gewerkschaftsabzugs vom Lohn hinaus. Der wörtlich übernommene Titel der folgenden ASTAT-Tabelle ist somit doch etwas irreführend, bezieht er sich doch auf die aktive Teilnahme.

Tabelle 3: Aktive Teilnahme der Bevölkerung an Vereinstätigkeiten (in Prozent der ­Bevölkerung von 15 Jahren und mehr)

Sind Sie Mitglied von...

2004

2005

2006

2007

2008

2009

2010

2011

Politische Partei

11,8

13,4

11,0

11,4

9,7

11,6

8,2

8,7

Gewerkschaft

18,7

18,1

18,0

21,2

14,8

17,8

15,6

16,4

Verein/Freiwilligen-Organisation

19,1

20,4

16,7

14,9

16,9

16,6

17,4

20,6

Verein für Umweltschutz, Frieden, Bürgerrechte

2,0

3,4

2,0

2,4

2,1

2,3

2,5

2,4

Kultur-/Freizeitverein, andere Vereine

29,4

36,9

32,3

29,2

28,9

28,7

27,4

28,8

Berufsvereinigungen und Verbände

14,7

12,9

13,7

10,2

14,3

Quelle: ASTAT Jahrbuch 2004, 230; ASTAT Jahrbuch 2005, 230; ASTAT Jahrbuch 2006, 229; ASTAT Jahrbuch 2007, 231; ASTAT Jahrbuch 2008, 227; ASTAT Jahrbuch 2009, 235; ASTAT Jahrbuch 2010, 235; ASTAT Jahrbuch 2011, 235

Aus der Entwicklung der Zahlen der Mitgliedschaft bei Parteien 2004–2011 geht hervor, dass die traditionelle politische Organisationsform Partei in den vergangenen acht Jahren sinkende Mitgliederzahlen verzeichnet hat. Dies spiegelt sich auch in der Mitgliederzahl der größten Partei, der SVP, wider, die seit den 1990er-Jahren von gut 80.000 auf 51.400 (2011) gesunken ist (Vgl. Pallaver 2011, 185). Noch deutlicher rückläufig ist die Zahl der Gewerkschaftsmitglieder (16,4 Prozent der über 14-Jährigen). Auch die freiwillige Tätigkeit in Parteien und Gewerkschaften hat in Südtirol demnach seit 2004 deutlich abgenommen. Somit ist in Südtirol ein relativ diffuses Interesse an Politik zu verzeichnen, jedoch ein deutlich sinkendes Interesse an politischem Engagement in den traditionellen Großorganisationen.

Stabil bleibt dagegen die Mitarbeit bei Freiwilligenorganisationen, an welchen sich 2011 immerhin 20,6 Prozent der Bevölkerung beteiligt haben (ASTAT 2011c, 235). Allerdings ist damit noch nicht geklärt, ob in neuen politischen Organisationsformen (Bürgerinitiativen, Aktionsgruppen, Internet-Blogs usw.) das Verhältnis zwischen aktiven, freiwilligen und passiven Mitgliedern ähnlich beschaffen ist wie bei den traditionellen Großorganisationen. Diese Vereine sind nur zum Teil im Landesverzeichnis der ehrenamtlichen Organisationen erfasst und nicht verpflichtet, ihre Mitgliederzahlen bekannt zu geben. Ihre Rechtsform reicht von der losen Bürgerliste als wahlwerbender Gruppierung bei Gemeindewahlen über Vereine mit politischer Ausrichtung (z. B. der Südtiroler Heimatbund SHB), Ableger oder Sektionen gesamtstaatlicher oder internationaler Organisationen und Netzwerke (etwa Movimento 5 Stelle oder ATTAC, Amnesty International, UNICEF) und Bürgerinitiativen (Plattform Pro Pustertal PPP, Arge Lebenswertes Unterland ALU) bis hin zu Aktionsgruppen von Umweltschützern, Kulturschaffenden und Studenten. Allerdings ist weder die Zahl der Vereine noch die Zahl der hauptamtlichen MitarbeiterInnen und der Mitglieder dieser Organisationen statistisch erfasst (Schnock, Brigitte/Atz, Hermann 2011, 39).

Neben beruflichen Interessenvertretungen und freien Vereinen mit thematischem Schwerpunkt des Engagements können auch nicht-berufliche Interessenvertretungen, also die Vertretung ganzer sozialer Gruppen, zum Bereich des bürgerschaftlichen und politischen Engagements gezählt werden, wie z. B. der Jugendlichen (SJR), der Frauen (Dachverband der Frauenvereine), der Menschen mit Lernschwierigkeiten (People First), älterer Menschen (Senioren in der SVP), der Universitätsstudenten (SH/ASUS), der Homosexuellen (Centaurus) und dergleichen. Diese Organisationen sind zum Teil bereits im Bereich Soziales aufgeführt, betätigen sich aber typischerweise nicht nur in der Erbringung von Dienstleistungen für die Mitglieder, sondern auch im Feld politischer Interessenvertretung.

4. Organisierte politische Teilnahme in Südtirol: ein Vergleich mit 1986

Ist diese nachlassende Beteiligung an den politischen Großorganisationen Ausdruck einer langfristigen Tendenz und Symptom eines sinkenden politischen Interesses der Bevölkerung? Welche Bereitschaft gab es in Südtirol 1986, also vor 25 Jahren, sich am politischen Leben aktiv zu beteiligen? 1986 wird, laut Sozialem Survey, kein anderer Lebensbereich für so unwichtig gehalten wie Politik und öffentliches Leben. Sehr stark oder stark interessieren sich knapp acht Prozent der Bevölkerung für Politik, während eine deutliche Mehrheit die Politik für wenig interessant oder überhaupt nicht interessant hält. Selbst unter Parteimitgliedern bezeichneten sich 1986 nur zwölf Prozent als stark interessiert. Der Bildungsgrad ist beim politischen Interesse von wesentlichem Gewicht. Dieser Mangel an Interesse ließe sich mit dem Gefühl der Ohnmacht der BürgerInnen erklären, meint Norbert Dall’Ò: „Das parteipolitische Taktieren und andere negative Erscheinungen der politischen Praxis dürften ebenfalls dazu beitragen, dass man mit dem ganzen Bereich am liebsten nichts zu tun haben möchte.“ (ASTAT 1987, 130). Das zunehmende politische Desinteresse der Bevölkerung an der Politik stand in Kontrast zur wachsenden Politisierung des gesellschaftlichen Lebens, der immer stärkeren Rolle des Staates in der Gesellschaft. Für Südtirol ergibt dies unter Bedingungen einer ausgeprägten Territorialautonomie die Bedeutung der Autonomen Provinz.

Tabelle 4: Nutzung von Möglichkeiten sozialer oder politischer Beteiligung
(Antworten Früher getan und in den letzten 12 Monaten getan)

Aktivität

1986 in %

2006 in %

An einer Unterschriftenaktion teilgenommen

21,3

41,3

An politischer Versammlung bzw. Kundgebung teilgenommen

40,7

Mit einem Politiker oder Beamten Kontakt aufgenommen

13,9

26,0

An einer Demonstration teilgenommen

20,2

23,4

Mit den Medien Kontakt aufgenommen, selbst Meinung zum Ausdruck gebracht

12,6

Im Internet an politischen Diskussionsrunden teilgenommen

3,2

Bestimmte Produkte aus ethischen oder politischen Gründen nicht gekauft

38,4

Mitarbeit in einer Bürgerinitiative

12,4

Aktive Mitarbeit in politischer Partei

4,9

6,3

Aktive Tätigkeit in einer politischen Partei (laut ASTAT Jahrbuch)

2,4

Mitgliedschaft in politischer Partei

18,9

11,0

Aktive Tätigkeit in einer Gewerkschaft

1,7

Mitgliedschaft bei einer Gewerkschaft

18,6

18,0

Tätigkeit in einer Freiwilligenorganisation

21,6

Quelle: ASTAT 1987, 124; ASTAT 2007a, 92; ASTAT 2007b, 231. Auswertung durch den Autor.

Vergleicht man die Erfahrungen und die Bereitschaft zu politischer Teilnahme in Südtirol in den Jahren 1986 und 2006, findet sich im Sozialen Survey keine Bestätigung für das nachlassende Engagement in Parteien, zumal die aktive Mitarbeit in einer politischen Partei sogar bis 2006 leicht angestiegen ist. Allerdings ist die Fragestellung im Survey nicht präzise (Früher getan bzw. In den letzten 12 Monaten getan), weshalb der Befund des ASTAT-Jahrbuchs (2,4 Prozent geben an, in den letzten 12 Monaten vor der Befragung aktiv in einer politischen Partei tätig gewesen zu sein) als glaubwürdiger betrachtet werden kann.

„Die hohe Organisationsdichte politischer Parteien unter der deutschsprachigen Bevölkerung hängt sicher mit der Rolle der SVP als ethnischer Sammelpartei zusammen, die vor allem im Kampf um die Minderheitenrechte erstarkt ist. Die berufsspezifischen Unterschiede deuten aber darauf hin, dass sich daneben auch die Vertretung ständischer Interessen durch diese Partei, insbesondere des Bauernstandes, auswirkt“. (ASTAT 1987, 128)

Betrachtet man die Entwicklung des Engagements in Parteien für den gesamten Zeitraum 1986–2010 wird das Bild ziemlich deutlich. Hatten 1986 noch 4,9 Prozent der Bevölkerung angegeben, aktiv in einer Partei mitzuarbeiten, waren dies 2010 nur mehr 1,5 Prozent gewesen (vgl. Tabelle 2 oben). Waren 1986 noch 18,9 Prozent der Bevölkerung ab 15 Jahren Mitglied in einer Partei, verzeichnete das ASTAT für 2011 nur mehr 8,7 Prozent Parteimitglieder (ASTAT 2011c, 231). Auch die Gewerkschaftsmitgliedschaft – in Südtirol ohnehin nie besonders hoch – hat nachgelassen: Von 18,6 Prozent (1986) sank sie auf 16,4 Prozent (2011). Die aktive Mitarbeit bei einer Freiwilligenorganisation ist dagegen seit 2007 deutlich angestiegen (von 14,4 auf 20,6 Prozent). Auch die Mitwirkung bei Kultur- und Freizeitvereinen hält sich stabil bei rund 29 Prozent der Bevölkerung (ASTAT 2011c, 231).

1986 haben 12,4 Prozent der BürgerInnen Erfahrungen in der aktiven Mitarbeit in einer Bürgerinitiative angegeben, während die entsprechende Angabe im ASTAT-Survey 2006 fehlt. Sieht man sich das entsprechende Bild 20 Jahre später an, ist immerhin die Teilnahme an Demonstrationen, Unterschriftenaktionen, an der Kontaktaufnahme mit Politikern und sogar die Mitarbeit bei politischen Parteien gestiegen. 2006 sagen 83 Prozent, sie könnten sich die Mitarbeit bei einer Bürgerinitiative vorstellen, 74 Prozent die Unterstützung eines Volksbegehrens. Die Mitgliedschaft in Parteien lehnten dagegen schon 1986 prinzipiell 70 Prozent der Bevölkerung ab. Theoretische Bereitschaft und praktische Schritte klaffen allerdings weit auseinander, denn in den Jahren seit dem ersten Sozialen Survey 1986 gab es kaum Volksbegehren und auch die Zahl der Bürgerinitiativen war weit geringer als die allgemeine Beteiligungsbereitschaft vermuten ließe. Der Autor Norbert Dall’Ò kommt zum Schluss, „dass sich vor allem gesellschaftlich privilegierte Gruppen am politischen Leben beteiligen“ (ASTAT 1987, 127).

Der Anteil der Gewerkschaftsmitglieder und Parteimitglieder in der Bevölkerung und damit der Stellenwert der traditionellen Großorganisationen für die politische Beteiligung sinkt somit langsam, aber stetig. Andererseits haben „neben den klassischen Beteiligungsformen in einer repräsentativen Demokratie in den letzten Jahrzehnten auch neue Formen wie Bürgerinitiativen, Protestkundgebungen oder Aktionen gewaltfreien Widerstands zunehmend an Bedeutung gewonnen, die mehr von außen auf das politisch-administrative System Einfluss zu nehmen versuchen“ (Dall’Ò, ASTAT 1987, 123). „Von den Bürgern werden direktdemokratische Formen der Teilnahme am politischen Leben (Bürgerinitiativen, Volksbegehren) mehr geschätzt als die Mitarbeit in Parteien oder die Kontaktaufnahme mit Politikern“, befand 1987 Norbert Dall’Ò (ASTAT 1987, 135). Dies darf den Verantwortlichen der Bürgerinitiativen und Umweltschutzvereinen nicht allzu sehr die Brust schwellen lassen, denn 2006 wirken nur 2,6 Prozent der Bevölkerung aktiv und vier Prozent passiv in einem solchen Verein mit. 1986–2006 kam ein einziges Volksbegehren an den Landtag zustande, nämlich für die Einführung eines Landesgesetzes zur direkten Demokratie. Auch im Zeitraum 2006–2011 wurde das Landesgesetz Nr. 11/2005 über Volksabstimmungen ein einziges Mal von zwei Bürgerinitiativen genutzt, nämlich für fünf Gesetzesvorlagen, über die in Südtirol am 25.10.2009 bei der ersten landesweiten Volksabstimmung abgestimmt wurde. Drei dieser Volksbegehren waren von einer Partei vorgelegt worden (Union für Südtirol), nur zwei von freien Vereinen (Initiative für mehr Demokratie, Dachverband für Natur-und Umweltschutz).

5. Tendenzen im bürgerschaftlichen Engagement

Bei der Freiwilligenarbeit im Bereich Politik und bürgerschaftliches Engagement lassen sich auch in Südtirol Entwicklungen beobachten, die außerhalb des Landes seit Längerem deutlich hervortreten. Pluralisierung, Projekt- und Gemeinwesenorientierung, Virtualisierung und Globalisierung können als Stichworte diese Entwicklung nur zum Teil markieren.

a) Pluralisierung betrifft sowohl die Auffächerung der Vereine und Organisationen nach Tätigkeiten und Zielen, aber auch die Motive der freiwilligen Mitarbeiter:

„Individuen sind heute stärker für die aktive Konstruktion ihrer Lebensläufe zuständig, wodurch berufliche ,Verwertbarkeit von ehrenamtlichen Aktivitäten und Ausgleich zum beruflichen Feld an Bedeutung gewinnen. Insbesondere beim Einstieg in das Berufsleben können junge Erwachsene Wert darauf legen, dass sich das freiwillige Engagement in ihren persönlichen Lebenslauf einfügt. Die Entscheidung, sich ehrenamtlich zu engagieren, wird insgesamt bewusster getroffen. Freiwillige wählen ihre Betätigungsbereiche kritischer aus und informieren sich im Vorfeld über die Möglichkeiten und Ziele in verschiedenen Einrichtungen. Die Entscheidung fällt in der Folge interessengeleitet und weniger sozial vorbestimmt. Daher steigt auch die Bedeutung der Freiwilligenzentren, die als Vermittlungsinstanzen zwischen Organisationen und Freiwilligen agieren sowie entsprechende Beratung und Öffentlichkeitsarbeit leisten. Für die Organisationen wird die Außendarstellung immer wichtiger, um bei potenziellen Freiwilligen zu punkten“. (Bundesministerium für Arbeit, Soziales und Konsumentenschutz 2010, 178)

Im Unterschied zu früher, als man in der Regel jahrzehntelang Mitglied derselben Partei oder Gewerkschaft zu sein pflegte, hat diese Pluralisierung der Motive zu einer kürzeren Bindungsdauer bei den Freiwilligenorganisationen geführt. Zusammengehörigkeit wird dabei immer mehr von situativ oder institutionell Betroffenen hergestellt. Vorübergehend geteilte Anliegen – z. B. während des Studiums oder der ersten Zeit der Elternschaft – sind Grundlage für Engagement und aktive Beteiligung.

b) Motive und Einstellungen der Freiwilligen im Bereich Politik haben sich in den letzten Jahrzehnten zum zeitlich und sachlich begrenzten Engagement für oder gegen ein Projekt hin verändert. Dieser Trend zur Projektbezogenheit, also bürgerschaftliches Engagement für oder gegen ein konkretes, überschaubares Projekt, lässt sich aus der zunehmenden Zahl von Beteiligten bei Freiwilligenorganisationen gegenüber der abnehmenden Zahl an Partei- und Gewerkschaftsmitgliedern herauslesen (ASTAT 2011a, 6). Man tut sich immer schwerer, sich einer ideologiebestimmten Groß-Formation anzuschließen, findet eher zu überschaubaren Vereinen und Gruppen, die ein konkretes Projekt im unmittelbaren Lebensumfeld verwirklichen oder ein als bedrohlich empfundenes Projekt verhindern wollen. Bürgerschaftliches Engagement im Bereich Politik drückt sich somit aus in konkreter projektbezogener Mitarbeit bei Bürgerinitiativen, in Gruppen, die Bürgerrechte umsetzen wollen und im Ansatz des empowerment: Sozial schwächere oder subalterne Gruppen sollen in die Lage versetzt werden, ihre Interessen zu vertreten und an Politik und Gesellschaft gleichberechtigt teilzuhaben.

c) Wachsende Virtualisierung: Abgesehen von der allgemein immer stärkeren und unverzichtbaren Nutzung elektronischer Kommunikation in jeglicher denkbaren Zweckverwendung, hat das Internet für die Freiwilligenarbeit viele neue Handlungsfelder erschlossen. Die Blogs, die Online-Plattformen, die Netzwerkbildung und Webseiten-Präsentation sind sehr arbeitsintensiv. Die politische Kommunikation sowohl im internen wie auch im öffentlichen Bereich hat sich stark ins Netz verlagert. Das bedeutet, dass ehrenamtliche, freiwillige Tätigkeit im Bereich Politik viel besser auf virtueller Basis und ohne gemeinschaftliches Tun vor Ort auskommt als etwa Kultur, Sport und Soziales. Die Vernetzung insgesamt ist fürs freiwillige Engagement sehr nützlich. Elektronische Börsen werden ins Leben gerufen und gewartet, Agenturen des freiwilligen Engagements und Freiwilligenorganisationen insgesamt sind mit ihren Angeboten im Internet präsent und ergänzen damit die persönliche Ebene vor Ort:

„Beteiligung wird ebenfalls im Internet praktiziert. Tätigkeiten, die sich im und über das Internet bewerkstelligen lassen, sind etwa die Herstellung und Wartung von Wissensplattformen, Diskussionsforen oder elektronischen Kampagnen. Das Internet als lebendiges Netz enthält lokale und transnationale Inhalte, die vielfach im freiwilligen Engagement betreut werden. Demokratiepolitisches Potenzial haben insbesondere elektronische Befragungen und Abstimmungen. Damit öffnet sich eine neue virtuelle Lokalität und es entstehen Communities, die sich mit dem gemeinwesenverhafteten Ehrenamt verbinden, das an örtliche Gegebenheiten und Sozialkontakte geknüpft ist.“ (Bundesministerium für Arbeit, Soziales und Konsumentenschutz 2010, 181–182)

d) Globalisierung. Dieses Stichwort hat in der Freiwilligenarbeit eine zweifache Bedeutung: Zum einen werden zunehmend außerhalb des Lebensumfelds (außerhalb Südtirols und Europas) Einsatzmöglichkeiten in Freiwilligentätigkeiten angeboten und genutzt, wie z. B. in der humanitären Entwicklungszusammenarbeit. Zum anderen wird das Engagement im Bereich Politik aus einer globalen Perspektive heraus aufgebaut und verstanden:

„Globalisierung lässt freiwilliges Engagement grenzenlos werden, macht aber auch die begrenzten Ressourcen und kollektiven Irrtümer sichtbar, gegen die freiwilliges Engagement antritt. Internationale NROs vertreten Anliegen, die globalen Problemen z. B. bei Menschenrechten und Umweltschutz entsprechen.“ (Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugendliche 2010, 17)

6. Bürgerschaftliches Engagement in Südtirol nur geringgeschätzt?

Für die Zukunft wird deshalb zu erwarten sein, dass das traditionelle Ehrenamt in Partei, Gewerkschaft und sozialer Großorganisation zwar weiterhin Bedeutung haben wird, sich aber auch neue Formen bürgerschaftlichen Engagements einbürgern werden, nicht zuletzt auch als Ausdruck einer selbstbewussten Zivilgesellschaft. Wenn Werte wie Selbstverwirklichung und Selbstentfaltung eine zunehmend größere Rolle spielen, heißt dies nicht, dass Solidarität und Gemeinwohlorientierung verschwinden werden. Menschen wollen durchaus anderen helfen, aber sie möchten dabei auch Spaß haben, Freundschaft und Geselligkeit pflegen. Wichtig ist ihnen auch, sinnvolle Aufgaben zu erfüllen, die sie selbst mitgestalten können und die ihnen Gewinn an Kompetenzen und sozialen Beziehungen bringen.

Eine moderne Gesellschaft kann ihre Mitglieder – außer zur Einhaltung der Gesetze – zu nichts verpflichten; sie muss ihre Privatsphäre respektieren, während moralisch begründete Postulate für mehr persönlichen Einsatz für das Gemeinwohl der großen Glaubensgemeinschaften vor allem bei jüngeren Generationen an motivierender Kraft verloren haben. So wird politisches Engagement immer mehr persönlich entwickelter Ausdruck der Mitverantwortung fürs Ganze, aber auch Ausdruck der persönlichen Suche nach sinnstiftender Tätigkeit für die Gesellschaft und des Bedürfnisses nach Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft.

In diesem Sinne ist Bürgerschaftlichkeit als lokale Mit-Bürgerschaft zu sehen. Sie ermöglicht in einer Gesellschaft mit geringerer räumlicher Zusammengehörigkeit, Zugehörigkeit und Nähe herzustellen und Solidarität im Sinne geteilter Werte zu erleben. Bürgerschaftlich heißt dann: Man begegnet sich nicht nur als Nachbarn, Kollegen oder Mitglieder situativer beruflicher (z. B. Berufsverband) oder privater (z. B. Elterngruppe einer Kindertagesstätte) Gemeinschaften, sondern als mitverantwortliche Bürger eines Gemeinwesens. Diesen Gemeinsinn als motivierende Kraft für aktives Engagement für öffentliche Interessen hatten wohl die Verfassungsgesetzgeber vor Augen, als der Art. 118 der italienischen Verfassung verabschiedet wurde, dessen Absatz 4 lautet: „Staat, Regionen, Großstadtgebiete, Provinzen und Gemeinden fördern die eigenverantwortliche Initiative der Bürger, ob einzeln oder als Gruppe, zur Durchführung von Tätigkeiten im allgemeinen Interesse gemäß dem Prinzip der Subsidiarität.“

Auch in Südtirol gilt es – neben den Bereichen Sport und Freizeit, Gesundheit und Soziales, Bildung und Kultur, Landschafts- und Umweltschutz – das ehrenamtliche Engagement in der Politik gleichrangig zu würdigen, nämlich als Form der Selbstorganisation, Interessenbündelung und Teilhabe an der Gestaltung des Gemeinwesens. Auch dies kann der Politikmüdigkeit entgegenwirken, die selbst der Landeshauptmann in seiner Haushaltsrede im Dezember 2011 beklagt hat.

Politische Partizipation als eine Beteiligungsform ist ein grundlegender Pfeiler in der Wahrung und Nutzung von Demokratie, indem sich BürgerInnen aktiv mit politischen Themen auseinandersetzen oder diese mitentscheiden. In Ländern mit langjähriger demokratischer Tradition besteht ein höheres Partizipationsniveau. Somit steht bürgerschaftliches Engagement auch in direktem Zusammenhang mit Formen der direkten Demokratie. Je mehr die Bürger an direkten Einfluss- und Entscheidungsmöglichkeiten haben, desto aktiver bringen sie sich ein. Doch „bedarf die deliberative Demokratie“, so Stefano Zamagni in seinem sehr akademischen Kurzbeitrag im Bericht zum Ehrenamt in Südtirol 2011, „der Verbreitung von Teilnahmepraktiken unter den BürgerInnen. Der unermessliche Wert der ehrenamtlichen Organisationen liegt deshalb darin, zum Gebrauch der Demokratie zu erziehen und damit zur Verbreitung von echten deliberativen Erfahrungen beizutragen.“ Würde dieser Wert in Südtirol tatsächlich erkannt und geschätzt, wäre dem bürgerschaftlichen Engagement in der Politik auch seitens der Institutionen entsprechende Anerkennung und Förderung einzuräumen.

Anmerkungen

1 Adalbert Evers und Thomas Olk begreifen das bürgerschaftliche Engagement in einem weiter gefassten Kontext als eine soziale Institution, deren Ausdrucksformen und Verbreitung von landesspezifischen kulturellen, ökonomischen und politischen Rahmenbedingungen geprägt ist. „In diesem Sinne wird bürgerschaftliches Engagement dadurch beeinflusst, wie Verantwortlichkeiten zwischen Staat, Wirtschaft und Gesellschaft verteilt werden und welche normativen Erwartungen sich in der politischen und sozialen Kultur an die aktive Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger herausgebildet haben. Es geht dabei um die gesamte Kultur des Engagements in seinen vielfältigen Ausdrucks- und Organisationsformen – nicht ausschließlich um das herkömmliche Ehrenamt im Sinne der Übernahme langfristiger, verbindlich geregelter Aufgaben in einem festen organisatorischen Rahmen, sondern um das gesamte Spannungsfeld von (a) politisch-sozialer Beteiligung, (b) materieller Hilfe und Selbstorganisation sowie (c) geselliger Alltagsgestaltung mit sozial-integrativen Nebeneffekten.“ (Evers/Olk, 2002, 6)

2 Auch Demonstrationen erfreuen sich in Südtirol keiner großen Beliebtheit. Insgesamt haben in den zwölf Monaten vor der Erhebung 2,9 Prozent der Bevölkerung an einer Demonstration teilgenommen. Am größten ist die Demonstrationsbereitschaft bei SchülerInnen und StudentInnen (13,5 Prozent). Die Teilnahme an politischen Debatten steigt mit zunehmendem Studientitel. Rund ein Viertel der SchülerInnen oder StudentInnen nimmt daran teil (24,4 Prozent). Insgesamt sind es 23,1 Prozent der Südtiroler Bevölkerung (ASTAT 2011a, 9). Amtierende PolitikerInnen würden hier dagegenhalten, dass ihre Arbeit zur Zufriedenheit der Menschen führt und in Südtirol kaum ein Grund fürs Demonstrieren gegeben ist.

Literaturverzeichnis

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Abstracts

Il volontariato e l’impegno civico ­nella partecipazione diretta alla ­politica ­meritano più attenzione e ­riconoscimento

Il Sudtirolo vanta un’articolata cultura di volontariato civile, basata su quasi 2.000 associazioni di volontariato, la cui attività spazia dal settore sociale, dell’educazione, della tutela dell’ambiente a quello sportivo e culturale. Associazioni di volontariato che esprimono il bisogno di partecipazione politica in un senso più ampio non figurano invece nei registri provinciali e statali ufficiali. Negli ultimi decenni anche in Sudtirolo si sono sviluppate diverse forme di impegno e di partecipazione politica. Si tratta di iniziative civiche, gruppi di azione, comitati, associazioni a carattere politico – un segmento variopinto di impegno civico e volontario che viene quasi ignorato dal “Rapporto sul volontariato 2011” della Provincia autonoma di Bolzano. A torto, conclude questo saggio, trattandosi dell’espressione concreta della voglia di partecipazione diretta dei cittadini alla politica. L’articolo illustra aspetti essenziali dell’impegno civico per interessi generali. Si ricostruisce l’andamento nell’impegno politico in Sudtirolo fra il 1986 e il 2006 sia nelle forme tradizionali sia in quelle di iniziative libere, e si accenna ad alcune nuove tendenze con cui i volontari “politici” sono confrontati nelle loro attività.

Le volontariat y l’impëgn zivich tla partezipaziun direta ala politica se mirita plü atenziun y reconescimënt

Südtirol à na cultura valgamia svilupada por ći che reverda le volontariat zivil, cun incër 2.000 assoziaziuns y uniuns zënza fins de davagn. Sües ativitês va dal setur sozial a chël dl’educaziun y dla sconanza dl ambiënt y a chël sportif y cultural. Assoziaziuns de volontariat che se dà jö diretamënter cun chestiuns politiches de vigni sort, ne vëgn nia tutes sö ti registri provinziai y statai ofiziai. Ti ultims dezenns s’àl inće svilupé te Südtirol de plü manires nöies de fà ativité politica. Al vëgn metü a jì scomenciadies ziviches, metü sö grups d’aziun, comitês, assoziaziuns cun fins politics tlers, mo la majera pert de chëstes ne vëgn gnanca nominades tla „Relaziun sön le volontariat 2011“ dla Provinzia Autonoma de Balsan. Tl articul vëgnel splighé che chësc n’é nia legitim, dal momënt che chëstes assoziaziuns y iniziatives é espresciun concreta dl interès di zitadins de tó pert diretamënter ala politica, a pêr ala rapresentanza politica ti governs de livì desvalis. L’articul spliga le svilup de chësta sort de engajamënt politich di zitadins de Südtirol y alza fora n valgönes tendënzes nöies, cun chëres che i volontars „politics“ vëgn confrontà.

Volunteering in Politics and Civil ­Engagement Undervalued in South Tyrol

South Tyrol has a highly developed tradition of volunteering, the result of its almost 2,000 associations and non-profit organisations. The wide array of activities of these groups range from social assistance to protection of the environment and from education to sports and culture. Voluntary associations working on all different kinds of political issues, however, are not allowed to list themselves as non-profit organisations in the official register of the province. During the last decades, various new forms of political activity have indeed gained ground: there are civic initiatives, action groups, single-issue committees, and associations with goals that are clearly political. Most of these, however, do not appear in the Autonomous Province of Bozen’s 2011 official report on volunteering. This article argues that this is a misguided since such groups and initiatives evince an interest in direct political participation on the part of the citizens. The article also outlines key aspects of civic involvement for general public interest. In addition, it reconstructs trends in political involvement in South Tyrol between 1986 and 2006, both in traditional form and free initiatives, and mentions some new tendencies with which political volunteers are currently faced.